Das Forschungsprofil des IMEW
Inhalt
2. Drei Säulen des Forschungsprofils des IMEW
2.1. Erweiterte Interdisziplinarität
2.3. Transfer zu Gesellschaft und Politik
1. Ausgangsüberlegungen
Die biowissenschaftliche und medizinische Forschung ist in vielen Feldern und in Bezug auf viele Verfahren gesellschaftlich und politisch hoch umstritten. Die Positionen, die in diesen Kontroversen vertreten werden, sind so unterschiedlich wie die Interessen und Weltanschauungen der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen. Dabei spielen auch Behindertenbewegung und Behindertenverbände eine wichtige Rolle. Die Diskussionen sind von einer offensichtlichen Fragmentierung und einer Pluralität an Bewertungen gekennzeichnet. Dazu kommen Unsicherheiten hinsichtlich der Einschätzung (empirische Unsicherheit) und der Bewertungsgrundlage (normative Unsicherheit) möglicher Folgen. Die Verständigung in und zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen ist daher häufig von unüberwindbar erscheinenden Dissensen geprägt. Deutlich sichtbar wurde dies beispielsweise in der Kontroverse über die europäische Biomedizin-Konvention.
Diese Problemkonstellation begründet den Bedarf an ethischer Orientierung in Bezug auf Konflikte, die durch Entwicklungen in Biowissenschaften und Medizin aufgeworfen werden, sowie den Bedarf an empirischen Kenntnissen über die Implikationen von Biowissenschaften und moderner Medizin. Die Forschung über ethische, rechtliche und soziale Aspekte von Biowissenschaften und Medizin ist daher von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. Diese Tatsache kann zu Zielkonflikten mit dem wissenschaftlichen Anspruch der beteiligten Disziplinen führen.
In der Anfangsphase war die Forschung über Voraussetzungen und Folgen von Biowissenschaften und Medizin vor allem von philosophischen, theologischen und juristischen Expertisen in Bezug auf grundlegende Normenkonflikte geprägt. Der Großteil der ethischen und rechtlichen Zugangsweisen konzentriert sich dabei auf Fragen individueller Rechte, Pflichten und Interessen sowie Konflikte zwischen diesen; sozialethische Fragen wie die Veränderung von gesellschaftlichen Werten, Normen und Rollenerwartungen werden weitgehend außer Acht gelassen. Zudem wurde auf empirische Aspekte ("Chancen und Risiken") häufig einfach Bezug genommen, ohne diese eigens wissenschafts- und gesellschaftstheoretisch zu hinterfragen, was eine weitere Schwachstelle darstellt.
Mittlerweile treten Fragen der Akzeptanz einzelner Forschungsrichtungen und Verfahrung von Seiten der unmittelbar Betroffenen wie von Seiten der Gesellschaft und damit sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen verstärkt in den Mittelpunkt. Allerdings wurden bislang Fragen bezüglich der Angemessenheit der Methoden, Anforderungen an die Interdisziplinarität, des Erkenntnisinteresses sowie des Beitrags, den die empirischen Ergebnisse zu wissenschafts- und medizinethischen Problemen überhaupt leisten können, vielfach nicht diskutiert. Zugespitzt formuliert: In einigen Fällen legt sich der Eindruck nahe, dass ethische Fragen unter Verweis auf die erhobenen Mehrheitsmeinungen - ohne ihre ethische Reflexion - beantwortet werden sollen.
Die skizzierte Problematik zeigt, dass das Verhältnis von empirischer Forschung und normativer Reflexion methodologisch bestimmt werden muss, wenn die wissenschafts- und medizinethische Forschung, die an sie gestellten Erwartungen erfüllen will. An dieser Stelle setzt das Forschungsprofil des IMEW mit einer erweitert interdisziplinären Konzeption an.
Außerdem dominiert in der Forschung über Voraussetzungen und Folgen von Biowissenschaften und Medizin die Perspektive von nicht behinderten Wissenschaftlern. Dies steht im Gegensatz zum großen Maß an Betroffenheit behinderter Menschen. Das heißt, man muss davon ausgehen, dass diese Forschung gewisse "blinde Flecken" aufweist. Die Erfahrungen aus der Frauen- und Geschlechterforschung zeigen, dass derartige "blinde Flecken" durch perspektivische Forschung gefüllt werden können. Dabei darf perspektivische Forschung nicht mit parteiischer Forschung verwechselt werden. Sie versucht vergleichsweise "objektiver" zu sein, indem sie die eigene Perspektive offen legt und damit ermöglicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Perspektiven zu erkennen. In Anlehnung an die "Gender Studies" und die feministische Ethik beinhaltet das Forschungsprofil des IMEW einen perspektivischen Zugang, das heißt, die Perspektive von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen wird zum Ausgangspunkt genommen oder zumindest berücksichtigt. Dazu gehört auch, die expliziten und (häufiger noch) impliziten anthropologischen Prämissen wissenschafts- und medizinethischer Forschung kritisch zu hinterfragen. Wissenschafts- und medizinethische Forschung geht zumeist von unabhängigen, autonomen Personen im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten aus und beschränkt sich auf individualethische Fragen in der öffentlichen Sphäre. Die wissenschaftliche Konzeption des IMEW dagegen berücksichtigt die Körperlichkeit und Beziehungsbezogenheit des Menschen sowie seine Angewiesenheit auf gesellschaftliche Wertschätzung. Sie geht davon aus, dass die Vernunftfähigkeit des Menschen als Menschen auch seine Einsicht in seine Verletzlichkeit und Bedürftigkeit und die darin begründete Abhängigkeit von sozialen Beziehungen umfasst.
Ein weiterer für die wissenschaftliche Konzeption des IMEW wichtiger Aspekt ist die praktische Relevanz der Forschung für die gesellschaftliche Diskussion wie für die Politikberatung. Nun verdankt sich der Bedarf an wissenschafts- und medizinethischer Forschung der Tatsache, dass Biowissenschaften und Medizin Werte- und Normenkonflikte aufwerfen. Das bedeutet aber, dass wissenschafts- und medizinethische Forschung immer schon unausweichlich von gesellschaftlicher und politischer Relevanz ist. Diese Praxisrelevanz wird in der wissenschaftlichen Konzeption des IMEW nicht hinter einem vermeintlich völlig wertneutralen Erkenntnisinteresse - wie es gelegentlich ausdrücklich vertreten wird - verschleiert, sondern explizit gemacht.
2. Drei Säulen des Forschungsprofils des IMEW
2.1. Erweiterte Interdisziplinarität
Biowissenschaften und Medizin verändern das Verständnis von und den Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Behinderung auf individueller, gesellschaftlicher und kultureller Ebene. Gleichzeitig ist die Zielbestimmung des ärztlichen und des forschenden Handelns bzw. dessen Legitimation von dem gesellschaftlichen Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Behinderung geprägt. Dieses Wechselverhältnis zwischen den konkreten Handlungsfeldern von Biowissenschaften und Medizin und ihren psychosozialen und soziokulturellen Bedingungen und Folgen kann weder aus der Perspektive von Ethik und Recht noch aus der Perspektive der Verhaltens-, Sozial- oder Kulturwissenschaften alleine befriedigend bestimmt werden. Dies wird auch daran deutlich, dass etwa in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen häufig Wertfragen vor allem als Machtfragen behandelt werden. In psychologischen Studien dagegen werden ethische Fragen meist individualisiert und in soziologischen Untersuchungen auf empirisch erfassbare gesellschaftliche Phänomene zurückgeführt.
Die ethische Relevanz zu erfassen, fällt den empirischen Disziplinen in der Regel schwer, weil sie für sich selbst in Anspruch nehmen (müssen), wertfrei vorzugehen. In ethischen Arbeiten hingegen wird die normative Relevanz von psychosozialen und soziokulturellen Aspekten oft negiert; interdisziplinäre Zugänge gehen hier meist in der Beurteilung medizinisch-naturwissenschaftlicher Fakten auf der Basis abstrakter ethischer Prinzipien und rechtlicher Rahmenbedingungen auf.
Dabei sind nicht die disziplinär geprägten Perspektiven an sich problematisch - die Reduktion von Komplexität ist ja eine entscheidende konstitutive Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis und von daher unverzichtbar -, sondern damit verbundene Verallgemeinerungsansprüche im Zuge einer gewissen disziplinär geprägten "Scheuklappenmentalität". Dieses Problem kann durch eine Interdisziplinarität, die auch verhaltens-, sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge einbezieht, überwunden werden.
Dieses Ziel verfolgt das IMEW auf mehrfache Weise:
- Bei der Bearbeitung von Forschungsprojekten wird die einschlägige Literatur aus allen relevanten Disziplinen einbezogen.
- Das IMEW vergibt Gutachten in Bezug auf Fragen, für die die Mitarbeiterinnen des IMEW nicht selbst fachkompetent sind.
- Die Institutsmitarbeiterinnen nehmen an interdisziplinären Kooperationsprojekten mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen teil.
- Das IMEW initiiert interdisziplinäre Forschungsprojekte.
- Das IMEW stellt mit dem Friedrichshainer Kolloquium einen Raum für den interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch bereit. Dasselbe Ziel verfolgen die daraus hervorgehenden Sammelbände.
- Das IMEW organisiert interdisziplinär zusammengesetzte Fachtagungen.
- Die Mitarbeiterinnen des IMEW leisten Beratung und Ko-Betreuung von wissenschafts- und medizinethisch relevanten Forschungsarbeiten aus verschiedenen Disziplinen.
2.2. Perspektivität
Biowissenschaften und Medizin haben einen großen Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen. Zuschreibungen von "krank" und "behindert" können gesellschaftliche Ausgrenzungen von Menschen mit sich bringen. Dabei sind zwei gegenläufige Entwicklungen feststellbar.
Auf der einen Seite macht der gesellschaftliche und politische Emanzipationsprozess von Menschen mit Behinderungen deutliche Fortschritte. Das in Artikel 3 GG verankerte Diskriminierungsverbot und seine Umsetzung beispielsweise im Gleichstellungsgesetz zur Barrierefreiheit und zur Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ist ein wichtiger politischer Schritt, von Menschen gemachte und gewollte Ausgrenzungen zu beseitigen. Darin spiegelt sich möglicherweise auch eine veränderte gesellschaftliche Sichtweise auf Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen und ihre Lebensbedingungen.
Auf der anderen Seite besteht gegenüber den Biowissenschaften und der modernen Medizin der Verdacht, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu befördern. Ob es nun die Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen ist, die embryonale Stammzellforschung, die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik oder die Sterbehilfe, Menschen mit Behinderungen fühlen sich und sind besonders betroffen. Das "Leiden" an Krankheit und Behinderungen - in aller Regel aus der Perspektive "Gesunder" formuliert - dient zur ethischen Legitimation der biowissenschaftlichen und medizinischen Forschung. Dabei geht es nicht nur um neue Therapieaussichten, sondern auch um die "Beendigung von Leiden" durch Behandlungsabbruch und Sterbehilfe oder um die Vermeidung des "Leidens" von Paaren infolge der Geburt eines chronisch kranken oder behinderten Kindes durch Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik. Dadurch sehen sich viele Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen in ihrer Existenzberechtigung in Frage gestellt.
Von ethischer und von juristischer Seite wird solchen Positionen allerdings häufig die Berechtigung abgesprochen. Die wissenschafts- und medizinethische Forschung konzentriert sich vor allem auf die ethische Reflexion individueller Interessen, Rechte und Pflichten in Bezug auf einzelne biowissenschaftliche und medizinische Handlungsfelder. Bei der Frage nach diskriminierenden Tendenzen von Biowissenschaften und Medizin geht es aber um gesellschaftliche und kulturelle Folgen und weniger um individuelle Interessen und Rechte. Für die Bestimmung der ethischen Relevanz der gesellschaftlichen und kulturellen Folgen von Biowissenschaften und Medizin, welche die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen möglicherweise befördern, fehlen jedoch bislang weitgehend die notwendigen theoretischen und empirischen Grundlagen. Hier will das IMEW einen weiterführenden Beitrag leisten.
Das Wechselverhältnis zwischen den konkreten Handlungsfeldern der Biowissenschaften und der Medizin und ihren psychosozialen und soziokulturellen Bedingungen und Folgen betrifft also in ganz besonderer Weise Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten und deren familiäres und soziales Umfeld. In der Forschung aber dominiert der Blick von "Gesunden", "Nichtbehinderten" bzw. allgemeiner gesprochen von autonomen, unabhängigen Subjekten im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild, das es konzeptionell zu korrigieren gilt. Das IMEW orientiert sich dabei an den methodologischen Konzeptionen, die in der perspektivischen Forschung unterschiedlicher Richtung gewonnen wurden. Für den deutschsprachigen Raum sind dies vor allem die "Gender Studies". Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum ist das innovative Modell perspektivischer, interdisziplinärer Forschung in den angelsächsischen Ländern längst erfolgreich mit den "Cultural Studies" auf die Rassismus-Forschung und mit den "Disability Studies" auf die Behinderungsforschung übertragen worden. Vor allem Letztere bieten für das IMEW praktische Bezugspunkte. Damit füllt das IMEW ein Forschungsdesiderat im deutschsprachigen Raum.
Dazu kommt, dass erweitert interdisziplinäre, perspektivische Forschung in diesem Bereich kaum sinnvoll ohne Menschen mit Behinderungen gemacht werden kann. Zwar kann und sollte jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler die Perspektive einnehmen können, da jede und jeder jederzeit selbst von Krankheit und Behinderung betroffen werden kann. Dennoch fehlt "Gesunden" und "Nichtbehinderten" die lebensweltliche Erfahrung von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen.
Der Einbezug der Perspektive von Menschen mit Behinderung in die Forschung ist daher unerlässlich. Er geschieht in der wissenschaftlichen Arbeit des IMEW auf verschiedene Weise:
- Arbeiten und Erkenntnisse aus den "Disability Studies" und den "Disability Ethics" werden einbezogen.
- Stellungnahmen und andere Dokumente aus der Behindertenbewegung und von den Behindertenverbänden werden ausgewertet.
- Auch durch Einbezug von biographischen Berichten und Schriften wird die Perspektive von Menschen mit Behinderung im "O-Ton" eingebracht.
- Außerdem ermöglichen sozialwissenschaftliche "Übersetzungsarbeit" per Interviewverfahren oder andere sozialwissenschaftliche Methoden die Perspektivität.
2.3. Transfer zu Gesellschaft und Politik
Die wissenschaftliche Konzeption des IMEW zeichnet sich zudem durch den Anspruch aus, einen Transfer zur gesellschaftlichen Diskussion und zur Politik zu leisten. Das IMEW arbeitet nicht im akademischen Elfenbeinturm. Das bedeutet einerseits, dass das IMEW gesellschaftlich und politisch relevante Fragestellungen aufgreift und andererseits diese gegebenenfalls so bearbeitet, dass die Ergebnisse für die Beratung von Verbänden und Politik nutzbar sind. Dabei ist zu klären, wie mit dieser Zielsetzung "gutes wissenschaftliches Arbeiten" möglich ist. Dies ist allerdings keineswegs ein Spezialproblem des IMEW, sondern hinsichtlich der unausweichlichen gesellschaftlichen und politischen Relevanz von wissenschafts- und medizinethischer Forschung von grundsätzlicher Bedeutung. Wissenschafts- und medizinethische Politikberatung besteht in der Vermittlung des für das jeweilige Thema relevanten Wissens und in der Vermittlung von Reflexionskompetenz (bzw. sollte darin bestehen). Dafür ist eine gute wissenschafts- und medizinethische Forschung notwendig. Sofern eine ausreichende Pluralität von Ansätzen und Positionen gewährleistet ist, müsste sich trotz der Tatsache, dass sich Interessensgeleitetheit in der Forschung niemals vollständig vermeiden lässt, ein ausgewogenes Bild ergeben. Dabei stellt sich das Problem, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen im akademischen Feld grundsätzlich unterrepräsentiert sind. Da dies hier insbesondere chronisch kranke und behinderte Menschen betrifft, ist die perspektivische Forschung besonders wichtig.
Eine Orientierung für gute wissenschafts- und medizinethische Forschung bietet die Unterscheidung zwischen interner und externer wissenschaftlicher Verantwortung.
Interne wissenschaftliche Verantwortung tragen Wissenschaftler für gutes wissenschaftliches Arbeiten innerhalb der Wissenschaft. Gutes wissenschaftliches Arbeiten äußert sich in der bestmöglichen objektiven Erkenntnissuche und -sicherung durch Einhalten wissenschaftlicher Sorgfalts- und Fairnessregeln. Für die empirisch arbeitenden Natur- und Sozialwissenschaften beziehen sich diese Sorgfaltsregeln vor allem auf die möglichst objektive Datengewinnung und deren intersubjektive Überprüfung. Für die Geisteswissenschaften bedeutet das vor allem die Berücksichtigung der einschlägigen Literatur, nachvollziehbares Belegen von Behauptungen, konsistente und kohärente Begründung von Positionen, faire Darstellung von Gegenargumenten und korrektes Zitieren. Mit diesem Vorgehen ist aber noch keineswegs garantiert, dass die richtige zwischen mehreren konkurrierenden Ansichten gefunden werden kann. Zumindest aber kann es gelingen, eine Argumentation in allen Facetten so darzulegen, dass sie nachvollziehbar und kritisierbar ist. Häufig haben wir es im Feld der Wissenschafts- und Medizinethik mit gemischten Beurteilungen zu tun, die sich auf empirisches und normatives Wissen bzw. Reflexionskompetenz stützen. Selbstverständlich gelten die jeweiligen wissenschaftlichen Sorgfaltsregeln dann für alle Seiten. Damit ist ein weiterer wesentlicher Qualitätsaspekt der medizin- und wissenschaftsethischen Forschung angesprochen, nämlich die - der wissenschaftlichen Konzeption des IMEW entsprechende - erweiterte Interdisziplinarität.
Als ein weiteres wesentliches Qualitätsmerkmal für wissenschaftliches Arbeiten gilt üblicherweise Unvoreingenommenheit. Auffällig in der Wissenschafts- und Medizinethik ist dabei, dass beide Seiten meist der jeweils gegnerischen Positionen Voreingenommenheit vorhalten. Nun ist wissenschaftliches Arbeiten nicht frei von vorwissenschaftlichen Einstellungen und Meinungen - dies gilt für die wissenschafts- und medizinethische Forschung wegen der Nähe zur gesellschaftlichen Diskussion und zur Politik ganz besonders. Daher ist es insbesondere hier notwendig, die eigene Perspektive expliziert kritisch zu hinterfragen und offen zu legen. Auch dies entspricht mit dem Einbezug der Perspektive von Menschen mit Behinderung auf einer reflektierten methodologischen Basis der wissenschaftlichen Konzeption des IMEW.
Wissenschaftler haben aber neben ihrer internen Verantwortung auch eine externe Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Diese Verantwortung kann nicht nur, aber auch als politische Verantwortung verstanden werden. In der Politikberatung ist das leitende Ideal (oder sollte es sein) die Suche nach allgemein zustimmungsfähigen politischen Lösungen, die dem nackten Machtkampf von Interessen in der politischen Arena entgegengerichtet ist. Als allgemein zustimmungsfähig kann eine politische Entscheidung dann gelten, wenn alle mittelbar und unmittelbar Betroffenen zwanglos zustimmen können oder, etwas salopper ausgedrückt, zumindest mit der Entscheidung leben können. Dementsprechend kann gute Politikberatung in Ergänzung zu guter wissenschaftlicher Arbeit charakterisiert werden. Die Aufgabe der Wissenschaftler besteht darin, durch Beratung von legitimierten Entscheidungsträgern und legitimierten Interessensvertretern (hier: die Verbände der Behindertenhilfe und -selbsthilfe) bestmöglich zu guten politischen Entscheidungen im oben beschriebenen Sinn beizutragen. Auf diese Weise kann Politikberatung helfen, dass politische Entscheidungen auf der Grundlage eines guten Sachwissens und eines hohen Reflexionsniveaus getroffen werden. An diesem Anspruch orientiert sich das IMEW.
Der Transfer der wissenschaftlichen Arbeit des IMEW in Gesellschaft und Politik erfolgt auf mehrere Weise:
- Das IMEW berät die Verbände dabei, Positionen und Stellungnahmen zu Problemfeldern der Wissenschafts- und Medizinethik zu erarbeiten.
- Politikberatung durch das IMEW findet durch Expertisen mit dem Anspruch der Vermittlung von Sachwissen und Reflexionskompetenz statt.
- Politikberatung durch das IMEW findet darüber hinaus durch Mitgliedschaft in Politikberatungsgremien statt.
- Das IMEW führt Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit durch.
- Das IMEW stellt Publikationen für die breite Öffentlichkeit (z.B. IMEW konkret) bereit.
- Die Institutsmitarbeiterinnen des IMEW nehmen regelmäßig an öffentlichen Veranstaltungen zu wissenschafts- und medizinethischen Problemfeldern teil.
3. Ausblick
Die drei Säulen stellen die Grundlage für die Entwicklung und Durchführung von Forschungsvorhaben, Veröffentlichungen und Veranstaltungen am IMEW dar. Sie legen niemanden auf eine bestimmte theoretische oder methodologische Schule fest. Sie stellen aber dennoch einen Rahmen für eine kritische wissenschafts- und medizinethische Arbeit bereit, die den Erwartungen der das IMEW tragenden Personen und Verbände entspricht, wie sie in Gründungserklärung und Gesellschaftervertrag des IMEW formuliert wurden.
Sigrid Graumann (April 2006)
Das Forschungsprofil wurde mit Unterstützung des wissenschaftlichen Beirats des IMEW erarbeitet.