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Prof. Dr. Gerhard Robbers: Festvortrag

Grundfragen der Ethik heute.
Vortrag aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des Instituts Mensch, Ethik, Wissenschaft.
Berlin, 5. Oktober 2011
Prof. Dr. Gerhard Robbers

Eine Grundfrage, die sich aller Ethik stellt, ist die nach Bindungen des Menschen – was ist richtig, was ist gut, was ist verantwortlich und verantwortbar.
Erlauben Sie, dass ich mich dieser Grundfrage aus verfassungsrechtlicher Sicht zu nähern suche – ich habe keine andere Entschuldigung dafür als die, dass ich nun einmal von Beruf Jurist bin; aber irgendwie ist das ja vielleicht auch nicht das Schlechteste.

Ich möchte nach dem Verhältnis von Recht und Ethik fragen: Stellt die Ethik nur Anforderungen an das Recht – von außen – oder ist die Ethik Teil des Rechts selbst. Anders ausgedrückt: Gründet das Recht im freien Kreationsakt des Volkes (oder eines sonstigen Machthabers) oder verliert das Recht seinen Charakter als Recht, wenn es grundlegenden ethischen Bindungen widerspricht.

Dabei möchte ich zunächst dem Positivismus Reverenz erweisen: Ich möchte mich dem Grundgesetz zuwenden, dem Wortlaut der Verfassung. Die Bezüge des Grundgesetzes zu einem überpositiven Recht sind deutlich. Sie werden heute im rechtswissenschaftlichen Diskurs allerdings minimiert, oft beiseitegeschoben und in ihrer Relevanz geleugnet. Das ist in einer Zeit verständlich, die rechtlich mit sich selbst im Reinen ist, in der das richtige Recht durch das positive Recht im Allgemeinen nicht bedroht erscheint. Dem Wortlaut des Grundgesetzes wird diese Auslegung, diese Minimalisierung des überpositiven Rechts aber nicht gerecht. Sie ist auch in der Sache falsch.
Das Grundgesetz stellt sich selbst und bereits in der Präambel unter die Verantwortung vor Gott und den Menschen. Sie beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott“ – damit bezieht sich die Verfassung auf die Dimension der Transzendenz. Das Grundgesetz sieht sich von vornherein nicht absolut. Alles von der Verfassung abgeleitete und in der Verfassung gesetzte Recht bleibt in dieser Verantwortung gebunden. In Bezug auf den Menschen – „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor den Menschen“ heißt es – bezieht sich die Verfassung auch auf die Idee der Verallgemeinerungsfähigkeit, auf die Gleichheit des Rechts.

Und weiter: Art. 2 Abs. 1 GG spricht vom Sittengesetz als Grenze der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Art. 6 Abs. 2 GG anerkennt das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder als ihr natürliches Recht – ein klares Bekenntnis zu naturrechtlichen Bindungen.

Die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde verpflichtet nach Art. 1 Abs. 1 GG auch den Verfassungsgesetzgeber – alle staatliche Gewalt. Die Menschenrechte erklärt Art. 1 Abs. 2 GG zur Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft; sie sind unveräußerlich – also auch der Verfassung vorgegeben. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Änderungen des Grundgesetzes, die die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren: Menschenwürde, Bindung an die Grundrechte, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Republik und Bundesstaatlichkeit. Dies geschieht nicht zum Zweck bloßen Systemerhalts. Es stellt sich in die Tradition der vernunftrechtlichen Menschenrechtserklärungen und nimmt die Erfahrung der moralischen Verwüstung Deutschlands im Nationalsozialismus auf.

Der Wortlaut des Grundgesetzes bleibt deutlich: die Verfassung dürfte nicht anders, auch wenn sie könnte, auch wenn sie wollte. Deutlich ist auch, dass diese Auslegung der entscheidenden Überzeugung im Parlamentarischen Rat entspricht.

Die neopositivistische Verneinung dieser Bindungen kann also schon gegen den Wortlaut der Verfassung nicht durchdringen.

Was aber ist der Inhalt dieses auch vom Grundgesetz anerkannten überpositiven Rechts? Was sind die Bindungen des positiven Rechts? Woran ist das Recht gebunden? Vielleicht doch an die Natur, an die Natur des Menschen? Man spricht heute nicht mehr gern vom Naturrecht.

Die Naturrechtsdebatte hat sich historisch entwickelt. Wenn heute – zu Recht – der Eindruck besteht, dass eher selten von Naturrecht gesprochen wird, so darf das über die weiterhin ungebrochene Stärke in der Substanz nicht hinwegtäuschen. Es hat sich lediglich die Einkleidung gewandelt. Was früher unter Naturrecht diskutiert worden ist, erscheint heute unter dem Topos der Menschenrechte. Und der Anspruch der Menschenrechte auf Allgemeingültigkeit ist ungebrochen.

Ich möchte im Folgenden empirisch vorgehen und die Verfassungsvergleichung stärker ins Blickfeld rücken. Verfassungsvergleichung kann zeigen, wo es Gemeinsamkeiten gibt und wo Unterschiede.

Schon ein erster Überblick zeigt, dass heute in so gut wie allen politischen Gemeinwesen geschriebene Verfassungen bestehen: Das Recht soll geschrieben sein, es soll öffentlich sein, es soll einen verbindlichen Mittelpunkt haben – erste Prinzipien, in denen das Recht gebunden ist. So gut wie alle Staatsverfassungen haben heute Grund- und Menschenrechtskataloge in sich: Das Recht soll bestimmte Inhalte haben. Diese Inhalte variieren, aber sie variieren weniger als oft angenommen, und wo sie variieren, lassen sich bestimmte Muster erkennen.

Durchgängig anerkannt sind einige, relativ einfache spezifische Schutzgüter der Menschenrechte: Leben, Unversehrtheit des Körpers, Schutz gegen willkürliche Verhaftung, Bewegungsfreiheit, durchaus auch Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, persönliches Eigentum und auch die Glaubensfreiheit. Es betrifft dies Schutzgüter, deren Beeinträchtigung unmittelbar und durchgängig persönliches Leiden erzeugt. Wem ein Glaube aufgezwungen wird, leidet – überall auf der Welt. Wer gefoltert wird, leidet – jeder Mensch. Menschenrechte als Schutz gegen Leidensdruck, als historisch gewachsene, aber universal erfahrbare Antwort auf Bedrängnissituationen gelten dort, wo solches Leiden erfahrbar wird. Das ist überall. Das ist das Feld der Universalität der Menschenrechte.

Die Universalität der Grundaussage begegnet Einschränkungen. Dies ist stets dort der Fall, wo einzelne Schutzgüter in Konflikt oder in Konkurrenz zueinander stehen. Es kann sein, dass individuelles Leben gegen individuelles Leben steht. Es kann sein, dass die Existenz der Gemeinschaft eines ideellen, ideologischen Zusammenhaltes bedarf, der mit dem individuellen Glauben einzelner kollidiert. Die Auflösung solcher Kollisionslagen, die Zusammenordnung der unterschiedlichen Schutzinteressen ist heute das Feld der Partikularität der Menschenrechte. Die Verfassungsvergleichung zeigt empirisch, dass die Schutzgüter im Kern universal anerkannt sind. Die Auflösung von Konflikten der Schutzgüter dagegen ist höchst umstritten. Es ist hier, wo kulturelle, wirtschaftliche, militärische, medizinische Bedürfnisse konkrete und oft divergierende, partikulare Lösungen verlangen. Die Zusammenordnung der oft gegenläufigen Rechte und Interessen ist das Feld auch der politischen Auseinandersetzung auch in unserem Land.

Die dabei bestehende Vielfalt der Auffassungen hat im Übrigen bisweilen Auswirkungen auf die Beschreibung der Schutzgüter. Das gilt heute besonders im Blick auf das Recht auf Leben für die Frage des Beginns und des Endes menschlichen Lebens.

Es lässt sich hieraus eine universale Bindung des Rechts erschließen: Das Recht soll Leiden vermeiden.

Menschenrechte sind aber nicht nur Schutz gegen Leiden. So wichtig diese Dimension ist, Menschenrechte erschöpfen sich in dieser negatorischen Funktion nicht. Menschenrechte haben ebenso positive, konstruktive Funktion. Menschenrechte konstituieren Institutionen wie die Ehe, das Eigentum, den Vertrag, Parlamente im Einzelnen und den politischen Prozess im Allgemeinen. Hier liegt ein weites Feld der Partikularität.

Deshalb haben Grundrechte auch ihre Funktion als Schutzrechte. Grundrechte schützen auch die Wahrnehmung von Möglichkeiten.

Wenn ich das auf einige aktuelle Fragen anwenden darf, möchte ich das anhand der Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik tun. Dieses Problemfeld ist mit der jüngsten Gesetzgebung nicht erledigt, es ist eigentlich erst wirklich eröffnet worden.

Sie zeigt nur umso deutlicher, wie wichtig weitere und breitere Diskussion ist. Im Vorfeld der Gesetzgebung hat es ja auch einen Bericht der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz vom März dieses Jahres gegeben, der die Präimplantationsdiagnostik sehr weitgehend befürwortet hat. Als einer der fünf Autoren des abweichenden Votums zu diesem Bericht möchte ich mir erlauben, auf einige Überlegungen aus dieser Gegenmeinung zurückzugreifen.
Die Präimplantationsdiagnostik führt im Ergebnis zu einer Selektion von Leben. Diejenigen Embryonen, bei denen der unerwünschte genetische Defekt gefunden wird, werden „beiseite gelegt“. Es wird ein „Leben auf Probe“ geschaffen. Damit entscheiden diejenigen, die die Präimplantationsdiagnostik durchführen, letztendlich über Leben oder Nicht-Leben eines Individuums. Diese Selektion räumt nicht-behindertem Leben einen Vorrang vor behindertem Leben ein.

Eine Selektion von menschlichen Embryonen mit einem bestimmten genetischen Defekt wird auch Rückwirkungen auf den Umgang mit behinderten Menschen insgesamt haben. Die Erfahrungen zeigen schon heute, dass der gesellschaftliche Druck auf diejenigen, die sich entscheiden, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, zunimmt, wenn Möglichkeiten für die Verhinderung behinderten Lebens geschaffen werden.

Nun wird oft behauptet, dass sich in den Ländern, in denen die Präimplantationsdiagnostik seit etwa 20 Jahren praktiziert wird, solche Effekte bisher nicht eingestellt hätten. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob diese Einschätzung wirklich stimmt. Das verschließt die Augen vor allgemein bekannten und offenbaren Ausweitungen bis hin zur Auswahl von Embryonen zum Zweck der späteren Organspende. Solche Auswahl ist eine nicht hinzunehmende Verzweckung des Menschen, die mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Würde des Menschen unvereinbar ist.

Die Präimplantationsdiagnostik ist – was ihre praktischen Folgen betrifft – nur unter der Voraussetzung möglich, dass einer befruchteten Eizelle nicht das gleiche Lebensrecht zugesprochen wird wie einem neugeborenen Kind, dass vielmehr die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens „graduell“ unterschiedlich ausfällt. Manche sagen, das Menschsein fange erst mit der Ausbildung bestimmter konkreter Fähigkeiten an. Da definiert man einen Teil der Menschen aus dem Menschsein hinaus. Das ist unvereinbar mit der Menschenwürde aller Menschen und dem daraus sich ergebenden Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Geschichte der Menschenrechte ist eine Geschichte allmählicher Ausweitung und immer konsequenterer Zuschreibung auf alle Menschen. Erst im 20. Jahrhundert haben Frauen, indigene Völker, Menschen mit verschiedener Hautfarbe, Kinder und behinderte Menschen die volle Anerkennung ihrer gleichen Würde erlangt. Die zentrale Erkenntnis dieser historischen Entwicklung lautet: Wir dürfen um der Menschenwürde und der Menschenrechte willen die grundsätzliche Zuschreibung dieser Würde nicht davon abhängig machen, ob der betreffende Mensch über bestimmte Fähigkeiten, Eigenschaften, Merkmale, Bildungsgrade oder Herkünfte verfügt. Wir dürfen die Zuschreibung von Würde und Lebensrecht nicht davon abhängig machen, ob sich bestimmte Merkmale wie Leidensfähigkeit oder ein zentrales Nervensystem ausgebildet haben. Genauso wenig können wir diese moralisch notwendige Zuschreibung vom Aufenthaltsort des Embryo (im Mutterleib oder außerhalb – vor der Nidation oder nach der Geburt) oder bestimmten genetischen Eigenschaften abhängig machen. Deshalb ist der Gradualismus nicht mit der Universalität der Menschenwürde vereinbar. Das schließt nicht aus, dass es Ausnahmen geben kann, wie etwa im Blick auf nicht lebensfähige Embryonen; aber die Ausnahmen müssen sich besonders rechtfertigen.

Das ist gewiss eine Zumutung. Das ist schwierig. Es ist nicht einfach, sich vorzustellen, dass ein millimetergroßes Wesen ein Mensch sein soll. Dieses Vorstellungsvermögen muss erst noch wachsen. Das ist nicht nur, aber es ist auch eine Bildungsfrage. Und es ist eine Frage der schlichten Menschlichkeit. Unser Grundgesetz ist ohne Ethik nicht denkbar. Was dies im Einzelnen bedeutet, setzt die offene Diskussion voraus. Dazu bedarf es Foren der Auseinandersetzung. Dazu bedarf es der Bereitschaft aller, voneinander zu lernen und sich auch von anderen Auffassungen überzeugen zu lassen. Dem dient das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, das jetzt seit einem Jahrzehnt besteht. Es mögen noch viele Jahrzehnte folgen, Jahrzehnte der Arbeit, Jahrzehnte der Auseinandersetzung, viele Jahre der offenen Diskussion. Ad multos annos.

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Bericht über die 10-Jahresfeier

Fotos der 10-Jahresfeier

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