Prof. Dr. Anne Waldschmidt: Wozu ein weiteres (Ethik-)Institut?
Anmerkungen zur Eröffnung des "Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft" am 1. März 2002 in Berlin
Mit dem neu gegründeten Institut wird meines Erachtens eine große Lücke in der hiesigen Forschungs- und Diskurslandschaft geschlossen. Erstmalig für den deutschen Raum steht nunmehr eine verlässliche Infrastruktur zur Verfügung, die es erlaubt, eine qualifizierte und fundierte wissenschaftliche Kritik der utilitaristischen Bioethik zu erarbeiten. Doch reicht es natürlich nicht aus, finanzielle, organisatorische und personelle Ressourcen zu gewährleisten. Damit das neue Institut tatsächlich zu einem Ort der Inspiration und Innovation werden kann, wird es auch nötig sein, gezielt und reflektiert wissenschaftliche Profilbildung zu betreiben. Zu diesem Punkt möchte ich in der gebotenen Kürze einige Gedanken ausführen, die ich anhand der drei zentralen Begriffe strukturiere, die sich im Institutsnamen finden: Mensch, Ethik, Wissenschaft. Und zwar in umgekehrter Reihenfolge.
1. Stichwort "Wissenschaft"
Wenn man den wissenschaftlichen Ansatz betrachtet, den das IMEW verfolgt, so sind zwei Dinge bemerkenswert. Zum einen fällt auf, dass in den Gründungsdokumenten auf verschiedene Grundrechte Bezug genommen wird, nämlich z.B. auf das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Allerdings taucht das Grundrecht der Forschungsfreiheit mit keinem Wort auf. Diese Schwerpunktsetzung halte ich insofern für bemerkenswert, als ja gemeinhin in der Wissenschaft die Rangfolge genau umgekehrt festgelegt wird. Üblicherweise steht die Forschungsfreiheit an erster Stelle.
Mit der Forschungsfreiheit wird allerdings auch Schindluder getrieben. Ursprünglich gedacht als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in die Hochschulautonomie wird sie heute eher verstanden als Freibrief für bedenkenlose Grenzüberschreitungen. Vor diesem Hintergrund halte ich es für sehr angebracht, einmal nicht die Freiheit der Forschenden hervorzuheben, sondern sich auf die Grundrechte derjenigen zu besinnen, in deren Dienst Wissenschaft sich eigentlich stellen sollte: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, alte Menschen mit und ohne Behinderungen. Was wir brauchen, ist eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung – und hoffentlich kann das neue Institut seinen Beitrag hierzu leisten.
Zum anderen heißt es in den Gründungsdokumenten explizit, Zweck des Instituts sei die interdisziplinäre Beschäftigung mit ethischen Fragen. Nun ist Interdisziplinarität ein oft bemühter Anspruch, der uneingeschränkt positiv klingt und vielen Arbeitsvorhaben einen innovativen Anstrich verleiht. Allerdings ist interdisziplinäres Arbeiten leichter gesagt als getan! Vor allem ist oftmals eine wirklich gleichberechtigte Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen nicht möglich, weil sich die Hegemonie der Naturwissenschaften zumeist doch wieder durchsetzt. Das ist sicherlich nicht einzelnen Personen anzulasten, sondern vor allem kulturell und strukturell bedingt. Trotz einer aktuellen Wissenschaftslandschaft, in der mehr denn je eine ungleiche Ressourcenverteilung zu Lasten der Geistes- und Sozialwissenschaften existiert, wünsche ich mir für das Institut, dass es zu einer Kooperation der verschiedenen Disziplinen kommt, die produktiv für alle Beteiligten ist.
2. Stichwort "Ethik"
Mit diesem Stichwort wird der zentrale Arbeitsschwerpunkt des neuen Instituts benannt. Aus meiner Sicht geht es darum, die herrschenden Bioethik-Diskurse kritisch zu hinterfragen. Des Weiteren wünsche ich mir, dass neue, ganzheitliche Ethik-Konzepte entwickelt werden, in denen die Perspektiven von behinderten und kranken Menschen einen systematischen Platz haben.
Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle eine Warnung aussprechen. Ich hielte es für falsch, wenn an dem Institut tatsächlich nur traditionelle Ethik betrieben würde. Denn vielerorts wird die Frage nach den Auswirkungen der Biomedizin vorschnell auf die ethische Dimension verkürzt. Kulturelle, gesellschaftliche, politische und ökonomische Auswirkungen werden dagegen kaum thematisiert. Mit einiger Berechtigung kann man die Frage aufwerfen, ob nicht die "Ethisierung" der biomedizinischen Debatte die Funktion hat oder zumindest dazu beiträgt, andere brisante Fragestellungen von der Tagesordnung zu verdrängen. Deshalb wünsche ich mir für das Institut auch ein starkes sozial- und politikwissenschaftliches Standbein. Orientiert werden sollte sich nicht an einem abstrakt-theoretischen, sondern an einem sozialphilosophischen Ethikansatz. Beispielsweise kann man über die individuelle Selbstbestimmung behinderter Menschen sehr abgehoben reflektieren. Ihre Relevanz für den einzelnen und für die Gesellschaft wird man aber nur dann begreifen, wenn man die sozialen, materiellen und rechtlichen Rahmenbedingungen mit bedenkt, unter denen behinderte Menschen und ihre Angehörigen leben müssen.
3. Stichwort "Mensch"
Dieses Stichwort steht sicherlich nicht ohne Grund am Anfang des Institutsnamens. Was aber bedeutet es aus wissenschaftlicher Sicht, wenn "der Mensch" im Mittelpunkt steht? Schaut man sich die Institutsdokumente an, so wird eine klare weltanschauliche Positionierung erkennbar. Diese Wertorientierung provoziert natürlich zum Widerspruch. Vor allem in den Fachrichtungen, die sich am naturwissenschaftlichen Forschungsmodell ausrichten, gilt es als unwissenschaftlich, wenn eine normative Festlegung erfolgt. Der Wissenschaftler, die Wissenschaftlerin hat sich der eigenen Meinung zu enthalten, soll distanziert und kühl die Ursachen und Zusammenhänge von Phänomenen untersuchen und ist allein der Wahrheit, der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet – das ist das Credo, dem weiterhin viele Forschende anhängen. Dass dieser Ansatz nicht nur in der Biomedizin Ergebnisse gezeitigt hat, die unser Zusammenleben nachhaltig erschüttern, brauche ich sicherlich hier nicht näher auszuführen.
Festzuhalten ist, dass wissenschaftliche Arbeit ohne ein bestimmtes Selbstverständnis gar nicht möglich ist. Selbst die Wissenschaft, die vorgibt, rein empirisch, ohne "Ideologie" und "Voreingenommenheit" zu arbeiten, kommt nicht ohne ein Vorverständnis aus, ein Vor-Verständnis, mit dem notwendigerweise auch Vor-Urteile verbunden sind, beispielsweise darüber, was als wichtig und was als unwichtig gilt. Um ein reduziertes, unreflektiertes Menschenbild zu verhindern, halte ich eine begründete Wertorientierung, die in der Wissenschaft sonst nicht üblich sein mag, für sinnvoll und notwendig. Schließlich geht es dem neuen Institut ja um ein Kontrastprogramm zur, wenn man so will, "normalen" Wissenschaft. Es geht nämlich darum, nicht von der Maschine Mensch bzw. der Leistungsfähigkeit auszugehen, sondern im Gegenteil die Endlichkeit und Gebrechlichkeit der condition humaine, das "Leiden", das "beschädigte Leben" in den Blick zu nehmen. Allerdings, und das möchte ich an dieser Stelle auch thematisieren: Behinderte Menschen haben ja ihre ganz eigenen, historischen Erfahrungen mit Wissenschaft und Forschung. Eine wissenschaftliche Einrichtung, die behinderte Menschen in den Fokus ihrer Arbeit nimmt, muss diese besondere Beziehung mit bedenken. Dass es im IMEW darum gehen wird, die Forschung an behinderten Menschen einer fundierten Kritik zu unterziehen, versteht sich von selbst. Auch die Forschung über behinderte Menschen wird im Institut gewiss keinen Platz erhalten. Während Forschung für behinderte Menschen die Gefahr des fürsorglichen Paternalismus beinhaltet, wird die Forschungsarbeit mit behinderten Menschen sicherlich im Mittelpunkt stehen. Allerdings wünsche ich mir für das Institut einen Ansatz, der noch einen Schritt weitergeht und der als Forschung von behinderten Menschen zu kennzeichnen ist. Längst haben auch in Deutschland behinderte Frauen und Männer begonnen, ihre eigene Forschungspraxis zu entwickeln. Angeregt durch die angloamerikanischen Disability Studies ist auch hierzulande "Peer Research" entstanden: Behinderte Menschen forschen mit und für Behinderte. Ich würde mich freuen, wenn dieser Ansatz in der Institutsarbeit einen wichtigen Stellenwert erhalten würde.
Zusammenfassend erhoffe ich mir von dem Institut die Praxis einer kritischen, wert-orientierten und interdisziplinären Wissenschaft, die ihren Beitrag zur Verantwortungs- und Beziehungsethik leistet, in der behinderte Menschen nicht nur den Forschungsgegenstand bilden, sondern in der mit ihnen und von ihnen wissenschaftlich gearbeitet wird.
© Copyright Anne Waldschmidt
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