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Jahresbericht 2003

Vorwort

Das Themenfeld "Biomedizin, Bioethik und Behinderung" ist in mehrfacher Hinsicht von großer gesellschaftspolitischer Relevanz. In der ethischen Diskussion wird oft wenig Verständnis für die Sichtweise behinderter Menschen aufgebracht, vor allem weil die Perspektive von gesunden bzw. nicht behinderten Menschen dominiert. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Problematik des Themenfelds nur dann vollständig erfasst wird, wenn die Perspektive betroffener Menschen einbezogen wird. Das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft wurde gegründet, um diese Lücke zu schließen.

Im zweiten Jahr des Bestehens wurden die Tätigkeiten des Institutes in allen Bereichen ausgebaut:

  • Durch eigene wissenschaftliche Arbeit
  • Durch die Vergabe und Veröffentlichung von Gutachten
  • Durch die Friedrichshainer Kolloquien
  • Durch die Friedrichshainer Gespräche
  • Durch mehrere Kooperationsveranstaltungen
  • Durch die beratende Tätigkeit gegenüber den Verbänden und der Politik
  • Durch die Öffnung der Präsenzbibliothek für Außenstehende

Mit dem Internetauftritt und den zahlreichen Veröffentlichungen (IMEW konkret, Jahresbericht, Sammelbände, Gutachten, wissenschaftliche Aufsätze und Artikel von Frau Dr. Grüber und Frau Dr. Graumann) sowie den Vorträgen ist das Institut im gesamten Bundesgebiet präsent.

Wir hoffen, dass Sie mit dem folgenden Bericht einen Einblick in die zahlreichen Aktivitäten des IMEW im Jahre 2003 erhalten, der Sie anregt, sich auch in Zukunft für unsere Arbeit zu interessieren. Die positiven Reaktionen und das intensive Interesse von Seiten der Gesellschafterverbände, von verschiedenen Initiativen, aus der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und der Politik zeugen von der besonderen Bedeutung des Institutes innerhalb der akademischen Ethik-Landschaft.

Ohne die großzügige Unterstützung der Aktion Mensch wäre die Tätigkeit des Institutes nicht möglich. Ihr sei herzlich dafür gedankt.

Katrin Grüber

im März 2004

1. Wissenschaftliche Arbeit

Die Kernthemen der Arbeit des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft sind ethische Fragen des wissenschaftlich-medizinischen Fortschritts. Hierzu gehören die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen dieses Fortschritts ebenso wie seine rechtliche Regulierung. Die Perspektive von behinderten und chronisch kranken Menschen spielt dabei stets eine zentrale Rolle. Dies wird einerseits gewährleistet, indem Betroffene selbst zu Wort kommen. Andererseits soll die Perspektive von Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit über Erkenntnisse aus den Sozial- und Kulturwissenschaften - z. B. zum Verständnis von und Umgang mit Leben und Tod, Krankheit, Gesundheit und Behinderung - vermittelt werden. Auf diese Weise gelangt das Institut zur methodischen Konzeption einer perspektivischen, erweitert-interdisziplinären und anwendungsorientierten Ethik.

Forschungsprojekte

Frau Dr. Grüber und Frau Dr. Graumann nahmen an einem Projekt des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages über die rechtliche Regelung und Praxis der Präimplantationsdiagnostik in Europa und den USA teil. Die zentrale Fragestellung der Studie war, ob und wie sich die Anwendung der PID auf einen eng definierten Nutzerkreis eingrenzen lässt (z. B. auf Paare mit einem nachgewiesenen hohen Risiko, ein Kind mit einer schweren genetisch bedingte Erkrankung oder Behinderung zur Welt zu bringen) oder ob eine Indikationsausweitung auf Dauer nicht verhindert werden kann. Frau Dr. Grüber führte die Untersuchung für Belgien und Frau Dr. Graumann für Italien durch. Dazu führten beide Experteninterviews und werteten Gesetzestexte, Parlamentsdebatten, Stellungnahmen verschiedener Organisationen und Statistiken aus.

Vergabe von Gutachten

Die wissenschaftliche Arbeit des Institutes wird durch die Vergabe von Gutachten an andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisch erweitert. Im Jahr 2003 wurden folgende Arbeiten abgeschlossen und veröffentlicht:

  • "Kind als Schaden" von Ulrike Riedel. Die Autorin, selbst Juristin, zeichnet hier die höchstrichterliche Rechtsprechung der vergangenen Jahre zur Arzthaftung bei unerwünschter Geburt eines gesunden, kranken oder behinderten Kindes nach.
  • Die Klassifikationen von Behinderung der WHO von Marianne Hirschberg. In diesem Gutachten werden die behinderungsspezifischen Klassifikationen der Weltgesundheitsbehörde, die ICIDH [ 1 ] (1980) und die ICF [ 2 ] (2001), vorgestellt. Das besondere Augenmerk dieser Arbeit liegt auf der Frage, inwiefern Vorstellungen gesellschaftlicher Partizipation von Menschen mit Behinderung in diese beiden Klassifikationen aufgenommen wurden
  • Biomedizin und Gesellschaft von Dr. Vera Kalitzkus. Untersucht werden zum einen die Besonderheiten der Biomedizin im Vergleich zu anderen Medizinsystemen, insbesondere ihre Prägung durch westliche und naturwissenschaftliche Vorstellungen. Zum anderen wird der soziohistorische Kontext der Biomedizin herausgearbeitet und somit ihr Anspruch auf Neutralität und Objektivität relativiert.

Lehrtätigkeit und Betreuung von Praktikantinnen und Praktikanten

Frau Dr. Graumann hat seit dem Wintersemester 2003/04 einen Lehrauftrag im Rahmen der Vermittlung von "Grundlagen des ärztlichen Denkens und Handelns" am Reformstudiengang Medizin an der Charité/Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Lehrschwerpunkte sind die Medizinethik und der Umgang mit Behinderung in der Medizin.

Frau Dr. Grüber und Frau Dr. Graumann betreuen regelmäßig Praktikantinnen und Praktikanten, die entweder in Praxissemestern erste wissenschaftliche Erfahrungen sammeln oder sich nach dem Studium auf eine Promotion vorbereiten.

Friedrichshainer Kolloquium

Das Friedrichshainer Kolloquium wurde auch im Jahr 2003 fortgesetzt. Es versteht sich als Angebot für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und andere Personen, die sich beruflich mit Fragen der gesellschaftlichen Folgen der biomedizinischen Forschung und Praxis beschäftigen. Durch das Kolloquium soll eine offene interdisziplinäre Diskussion angeregt werden. In der Regel referieren jeweils zwei geladene Gäste aus unterschiedlichen Disziplinen zu einem Thema. Im Anschluss werden die Vorträge gemeinsam ausführlich diskutiert. Bei der Wahl der Themen und Vortragenden liegt besonderes Gewicht darauf, die Sozial- und Kulturwissenschaften in Fragestellungen der Biomedizin einzubeziehen. Dies ist bisher nicht selbstverständlich und zeigt einmal mehr die besondere Aufgabe des Institutes.

4. Friedrichshainer Kolloquium
"Diskriminierung", 11. Februar 2003

Prof. Dr. Theresia Degener, Juristin und Dozentin an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, referierte in ihrem Vortrag über "Antidiskriminierungs- und Menschenrechte für Behinderte im ausländischen, europäischen und internationalen Recht". Prof. Dr. Birgit Rommelspacher, Psychologin und Dozentin an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin, sprach zum Thema "Behinderte als Fremde - Mechanismen der Ausgrenzung".

5. Friedrichshainer Kolloquium
"Lebensschutz und Biotechnologie", 13. Mai 2003

Mit seinem Vortrag "Verfassungsrecht und Lebensschutz" führte Dr. Stephan Rixen, Jurist und Dozent an der Universität zu Köln, in die anhaltende Diskussion um die Legitimität biotechnologischer Praktiken von der Präimplantationsdiagnostik bis hin zum therapeutischen Klonen ein. Diese Diskussion kennt ein Argument von besonderer Brisanz: Orientiert an Art. 2 GG wird der Lebensschutz für menschliche Embryonen in Anspruch genommen. Die ethische Maximalbestimmung, menschliche Embryonen ohne Einschränkung als in die Gesellschaft integrierte Rechtssubjekte aufzufassen, scheint aus verfassungsrechtlicher Sicht konsequent. In kulturanthropologischer Hinsicht aber erscheint die auf den Aspekt des Lebensschutzes abstellende Argumentation problematisch, wie der Kulturwissenschaftler Dr. Jörn Ahrens in seinem Beitrag "Wo bleibt der Mensch? Das Lebensschutzargument in der biotechnologischen Debatte" zu zeigen versuchte.

6. Friedrichshainer Kolloquium
"Ethik und Literatur", 17. Juni 2003

Der normativen, angewandten Ethik wird oft vorgeworfen, Perspektiven zu verengen, zu einfache Antworten anzubieten und der lebensweltlichen Komplexität vieler ethischer Fragen damit nicht gerecht zu werden. Dr. Hille Haker, Theologin und Germanistin an der Eberhard Karls Universität Tübingen, ging in ihrem Vortrag "Narrative Bio-Ethik - zu einem neuen (alten) Ansatz in der Bioethik" der Frage nach, welche Funktion das Erzählen in der und für die Ethik haben kann und inwiefern Literatur Erfahrungsdimensionen erschließen kann, die der wissenschaftlichen Sprache verschlossen bleiben. Sie stellte am Beispiel des Erfahrungsberichts von Caroline Stoller "Eine unvollkommene Schwangerschaft", der vom Entscheidungsprozess über Fortsetzung oder Abbruch einer Schwangerschaft nach Pränataldiagnostik handelt, das Konzept der narrativen Bioethik vor, das gegenwärtig verstärkt diskutiert wird.

7. Friedrichshainer Kolloquium
"Normierung und Normalisierung", 1. Juli 2003

Zuschreibungen von "behindert" bzw. "nicht-behindert" werden teilweise mittels starrer und festgelegter Normen getätigt, in zunehmendem Maße aber auch flexibel gestaltet. Normierung und Normalisierung scheinen einerseits Gegenpole zu sein, andererseits sind sie eng miteinander verknüpft. Ihr Verhältnis zueinander verändert sich seit einiger Zeit; damit verbunden ist auch eine Wandlung unserer Begriffe von "Behinderung". Prof. Dr. Anne Waldschmidt, Soziologin an der Universität zu Köln, zeigte mit ihrem Vortrag "Normierung und Normalisierung im behindertenpolitischen Diskurs", dass diese Veränderungen sowohl im behindertenpolitischen als auch im emanzipatorischen Diskurs beobachtet werden können. Marianne Hirschberg, Erziehungswissenschaftlerin von der Universität Hamburg arbeitete in ihrem Beitrag "Normierende und normalisierende Elemente in den WHO-Klassifikationen von Behinderung" am Beispiel der neuen WHO-Behinderungsklassifikation heraus, dass sich die Veränderungen mittlerweile auch in hegemonialen Diskursen aufzeigen lassen.

8. Friedrichshainer Kolloquium
"Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Folgen der aktuellen Reformen für chronisch kranke und behinderte Menschen", 4. November 2003

Die Auswirkungen der aktuellen Reformen im Bereich des Gesundheitswesens auf Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderung waren das Thema des 8. Friedrichshainer Kolloquiums. Dr. Jeanne Nicklas-Faust sprach als Ärztin und Mitglied der Berliner Ärztekammer sowie der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Einen philosophisch-ethischen Ansatz stellte Dr. Micha Werner, Philosoph von der Universität Freiburg, mit seinem Vortrag "Ethische Grundlagen für ein gerechtes Gesundheitswesen" vor. Dr. Julika Mayer, Gesundheitswissenschaftlerin von der Universität Bayreuth ging der Frage nach, wie ein gerechtes Gesundheitswesen aussehen könnte.

9. Friedrichshainer Kolloquium "Disability and Bioethics in the US and in Germany", 4. Dezember 2003
Eine Kritik an der Bioethik als akademische Disziplin, die auch die Sicht von Menschen mit Behinderung einbezieht, existiert sowohl in Deutschland als auch in den USA. Einen Einblick in die deutsche Debatte gab Prof. Dr. Markus Dederich, Soziologe und Philosoph an der Universität Dortmund, mit seinem Beitrag "Human dignity and disability in the German debate". Im Unterschied zu Deutschland gibt es in den USA auch Bioethikerinnen und Bioethiker mit Behinderungen, die eine wesentliche Rolle innerhalb dieser Debatte spielen. Mit Prof. Dr. Adrienne Asch, die am Wellesley College in den USA zu Biology, Ethics and Politics of Reproduction forscht, sprach eine sehr prominente Vertreterin der amerikanischen Bioethik-Debatte aus dieser Perspektive über "The disability rights critique of Bioethics".

2. Dokumentation und Bibliothek

Die wissenschaftliche Dokumentationsstelle sammelt und erschließt Literatur und Materialien zu medizinischen, sozialen, rechtlichen und ethischen Fragen, wobei die Perspektive behinderter und chronisch kranker Menschen im Zentrum steht.

Die Dokumentationsstelle verfolgt einen interdisziplinären Ansatz und richtet ihr Angebot sowohl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als auch an Studierende und die interessierte Öffentlichkeit.

Einen wichtigen Schwerpunkt der Arbeit stellt auch die laufende Aktualisierung und Erweiterung des Internetauftritts dar, wobei der barrierefreien Zugänglichkeit eine sehr große Bedeutung zukommt.

Bestand

Der Aufbau der Sammlung an deutsch- und englischsprachigen Büchern, Zeitschriften, Aufsätzen, informeller ("grauer") Literatur sowie audiovisuellen Medien wurde 2003 fortgesetzt. Der Bestand umfasst inzwischen 2000 Dokumente.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf der systematischen Sammlung und Erschließung von Stellungnahmen, Leitlinien und Richtlinien zu medizinischen und ethischen Fragen. Diese werden von einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Organisationen und Gruppen veröffentlicht und spielen eine wichtige Rolle im öffentlichen Diskurs.

Für die Erschließung des Bestands wird eine Literaturdatenbank aufgebaut. Die technische Realisation erfolgt mit der Datenbanksoftware FAUST 5.0.

Der gesamte Bestand ist inzwischen bibliografisch erfasst. Für die inhaltliche Erschließung ist die Nutzung des internationalen Thesaurus Ethik in den "Biowissenschaften" geplant.

Nutzungsmöglichkeiten

Die Bibliothek kann als Präsenzbibliothek auch von Besucherinnen und Besuchern genutzt werden, hierzu gibt es Informationen im Internet [3]. Recherchen in der IMEW Datenbank sind vor Ort über das Intranet möglich.

Kooperation

Die Vernetzung mit anderen Dokumentationseinrichtungen wurde fortgeführt. Neben der Teilnahme an der regionalen Arbeitsgruppe Berlin/Brandenburg der One-Person-Libraries ist der Informationsaustausch mit den nationalen Dokumentationsstellen im Bereich Biomedizin und Bioethik besonders hervorzuheben.

3. Beratende Tätigkeit

Eine weitere wichtige Aufgabe des Institutes ist die Beratung von Personen und Institutionen in Bezug auf aktuelle Fragen der biomedizinischen Forschung und Praxis. Dies geschieht durch die Aufbereitung und Auswertung von Materialien oder durch persönliche Gespräche und Kontakte. So gab es bisher zahlreiche Anfragen der Gesellschafterverbände, von Journalisten und Politikern, die an der Beratung durch das Institut interessiert waren.

Seit Mai 2003 ist Frau Dr. Graumann in ihrer Eigenschaft als Sachverständige wieder Mitglied in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Ethik und Recht der modernen Medizin". Frau Dr. Katrin Grüber ist weiterhin in der Ethikkommission des DBfK (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe) tätig.

Zur beratenden Tätigkeit gehört auch die Aufbereitung von Informationen. Um die Fülle der Empfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" für die breitere Öffentlichkeit nutzbar zu machen, wurde eine Zusammenfassung erarbeitet und als Handreichung veröffentlicht.

4. Öffentlichkeitsarbeit

Dem IMEW kommt eine wichtige Funktion beim Transfer zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zu. Dabei geht es vor allem darum, der Perspektive von Menschen mit Behinderung mehr Gewicht zu verleihen. Diese Aufgabe erfüllte das Institut durch seinen Internetauftritt, durch Veranstaltungen und durch Publikationen für die interessierte Öffentlichkeit.

Gemeinsame Veranstaltung mit der Akademie für Ethik in der Medizin

Das Institut hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema Behinderung im wissenschaftlichen Diskurs zu verankern. Als einschlägiger bundesdeutscher Fachverband bot sich die Akademie Ethik in der Medizin (AEM) als Kooperationspartner hierfür an.

Vom 14. bis 16. April fand der Workshop "Behinderung und medizinischer Fortschritt" in Kooperation mit der Akademie für Ethik in der Medizin und der Evangelischen Akademie Bad Boll statt. Der Workshop wurde in Form einer Broschüre der AEM dokumentiert und es wurde eine Arbeitsgruppe "Medizin(ethik) und Behinderung" der Akademie für Ethik in der Medizin gegründet, an der sich auch Wissenschaftler beteiligen können, die nicht Mitglied der Akademie sind.

Der große Zuspruch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf diesen Versuch, Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinethikerinnen und Medizinethiker mit "Betroffenen" in eine konstruktive Diskussion zu bringen und das Thema "Behinderung" in der Medizinethik stärker zu verankern, wird durch folgendes Zitat aus der Zeitschrift Ethik in der Medizin (Band 15 mit dem Schwerpunkt Ethik und Behinderung) deutlich. Dort heißt es im Editorial:

"Die Schnittstellen zwischen den Themen "Behinderung" und "Medizinethik" sind zahlreich. Die Diagnose von und der Umgang mit Behinderungen stellen ein wichtiges Arbeitsfeld der Medizin dar. Man könnte entsprechend erwarten, dass "Behinderung" ein prominentes Thema der Medizinethik wäre. Tatsächlich taucht es aber recht selten im Kanon medizinethischer Themen, häufig im Zusammenhang mit genetischer Diagnostik auf. Dabei fällt auf, dass die Medizinethik sich vorwiegend als Disziplin entwickelt, die sich als Begleitreflexion der Medizin begreift und entsprechend ihre Gesprächspartner in erster Linie unter den Medizinern sucht. Zwischen Menschen mit Behinderungen selbst und der Medizinethik ist das Gespräch hingegen nicht eben etabliert." (Ethik Med 2003; Band 15; S. 149)

Ökumenischer Kirchentag

Das Institut war in Vorbereitungsgruppen für Veranstaltungen des Ökumenischen Kirchentags, der vom 25. Mai bis 1. Juni in Berlin stattfand, vertreten. Frau Dr. Graumann bereitete das Forum Bio- und Medizinethik mit vor, das sie auch moderierte. Frau Dr. Grüber war Mitglied der Programmkommission der Veranstaltungsreihe "In Würde…", zu der auch die Veranstaltung "In Würde mit Behinderung und chronischer Krankheit leben" zählte, in die sie einführte.

Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltete gemeinsam mit dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft vom 12. bis 15. Oktober in Berlin eine internationale Arbeitstagung zum Thema: "Die Grenzen der menschlichen Natur überschreiten - Globale Bioethik und kulturelle Differenz".

Hauptzielgruppe für die internationale Arbeitstagung waren 90 Vertreterinnen und Vertreter von Nichtregierungs-Organisationen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 40 Ländern, die zum oben genannten Thema arbeiten. Im Institut wurde eine Liste einzuladender Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie ein Tagungsprogramm erarbeitet; zusammen mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Heinrich-Böll-Stiftung wurde die Tagung vorbereitet und durchgeführt. Auf Anregung des IMEW wurde besonderer Wert darauf gelegt, Vertreterinnen und Vertreter der Behindertenbewegung einzubinden. Ein wichtiges Ziel war, Nichtregierungs-Organisationen und interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu den Themen arbeiten, weltweit zu vernetzen. Auch für das Institut entstanden dadurch wichtige internationale Kontakte. Zudem gelang es auch hier, die Perspektive von Menschen mit Behinderung in einen Diskurs zu transportieren, in dem dieses Thema bisher ausgespart wurde.

Tagung "Differenz anerkennen. Ethik und Behinderung - ein Perspektivenwechsel"

Am 5. und 6. Dezember 2003 fand in Berlin die Tagung "Differenz anerkennen. Ethik und Behinderung - ein Perspektivenwechsel" statt. Es war die letzte der sechs großen Schwerpunktveranstaltungen anlässlich des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen (EJMB) und sie wurde vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. und der Katholischen Akademie in Berlin e.V. mit finanzieller Förderung der EU und des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung ausgerichtet und organisiert. Insgesamt gab es ca. 220 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ca. weitere 150 Interessierte mussten abgewiesen werden.

Bundespräsident Johannes Rau, Schirmherr des EJMB, verwies in seiner Eröffnungsrede zum einen auf die Fortschritte, die die Gesellschaft dabei gemacht habe, Menschen mit Behinderung nicht auszugrenzen sondern einzubeziehen. Zudem bezog er erneut gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) Stellung: Nichts rechtfertige eine Praxis, die das Tor weit öffne für biologische Selektion und damit für eine Zeugung auf Probe. Die zentrale Fragestellung der Tagung, das Verhältnis von Ethik und Behinderung münde letztendlich, so Rau abschließend, in der Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

Im Verlauf der Tagung griffen die Vorträge, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen die für das EJMB zentralen Forderungen nach uneingeschränkter Teilhabe sowie völliger Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen immer wieder auf. Beiträge aus der Philosophie, den Literatur-, Sozial und Rechtswissenschaften, aber auch aus der Humangenetik boten dabei einen breiten, interdisziplinären Zugang zum Thema Ethik und Behinderung und unterstrichen die Notwendigkeit, Menschen mit Behinderung an der ethischen Urteilsbildung zu beteiligen. Die Tagung war dadurch geprägt, dass Menschen mit und ohne Behinderung sowohl aus der Wissenschaft als auch der Gesellschaft kamen. Es ist sicherlich gelungen, diese unterschiedlichen Gruppen miteinander in Kontakt zu bringen, sie zum gemeinsamen Nachdenken anzuregen und für die Sichtweisen des jeweils anderen zu sensibilisieren. Es hat sich aber auch gezeigt, dass ein großer Nachholbedarf besteht.

Stellvertretend für die zahlreichen Plenarvorträge und die Referate in den Workshops seien die beiden Vorträge der amerikanischen Referentinnen kurz skizziert. Adrienne Asch, Professorin für Biologie, Ethik und Politik der Reproduktionsmedizin, arbeitete sehr deutlich die diskriminierenden Tendenzen von Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik heraus. Sie forderte in diesem Zusammenhang anzuerkennen, dass einerseits jeder - behindert oder nicht - zum Gelingen der freundschaftlichen, familiären und gesellschaftlichen Strukturen beiträgt und dass andererseits ein jeder in bestimmten Lebenszusammenhängen auf die Unterstützung anderer zurückgreifen muss.

Wie lange muss ein Leben dauern, um erfüllt zu sein? Wie selbständig muss ein Mensch mit Behinderung sein, um akzeptiert zu werden? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Unterstützung und Bevormundung? Diese Fragen verweisen auf einen weiteren Aspekt des Selbstbestimmungsbegriffs, den die amerikanische Philosophin Eva Feder Kittay in ihrem Beitrag ausführte: Was, so ihre zentrale Frage, bedeutet die Forderung nach unbedingter Selbstbestimmung für diejenigen, die auf Grund ihrer Behinderung auf umfassende Fürsorge, sei diese nun persönlicher oder professioneller Art, angewiesen sind? Und ist das Angewiesensein auf Fürsorge nicht grundlegend für jede menschliche Existenz? Schon der Umstand, dass jeder Mensch das "Kind einer Mutter" und somit vom ersten Atemzug seines Lebens an von der Fürsorge eines anderen abhängig ist, spreche für diese These.

Diese und andere Beiträge trugen dem Anspruch der Tagung Rechnung, die Verletzlichkeit des Menschen, die Sorge für andere Menschen und die Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit in Ethik-Konzeptionen zu berücksichtigen. Differenz anerkennen - das heißt eben auch, bei der Forderung nach Selbstbestimmung die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung mitzudenken. Nur so kann verhindert werden, dass stark auf Fürsorge angewiesene Menschen als die "schlechteren" Behinderten ausgegrenzt werden und ihre Interessen und Bedürfnisse aus dem Blick geraten.

In Anbetracht der interessanten Vorträge und der oft leidenschaftlich geführten Diskussionen war die Tagung für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicher eine große Bereicherung.

Friedrichshainer Gespräche

Die Friedrichshainer Gespräche sind Abendveranstaltungen mit geladenen Referenten. Hierzu wird im Unterschied zum Friedrichshainer Kolloquium die breite Öffentlichkeit eingeladen. Diese Veranstaltungen sind in erster Linie für Menschen aus Berlin und Umgebung gedacht. Um sie auch anderen Interessierten zugänglich zu machen, wurden die Vorträge in dem Sammelband "Medizin, Ethik und Behinderung, Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft" publiziert. An den drei Friedrichshainer Gesprächen, die 2003 stattfanden, nahmen durchschnittlich 20 Personen, darunter auch Abgeordnete verschiedener Fraktionen des Deutschen Bundestages, teil.

4. Friedrichshainer Gespräch
Prof. Dr. med. Linus Geisler: "Jeder Mensch stirbt anders - Arzt-Patient-Kommunikation am Lebensende", 2. April 2003

Der individuelle Sterbeprozess eines todkranken Patienten, dem sich der Arzt in seiner Kommunikation widmen muss, stellt eine besondere Herausforderung für die Arzt-Patienten-Beziehung im Krankenhausalltag dar. Das Sprechen und der Umgang mit Todkranken und Sterbenden sind jedoch in der Praxis schwierig zu bewältigen, in der Folge fühlen sich viele Patienten allein gelassen. Prof. Dr. med. Linus Geisler, der viele Jahre Chefarzt einer Inneren Abteilung war, erläuterte diese Problematik anhand konkreter Beispiele aus der Praxis und zeigte auf, welche Wege gegangen werden müssen, damit Arzt und Patient besser miteinander sprechen und zu einem verstehenden Gespräch gelangen können.

5. Friedrichshainer Gespräch
Dott. Paolo Bavastro: "Patientenverfügungen - für wen?", 7. Mai 2003

Mit Hilfe von Patientenverfügungen soll der erklärte Wille vieler Menschen nach einem "Sterben können in Würde" verbindlich umgesetzt werden, vor allem für solche Situationen, in denen er nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern. So sind sie einerseits eine wertvolle Kommunikationsbrücke im Arzt-Patienten-Verhältnis, können dieses aber auch negativ beeinflussen. Dott. Paolo Bavastro, Leitender Arzt an der anthroposophisch orientierten Filderklinik, gab in seinem Vortrag einen Überblick über den praktischen Umgang mit der Patientenverfügung und legte deren Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis dar. Sein Vortrag fokussierte vor allem auf die ethischen Probleme, die mit der Patientenverfügung verbunden sind.

6. Friedrichshainer Gespräch
Im Rahmen der Woche "Die Stadt der 1000 Fragen" der Aktion Mensch, 23. September 2003
In Kooperation mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen fand eine Veranstaltung zum Thema: "Experten reden anders - Laien auch" statt. Hier wurde insbesondere folgenden Fragen nachgegangen:

  • Was macht eigentlich eine Expertin/einen Experten aus?
  • Sind wir alle Expertinnen/Experten?
  • Worin sind wir Expertinnen/Experten?
  • Warum reden Expertinnen/Experten und Laien so oft aneinander vorbei?
  • Was ist die Rolle von Expertinnen/Experten?
  • Warum sind sie nötig?
  • Wie können die Verständigungsschwierigkeiten überwunden werden?

Veröffentlichungen

Im Jahre 2003 sind zahlreiche Veröffentlichungen des IMEW erschienen. Auch diese sollen den Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit fördern.

Dr. Katrin Grüber und Dr. Sigrid Graumann haben eine Reihe weiterer wissenschaftlicher sowie populärwissenschaftlicher Artikel publiziert. Frau Dr. Graumann ist Mitherausgeberin des Buches: Verkörperte Technik - entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht, Frankfurt/M. 2003.

Impressum:

Herausgegeben vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)

Texte: Mitarbeiterinnen des IMEW
V.i.S.d.P.: Katrin Grüber
Auflage: 200
Stand: März 2004

Dieser Jahresbericht ist kostenlos erhältlich beim IMEW, Warschauer Straße 58A, 10243 Berlin, Fon: 0049 (0)30-293817-70, Fax: 0049 (0)30-293817-80, E-Mail: info@imew.de

Das IMEW wird gefördert durch die Aktion Mensch.


  1. International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps
  2. International Classification of Functioning, Disability and Health
  3. Präsenzbibliothek auf der IMEW-Website
    BEKIS Forschungseinrichtungen im Bereich "Bioethik"
    Fachinformationsführer Berlin des Berliner Arbeitskreises Information (BAK)
    Bibliothekenführer Berlin-Brandenburg des Kooperativern Bibliotheksverbunds Berlin-Brandenburg (KOBV)

Die Deutsche Bibliothek hat die Netzpublikation "Jahresbericht" archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbiliothek verfügbar.

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