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Exposé zum Projekt "Ethik und Behinderung"

Inhalt

Einleitung

Ausgangsüberlegungen

"Behinderung" in der angewandten Ethik

"Behinderung" in der allgemeinen Ethik

Eine Ethikkonzeption, die die Sichtweise behinderter Menschen berücksichtigt

Einleitung

Mit dem Projekt "Ethik und Behinderung" ist der Anspruch verbunden, eine moraltheoretisch reflektierte Grundlage dafür zu erarbeiten, wissenschafts- und medizinethische Forschung unter Einbezug der Perspektive von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen zu betreiben. Eine solche Grundlage fehlt bislang weitgehend in der Ethik.

Ziel der Arbeit ist, eine Ethikkonzeption zu skizzieren, die der Perspektive von behinderten Menschen gerecht wird. Dieses Vorhabens ist erstens aus anthropologischen und zweitens aus soziologischen Gründen von allgemeingesellschaftlichem Interesse und nicht nur für die Gruppe derjenigen Menschen relevant, die als behindert gelten.

Ausgangsüberlegungen

Erstens geht eine Behinderung nicht in allen, doch aber in vielen Fällen mit der besonderen Verletzlichkeit und Abhängigkeit des betroffenen Menschen einher. In Bezug auf die Biowissenschaften und die Medizin kommt der Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit verletzlichen und abhängigen Menschen und der hierfür herangezogenen normativen Orientierung eine ganz besondere Relevanz zu. Anthropologisch betrachtet sind nur bestimmte Lebensperioden durch mehr oder weniger unbeschränkte Autonomie und Unabhängigkeit gekennzeichnet. Andere Perioden des Lebens eines Menschen hingegen sind unvermeidlich durch Verletzlichkeit und Abhängigkeit charakterisiert. Der Umgang mit Verletzlichkeit und Abhängigkeit ist daher zweifellos von allgemeingesellschaftlicher Relevanz.

Zweitens zeigen soziologische Untersuchungen, dass scharfe Grenzziehungen zwischen "behindert" und "nicht behindert" zunehmend verschwinden und durch flexible Grenzen ersetzt werden. Damit aber wird die Unterscheidung zwischen "richtigen" Behinderungen und Abweichungen innerhalb der normalen Bandbreite ausgesprochen schwierig. Dazu tragen auch bestimmte Entwicklungen in den Biowissenschaften und in der Medizin bei (Enhancement, Life-Style-Medizin). Die Frage, wer genau als behindert gilt und wer nicht, wer integrierbar ist und wer nicht, wer überhaupt als Moralsubjekt gilt und wer nicht, ist gesellschaftlichen Definitions- und Aushandlungsprozessen unterworfen und verändert sich permanent.

"Behinderung" in der angewandten Ethik

Die ethische Reflexion des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung bewegt sich zwangsläufig in einem Konflikt geladenen Diskussionskontext. Dabei wird der Ethik als akademischer Disziplin selbst von Seiten der Behindertenbewegung und den aus dieser hervorgegangenen "Disability Studies" vorgeworfen, in die Stigmatisierung und Diskriminierung von behinderten Menschen verwickelt zu sein. Diese Vorwürfe zielen zum einen auf die Ethik als angewandte Disziplin, zum anderen aber auch auf die Ethik als moraltheoretisches Unternehmen (z.B. Peter-Singer-Debatte).

In der angewandten Ethik, insbesondere in der Medizinethik und in der Wissenschaftsethik spielt "Behinderung" eine wichtige Rolle. Auffällig ist diesbezüglich, dass sich die Perspektive von Menschen mit Behinderung in einigen zentralen Aspekten von derjenigen der meisten professioneller Ethikerinnen und Ethiker unterscheidet. Dies betrifft insbesondere das jeweilige Verständnis von Behinderung. In der Medizin- und Bioethik scheint das Verständnis von Behinderung vor allem medizinisch geprägt zu sein. Für das so genannte Medizinische Modell von Behinderung ist charakteristisch, Behinderung primär auf funktionelle und morphologische Defekte zurückzuführen und mit Leiden gleichzusetzen. Die Behindertenbewegung bezieht sich dagegen auf das Soziale Modell von Behinderung, das in den angelsächsischen "Disability Studies" aus der Kritik am Medizinischen Modell heraus entwickelt wurde. Grundlegend ist hier die Unterscheidung zwischen "Beeinträchtigung" und "Behinderung": "Beeinträchtigt" sind Menschen dieser Unterscheidung zufolge durch körperliche, geistige oder psychische Schädigungen, "behindert" aber werden sie durch gesellschaftliche Barrieren und fehlende Unterstützung. Im Mittelpunkt des Sozialen Modells steht die Forderung, dass das Recht auf volle gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen geachtet wird. Auch wenn sich diese Forderung vor allem auf die Beseitigung gesellschaftlicher Missstände bezieht, wird medizinische Hilfe nicht pauschal abgelehnt, im Gegenteil. Unter Bezug auf das Soziale Modell von Behinderung wird aber darauf bestanden, dass medizinische Probleme medizinisch und gesellschaftliche Probleme gesellschaftlich gelöst werden. Insbesondere die Gleichsetzung von Behinderung mit Leiden und schwerem Schicksal, die die Diskussionen über Behinderung in der Bio- und Medizinethik prägt, wird aus der Perspektive behinderter Menschen vielfach als diskriminierend erlebt.

"Behinderung" in der allgemeinen Ethik

In der Ethik als moraltheoretisches Unternehmen und insbesondere in normativen Ethiktheorien dagegen spielt Behinderung fast überhaupt keine Rolle. Vor allem feministische Ethikerinnen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die meisten normativen Ethiktheorien von einem bindungslosen, unabhängigen, erwachsenen, männlichen, weißen Subjekt ausgehen. Dieser Liste an Attributen ist "nicht behindert" hinzuzufügen. Das bedeutet, dass die Perspektive von Menschen, die besonders verletzlich und womöglich abhängig von Unterstützung und Sorge durch andere sind, solchen moralphilosophischen Konzeptionen eher fremd ist.

Die meisten zeitgenössischen Moraltheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihr Interesse primär auf Fragen reziproker Verpflichtungen zwischen freien und gleichen Menschen richtet. Verpflichtungen in asymmetrischen Beziehungen, etwa zwischen sorgenden und umsorgten Menschen, werden nicht oder nur nachgeordnet thematisiert. Außerdem sind die meisten Ethikkonzeptionen individualethisch geprägt. Soziale und kulturelle Kontexte werden tendenziell ausgeblendet. Die Marginalisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen wird dabei vornehmlich als individuelle Verweigerung gleicher Rechte und damit als Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit aufgefasst, nicht aber als gesellschaftliches Phänomen gedacht. Damit aber laufen sie selbst Gefahr, Diskriminierungsphänomene unreflektiert zu reproduzieren. Wenn nun aber die Vermutung im Raum steht, dass die Ethik selbst in die Stigmatisierung und Diskriminierung von behinderten Menschen verwickelt ist, sind ihre Diskurse nicht umstandslos anschlussfähig, um die gesellschaftspolitischen Anliegen von behinderten Menschen zu reflektieren.

Eine Ethikkonzeption, die die Sichtweise behinderter Menschen berücksichtigt

Im ersten Teil der Arbeit werden daher unter Rückgriff auf Anerkennungstheorien die Marginalisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung gesellschaftstheoretisch untersucht. Hierfür bieten sich Anerkennungstheorien von Charles Taylor, Axel Honneth und Nancy Fraser an, die sich gesellschafts- und moraltheoretisch mit den Anerkennungsforderungen, die von Seiten sozialer Bewegungen vorgebracht werden, auseinandersetzen. Diese drei Ansätze von Anerkennungstheorien ermöglichen eine Differenzierung verschiedener Ebenen, auf denen Anerkennungsforderungen von Seiten behinderter Menschen vorgebracht werden. Damit zeigt sich, dass die Agenda der normativen Ethik erweitert werden sollte. Während nämlich die normative Ethik primär mit der Ebene der wechselseitigen Anerkennung individueller Rechte zwischen freien und gleichen Individuen befasst ist, zeigt sich, dass von und für behinderte Menschen in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung die Anerkennung von Bedürftigkeit in asymmetrischen Beziehungen (Beziehungen in denen ein Partner schwächer und abhängiger ist) und die Anerkennung von Differenz von besonderer Relevanz ist.

Im zweiten Teil dieser Arbeit werden verschiedene normative Ethikkonzeptionen darauf untersucht, ob sie ein geeignetes Moralprinzip bereitstellen, um die hier angesprochenen moralische Verbindlichkeiten begründet auszuweisen oder auch zurückzuweisen. Dafür ist freilich notwendig, dass die angesprochenen Ebenen, auf denen Ansprüche auf Anerkennung erhoben werden, überhaupt Berücksichtigung finden. Auf diese Aspekte hin werden verschiedene moralphilosophische Konzeptionen (rational-egoistische und universalistische vertragstheoretische Ethiken, utilitaristische Konzeptionen, partikularistische und universalistische tugendethische Ansätze incl. der "Care Ethics", kantische und diskursethische Konzeptionen) untersucht. Entscheidend ist dabei, dass nicht nur Ansprüche auf Anerkennung individueller Rechte, sondern auch Ansprüche auf Anerkennung individueller Bedürftigkeit und individueller Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen Berücksichtigung finden.

Auf dieser Grundlage wird eine Ethikkonzeption skizziert, die der Perspektive von Menschen mit Behinderung tatsächlich gerecht wird, das heißt, die Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Abhängigkeit des Menschen in sozialen Beziehungen sowie die Differenz zwischen Menschen berücksichtigt.

Sigrid Graumann (April 2006)

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