Differenz anerkennen
Ethik und Behinderung ein Perspektivenwechsel
Am 5. und 6. Dezember 2003 fand in Berlin die Tagung "Differenz anerkennen. Ethik und Behinderung - ein Perspektivenwechsel" statt. Es war die letzte der sechs großen Schwerpunktveranstaltungen anlässlich des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen (EJMB), die vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. und der Katholischen Akademie in Berlin e.V. mit finanzieller Förderung der EU und des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung ausgerichtet und organisierte wurde. Insgesamt gab es ca. 220 TeilnehmerInnen, ca. 150 mussten abgewiesen werden.
Bundespräsident Johannes Rau, Schirmherr des EJMB, verwies in seiner Eröffnungsrede zum einen auf die Fortschritte, die die Gesellschaft dabei gemacht habe, Menschen mit Behinderung nicht auszugrenzen sondern einzubeziehen. Zudem bezog er erneut gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) Stellung: Nichts rechtfertige eine Praxis, die das Tor weit öffne für biologische Selektion und damit für eine Zeugung auf Probe. Die zentrale Fragestellung der Tagung, das Verhältnis von Ethik und Behinderung münde letztendlich, so Rau abschließend, in der Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Im Verlauf der Tagung griffen die Vorträge, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen die für das EJMB zentralen Forderungen nach uneingeschränkter Teilhabe sowie völliger Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen immer wieder auf. Beiträge aus der Ethik, der Philosophie, den Literatur-, Sozial und Rechtswissenschaften, aber auch aus der Humangenetik boten dabei einen breiten, interdisziplinären Zugang zum Thema Ethik und Behinderung und unterstrichen die Notwendigkeit, Menschen mit Behinderung an der ethischen Urteilsbildung zu beteiligen. Die Tagung war dadurch geprägt, dass Menschen mit und ohne Behinderung und aus Wissenschaft und Gesellschaft kamen. Es ist sicherlich gelungen, diese unterschiedlichen Gruppen miteinander in Kontakt zu bringen, sie zum gemeinsamen Nachdenken anzuregen und für die Sichtweisen des jeweils anderen zu sensibilisieren. Es hat sich aber auch gezeigt, dass ein großer Nachholbedarf besteht.
Stellvertretend für die zahlreichen Plenarvorträge und die Referate in den Workshops seien die beiden Vorträge der amerikanischen Referentinnen kurz skizziert. Adrienne Asch, Professorin für Biologie, Ethik und Politik der Reproduktionsmedizin, arbeitete sehr deutlich die diskriminierenden Tendenzen von Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik heraus. Sie forderte in diesem Zusammenhang die Anerkenntnis, dass jeder - behindert oder nicht - zum Gelingen der freundschaftlichen, familiären und gesellschaftlichen Strukturen beiträgt und dass andererseits ein jeder in bestimmten Lebenszusammenhängen auf die Unterstützung anderer zurückgreifen muss.
Wie lange muss ein Leben dauern, um erfüllt zu sein? Wie selbständig muss ein Mensch mit Behinderung sein, um akzeptiert zu werden? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Unterstützung und Bevormundung? Diese Fragen verweisen auf einen weiteren Aspekt des Selbstbestimmungsbegriffs, den die amerikanische Philosophin Eva Feder Kittay in ihrem Beitrag ausführte: Was, so ihre zentrale Frage, bedeutet die Forderung nach unbedingter Selbstbestimmung für diejenigen, die auf Grund ihrer Behinderung auf umfassende Fürsorge, sei diese nun persönlicher oder professioneller Art, angewiesen sind? Und ist das Angewiesensein auf Fürsorge nicht grundlegend für jede menschliche Existenz? Schon der Umstand, dass jeder Mensch das "Kind einer Mutter" und somit vom ersten Atemzug seines Lebens von der Fürsorge eines anderen abhängig ist, spreche für diese These.
Diese und andere Beiträge trugen dem Anspruch der Tagung Rechnung, die Verletzlichkeit des Menschen, die Sorge für andere Menschen und die Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit in Ethik-Konzeptionen zu berücksichtigen. Differenz anerkennen - das heißt eben auch, bei der Forderung nach Selbstbestimmung die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung mitzudenken. Nur so kann verhindert werden, dass stark auf Fürsorge angewiesene Menschen als die "schlechteren" Behinderten ausgegrenzt werden und ihre Interessen und Bedürfnisse aus dem Blick geraten.
In Anbetracht der interessanten Vorträge und der oft leidenschaftlich geführten Diskussionen war die Tagung für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicher eine große Bereicherung. Und das, obwohl sie sich gleichermaßen an Menschen mit Behinderung, an Vertreter der Wissenschaft und an die interessierte Öffentlichkeit wandte. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist geplant.
Infos zum Tagungsband "Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel"
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