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Bischof Franz Kamphaus: Der Mensch hat nicht Wert, der Mensch hat Würde

Vortrag anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des "Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft" am 1. März 2002 in Berlin

Die wohl bekannteste Gestalt mit einer Behinderung entstammt einem Roman von Victor Hugo. Sie heißt Quasimodo. Deren Geschichte als Glöckner von Notre Dame ist inzwischen zweimal verfilmt worden. Es gibt sie als Hörspiel und - hier in Berlin - zur Zeit als Musical. Hören Sie, wie Victor Hugo (1833) die Reaktion auf das Findelkind beschreibt: "Es war ein eckiger, sehr beweglicher Klumpen, der in einem Sack steckte. Nur der Kopf schaute heraus ... ein missgestaltetes Ding. Man sah nur einen Wald fuchsroter Haare, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen Lust zum Beißen zu haben ... Die Menge, die sich beständig vergrößerte, staunte und entsetzte sich darüber ... Eine der Schaulustigen meinte: "Es ist ein wahres Ungeheuer von Scheußlichkeit, dieses sogenannte Findelkind"; eine andere ergänzte: "Ich glaube, es ist ein Tier, der Bastard eines Juden und einer Sau; irgendetwas Unchristliches ist es ganz gewiss" ... "Man müsste es ins Wasser oder ins Feuer werfen."

I.

Eines zeigt schon dieser erste Teil der Geschichte des Quasimodo: Das Überleben behinderter Menschen hängt entscheidend davon ab, wie die Gesellschaft sie wahrnimmt. Von je her gab es ihnen gegenüber Formen der Abgrenzung, die oft zur Ausgrenzung führten. [Als "Krüppel" und "Schwachsinnige" abgestempelt, hatten sie noch nie viel zu lachen. In der Antike waren griechische und römische Schönheitsideale maßgebend: perfekte Menschen mit perfekten Körpern. Sie wurden in der Kunst vor Augen geführt. Wer diesem Ideal nicht entsprach, war der Darstellung nicht würdig. Der große Plato forderte, verkrüppelte Kinder auszusetzen.] Es war ein langer Weg vom Tollhaus bis zur Werkstatt für Behinderte. Heute gibt es Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft und Verwaltung - wenn auch zu wenige -, es gibt Förderprogramme und finanzielle Vergünstigungen. Dennoch, allzu oft sind archaische und barbarische Vorstellungen nicht wirklich überwunden. Sie kommen ans Licht, wenn etwa - wie vor zwei Jahren - eine Fernseh-Moderatorin Behinderte als "hoffnungslos hässliche Menschen" und "menschliche Naturkatastrophen" bezeichnet. Das sind Zeichen einer Kulturkatastrophe, die ein Institut wie dieses herausfordern. Wir machen uns nichts vor: Wenn wir Menschen mit schweren Behinderungen sehen, weichen wir fast instinktiv aus. Die Irritation angesichts körperlich oder geistig behinderter Menschen ist tief in die Evolution des Lebendigen eingeschrieben, sie sitzt uns in den Knochen, und wird heute durch den Kult von Vitalität und Stärke gefördert. Niemandem ist ein Vorwurf daraus zu machen, dass er verunsichert ist und abwehrend reagiert, wenn er behinderten Menschen begegnet. Aber das ist keine Rechtfertigung, sondern eine Herausforderung: Wir haben lebenslang daran zu arbeiten, Behinderte in Freiheit und Liebe zu würdigen wie jeden anderen Menschen. Das gerade ist Ausdruck von Kultur. Viele sehen in körperlichen und geistigen Behinderungen im wesentlichen eine biologisch-medizinische Störung normaler Körperfunktionen. Das Normale ist der Maßstab des vollgültigen menschlichen Lebens. Normal gleich rundum funktionstüchtig! Wer das nicht bringt, ist behindert. So gesehen wird eine Behinderung fast automatisch zur "Minus-Variante des normalen" (A. Lob-Hüdepohl). Das Minus als Vorzeichen vor dem ganzen Leben - das kann doch nicht wahr sein. Statt behinderte Menschen immer nur in der Perspektive ihres Unvermögens zu sehen, gilt es die Augen zu öffnen für ihre Fähigkeiten. Wer Behinderung mit Leiden gleichsetzt, der übersieht viel Lebensfreude, viel Charakterstärke in der Art, wie Betroffene Einschränkungen ins eigene Leben integrieren. Im Atelier der Lebenshilfe Frankfurt arbeiten derzeit 18 geistig behinderte Maler und Bildhauer. Nicht ihre Behinderung weckt ihre Kreativität, sondern ihre Begabung. Selbstwertgefühl und Selbstverständnis beruhen doch nicht auf unseren Defiziten, sondern auf unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Hier soll nicht das Leben von und mit behinderten Menschen schön geredet werden. Es gibt unter ihnen Verzweifelte, die lieber tot sein möchten als dass sie leben. Sie können ihr Leben nicht annehmen, weil sie selbst von ihrer Umwelt nicht angenommen sind. Genau das macht ihre eigentliche Behinderung aus; genau das können wir ändern, wenn wir es ändern wollen. Nicht körperliche oder geistige Beeinträchtigungen als solche, sondern deren soziale Folgen, die Reaktion der Anderen lassen behinderte Menschen in erster Linie an ihrem Leben verzweifeln. Im Klartext: Behindert wird man nicht allein durch eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung, sondern durch eine behinderte Gesellschaft, die Fremdheitserfahrungen nicht verarbeitet oder sie als Bedrohung ihres Selbstwertes versteht. Ein betroffener Vater hat das vor kurzem in einem Leserbrief in "Die Zeit" so beschrieben: ["Vorweg: Ich kann gut verstehen, warum für viele Eltern Früherkennung in der Schwangerschaft so wichtig ist. Wer möchte schon, dass sein Kind mit einer Behinderung geboren wird? Vor drei Jahren kam meine Tochter Karolina auf die Welt - Karolina hat das Down-Syndrom. Schwerer Herzfehler, OP mit vier Monaten, Krankenhausaufenthalte, Infekte, Muskel-Hypotonie, geistige Behinderung - mit diesen Problemen mussten wir zunächst lernen umzugehen. Konfrontiert wurden wir auch mit den Reaktionen der Umwelt. Häufige Frage von Bekannten und Freunden: Konntet ihr das nicht verhindern? Ehrlich, ich weiß nicht, wie wir entschieden hätten, wäre uns der Befund vor der Geburt bekannt gewesen. Mit meinem heutigen Wissen würde ich mich klar gegen eine Abtreibung eines Kindes mit Trisomie 21 aussprechen.] Karolina, ein dreijähriges, glückliches Mädchen mit Down-Syndrom, meine Tochter: lieb, laut, lustig. Ihr kleines Leben ist nicht die Hölle - auch wenn es unwissende Zeitgenossen nicht glauben mögen. Die Hölle ist, wenn Ärzte in den Kliniken nicht in der Lage sind, geschockte Eltern eines neugeborenen behinderten Babys einfühlsam aufzuklären. Die Hölle ist, wenn die Menschen auf der Straße nur glotzen, sich nicht trauen zu fragen. Unwissenheit, Ignoranz und Intoleranz sind es, die ein Leben mit Behinderung zur Hölle machen können" (Ulf Rasch). Die Fähigkeit Behinderte anzunehmen, hängt wesentlich davon ab, wie wir mit unseren eigenen Behinderungen und Einschränkungen fertig werden. Wir sind eine Gesellschaft von Menschen, von denen keiner ganz schwach und keiner ganz stark ist, keiner nur behindert und keiner ganz unbehindert. Es kommt darauf an, dass wir uns mit unseren Stärken und Schwächen ergänzen, einer die Last des anderen trägt, mit der Schulter, die er gerade frei hat. "Was wir können und was wir nicht können, das alles gehört uns gemeinsam. Und für uns miteinander wirds schon reichen", sagt der evangelische Pfarrer Ulrich Bach, der seit dem 23. Lebensjahr an den Rollstuhl gebunden ist.

II.

Noch vor dreißig Jahren gab es kaum eine Möglichkeit, Behinderungen vor der Geburt festzustellen. Das hat sich heute durch neue Methoden der Früherkennung grundlegend geändert. Die Medizin verfügt über Möglichkeiten, Behinderungen im Mutterleib zu erkennen: Pränataldiagnostik. Zugleich erleben sich die Menschen heute immer mehr als autonome Subjekte: Was früher als Schicksal erlebt wurde, meint man heute selbst in die Hand nehmen zu können. Dem entspricht ein immer stärkerer Wille, die Natur, die Gesellschaft, nicht zuletzt sich selbst, den eigenen Körper und das eigene Leben zu gestalten. Aus dieser Sicht vollenden Genforschung und Gentechnik eine Entwicklung, die sich dadurch zuspitzt, dass der Gestaltungswille auf den Menschen selbst zielt. Darin liegt das Neue der gegenwärtigen Herausforderungen: Der Bereich elterlicher Verantwortung weitet sich in bislang unbekannter Weise. Zwischen Zeugung und Geburt eines Menschen schiebt sich mit den neuen Möglichkeiten eine Entscheidung mit zweischneidigen Folgen. Auf der einen Seite erhöhen sich die therapeutischen Chancen, zugleich aber wächst die Tendenz, auszuwählen zwischen solchen Menschen, die geboren werden und solchen, die vor der Geburt abgetrieben werden. Damit werden unter der Hand bestimmte Menschen per se zu einem unerwünschten Risiko. Die Entscheidung, dieses Risiko zu tragen, fällt nicht nur in den Verantwortungsbereich der Eltern; sie gerät im Ernstfall unversehens zu ihrer "Schuld". Wer in Zeiten vorgeburtlicher Diagnostik noch ein erbkrankes Kind zur Welt bringt, ist "selbst schuld"; er hat darum auch sämtliche Lasten und Kosten zu tragen und nicht andere zu behelligen. Zur Debatte stehen weniger analytische oder diagnostische Verfahren als solche, sondern mehr eine durch sie geförderte Einstellung des Menschen gegenüber dem Menschen. Es ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich, wie sich die pränatale Diagnostik entwickelt hat (bei der bevorstehenden Diskussion um PID wird daran zu erinnern sein). Ursprünglich sollte sich die genetische PD nur auf Personen mit dem begründeten Verdacht beziehen, erblich vorbelastet zu sein. Aber sie hat sehr schnell Sogwirkungen ausgelöst und bestimmte Erwartungshaltungen begünstigt. Je mehr vorgeburtliche Diagnosemöglichkeiten zur Verfügung standen, desto schneller wurde die PD zum regulären Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge. 1996 wurde eine zusätzliche Ultraschalluntersuchung in die Richtlinien der Mutterschaftsvorsorge aufgenommen, die ausschließlich auf den Nachweis von Fehlbildungen abzielt. Diese stürmische Entwicklung hat vor allem zwei Gründe: Zum einen hat die Rechtsprechung bei Ärzten und Ärztinnen die Angst vor Schadenersatzansprüchen verstärkt, zum anderen fühlen sich immer mehr Frauen durch die Gefahr eines Erbleidens bei ihrem Kind beunruhigt und erwarten von PD psychische Entlastung. Infolge des Ausbaus der PD stieg die Zahl jener Fälle, die sehr bezeichnend als "Risiko-Schwangerschaften" gelten. Deutschland erreicht dabei im internationalen Vergleich den höchsten Wert von 60 bis 70 Prozent aller Schwangerschaften. Gemäß dem Motto "gesund sein" heißt nur "schlecht untersucht sein", verwandelt sich schließlich jede Schwangerschaft in eine "Risiko-Schwangerschaft". Diese Einstufung hängt ja schon lange nicht mehr nur davon ab, wie intensiv und mit welchen Methoden nach einem Gen-Schaden gesucht wird; entscheidend ist, nach welchen Kriterien (von wem?) festgelegt wird, welche Eigenschaften unerwünscht sind. Über kurz oder lang werden weit über streng medizinische Maßstäbe hinaus immer öfter Trend-Vorstellungen bestimmen, wie ein "Wunschkind" auszusehen hat und welche Abweichungen von diesem Idealbild als noch erträglich empfunden werden. Schon jetzt ist die Auswahl des Geschlechts in einigen Ländern weit verbreitet. Berichte geistern durch die Illustrierten, nach denen man per Internet Samen oder Eizellen von besonders schönen oder besonders intelligenten Menschen kaufen kann.

Niemand sollte sich darüber hinwegtäuschen, dass im Ergebnis eben das geschieht, was den Nationalsozialisten bei ihrer eugenischen Politik vorschwebte, selbst wenn ihre rassistische Ideologie und ihre ästhetischen Vorbilder heute keine maßgebliche Rolle mehr spielen, geschweige denn staatlich verordnet sind. Im Grunde handelt es sich um eine zunehmend verfeinerte Qualitätskontrolle für Embryonen, die positiv ein möglichst perfektes "Designer-Baby" zu garantieren sucht, die negativ nach Ausschuss-Ware fahndet, die der Mühe und Kosten ihrer "Aufzucht" nicht wert ist. Ist es nicht verräterisch, dass von den Anfängen der Eugenik an das volkswirtschaftliche bzw. ökonomische Argument eine große Rolle spielte und noch immer spielt? Noch einmal: Wer kraft seiner eigenen und freien Entscheidung "Ausschuss produziert", hat auch alleine dafür gerade zu stehen. Er kann nicht auf die Solidarität anderer hoffen oder sie gar einfordern. PD verschärft somit die Gefahr, nicht nur nach den Schwächen zu fahnden, sondern nach den Schwachen, "unwertes" Leben zu "entsorgen". Faktisch wird die Solidargemeinschaft mit den betroffenen Eltern und Kinder aufgekündigt. Hier gilt es, auf der Hut zu sein. Der Umgang mit behinderten Menschen vor der Geburt ist ein Menetekel für den Umgang mit behinderten, schwachen und alten Menschen überhaupt. Wem eigentlich soll es einleuchten, dass die Gründe, die nach der Geburt für eine Benachteiligung vollmundig abgelehnt werden, vor der Geburt für eine Tötung sprechen? Dieser Mangel an Plausibilität spricht dafür, dass hinter dem Drängen auf vorgeburtliche Diagnostik als treibendes Motiv nicht nur eine "Ethik des Heilens" zu suchen ist; es steckt zumeist auch der Wunsch dahinter, selbst entscheiden zu können, ein krankes oder behindertes Kind zur Welt zu bringen oder nicht. In einer pluralen Gesellschaft sind nicht nur die gängigen Argumentationslinien zu analysieren, sondern auch die ihnen zugrunde liegende jeweilige Ethik. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe des Instituts. Wissenschaftler sprechen inzwischen von einem breit vertretenen "Selektionskonsens", der in den meisten Fällen mit schwerwiegendem Befund in einem Abbruch der Schwangerschaft endet. Im Zeitalter der pränatalen Diagnostik sind die meisten Frauen nicht mehr "guter Hoffnung", sondern voller Ängste. Vielfach gehen sie - so Psychologen - eine "Schwangerschaft auf Probe" ein, sie akzeptieren ihre Schwangerschaft erst nach einem gesunden Befund. Wünsche und Ängste entspringen nicht allein dem Innern betroffener Mütter und Väter, nicht nur persönlichen Konstellationen und familiären Verhältnissen. Sie werden gesellschaftlich konstruiert. Man spricht vom Zeitgeist. Er bestimmt wesentlich das Bild vom Wunschkind mit. Hier nicht zuletzt entsteht der Entscheidungsdruck, der auf einer "Risiko-Schwangerschaft" lastet. Die gegenwärtige Gesellschaft bietet kaum noch verbindliche Orientierungshilfen und bürdet vor allem den Frauen jene Entscheidungslast auf, die sie nach dem lautstark proklamierten "Tod Gottes" im Zeichen der Selbstbestimmung selbst zu schultern vorgibt. Noch ist Pränatale Diagnostik keine Pflicht. Sie darf nicht zur Routine werden. Es kommt darauf an, dass die betroffenen Frauen und Eltern zu einer eigenständigen, verantwortungsbewussten Entscheidung kommen: Wollen sie das Wissen über ihr Kind erweitern oder nicht? Sie haben ein Recht auf Nichtwissen, ein Recht darauf, ihr Kind ohne Untersuchung so anzunehmen, wie es zur Welt kommt. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz garantiert in § 2 einen Anspruch auf umfassende Beratung. Deshalb sollten im Mütterpass nicht nur die möglichen und verpflichtenden Untersuchungen eines Arztes notiert werden, es sollte dort auch eine Eintragung erfolgen, die auf die Möglichkeiten der Beratung durch unabhängige Beratungsstellen hinweist. [Was passiert jedoch, wenn die Untersuchung eine schwere Behinderung erkennen lässt? Für diesen Fall ist die Gesetzeslage völlig ungenügend. Früher bestand neben der medizinischen Aufklärung die Pflicht zur psychosozialen Beratung. Als die embryopatische Indikation 1995 als selbständiger Gesetzestatbestand aufgehoben wurde, entfiel diese Pflicht. Es blieb allein die medizinische Beratung. Die besondere Zuständigkeit der Ärztinnen und Ärzte steht außer Frage. Aber allein können sie den äußerst schwierigen Situationen nicht gerecht werden. Sie klären auf. Durch die Aufklärung geraten die Betroffenen in einen schweren Konflikt. Hier setzt die Aufgabe der psychosozialen Beratung ein. Sie dient dazu, Menschen emotional aufzufangen, eine konfliktive Situation zu klären, mögliche Konsequenzen zu erfassen und abzuwägen, um zu einer verantworteten Entscheidung zu kommen. Eine gute Beratung wächst in Kooperation mit Hilfsangeboten vor Ort, mit Selbsthilfegruppen oder entsprechenden Verbänden, mit anderen sozialen Einrichtungen. Es kommt darauf an, die Entscheidungs- und die Beratungslast auf mehrere Schultern zu verteilen. Die Erfahrungen des New-England-Medical-Centers, einer unabhängigen Stiftung in Boston, belegen eindrucksvoll, was eine umfassende, auf die besondere Konfliktsituation zugeschnittene Beratung bewirkt. Dort entschlossen sich viermal mehr Eltern als im internationalen Durchschnitt, eine "Risiko-Schwangerschaft" durchzutragen.] Gesellschaft und Staat können sehr viel tun, um das Zusammenleben mit Behinderten von Anfang an zu erleichtern. An der Bereitschaft, den Betroffenen auch finanziell beizustehen, zeigt sich, wie ernst der Schutz des Lebens wirklich genommen wird, wie weit das Mitgefühl reicht. Ob sich hinter dem Mitleid nicht allzu oft ein bloßes Selbstmitleid unserer Gesellschaft verbirgt, die sich vor zusätzlichen Belastungen schützen will? Wie also wäre es, wenn sich die Fürsorge der Gesellschaft zuerst einmal darauf konzentriert, die Lebensbedingungen betroffener Kinder und Eltern nachhaltig zu verbessern, anstatt solches Leben auszulöschen?

III.

Behinderte sind der Ernstfall, in dem sich die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu bewähren hat. Nicht wenige halten das Wort Menschenwürde für eine Leerformel, eine Art Joker, von den Kirchen mit Vorliebe eingesetzt, wenn ihnen keine sachlich überzeugenden Argumente mehr einfallen. In Wahrheit verhält es sich eher umgekehrt: Zur ideologischen Sprechblase verkommt die Berufung auf die menschliche Würde durch die Vernünftelei derer, die straffreie Sterbehilfe für Todkranke fordern statt bessere Palliativmedizin und mehr Hospize, die Abtreibung menschlicher finden als die Sorge für kranke und behinderte Kinder und ihre Eltern. Die Argumente klingen stets wohlmeinend, meist sprechen sie von unerträglichem Leid und Mitleid, von Freiheit und Fortschritt, manchmal offen von zu hohen Kosten und zu geringem wissenschaftlichem Nutzen. Immer aber wird die Würde eines Menschen verwechselt mit dem, was oft unbedacht als Wert oder Unwert eines Lebens bezeichnet wird. Der Mensch hat nicht Wert, der Mensch hat Würde. Das Wort "Wert" stammt vom Markt, aus der Ökonomie. Damit ist es nicht disqualifiziert, aber seine Aussagekraft ist eingeschränkt, wenn es um Unbezahlbares geht. "Was ist das wert?", fragen wir. Wir kennen Messwerte, Grenzwerte oder Wertpapiere. Sie unterliegen der Definition des Menschen, sie sind verhandelbar: Grenzwerte werden von Kommissionen festgelegt, Messwerte sind statistische Ergebnisse von Experimenten, Geldwerte unterliegen den Schwankungen von Wechselkursen. All das zeigt: Der Wert hängt von der Bewertungsgrundlage ab, ändert sich mit ihr und kann gegen Null gehen. Würde dagegen eignet einem Menschen als Menschen. Kant hat das klar formuliert: "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes ... gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist ... das hat eine Würde" (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 2, AA, S. 434). Die darf man nicht zu Markte tragen und darüber verhandeln. Die ist nicht austauschbar oder verfügbar. Sie ist nicht an Bedingungen geknüpft, sondern gilt unbedingt. Sie schützt davor, dass der Mensch Mittel zum Zweck wird. Das ist unter seiner Würde. Ich verfüge nicht über meine Würde, schon gar nicht über die Würde eines Anderen. Das ist eine Relativierung der Selbstbestimmung. Absolute Autonomie im Zeichen des Machens und Unantastbarkeit - das ist eine unheimliche Spannung, ein ungelöster Konflikt im Projekt Moderne. Wenn die Haltung des nicht antastenden Annehmens eines uns vorgegebenen und nicht zu machenden Menschenlebens verschwindet, werden wir keine Ethik der Würde mehr haben, sondern am Ende nur noch eine Ethik der Erfolgsinteressen, in welcher sich das von Gesundheitskonzernen stimulierte Bedürfnis nach Fitness zu einer neuen Religion verselbständigt. Im Handumdrehen trägt dann die Selektion die Maske der Selbstbestimmung, die Vernichtung von Menschen die Maske des Mitleids. Die Wissenschaften im neuzeitlichen Sinn schauen auf Teilbereiche der Wirklichkeit. Sie entwickeln Verfahren, um gewisse Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft zu entdecken. Sie können dadurch unser Verfügungswissen erweitern, aber keine Sinnaussagen machen. Sie sagen uns, was wir tun können; sie sagen uns nicht, was wir tun sollen. Der bewusst gesteuerte Wandel der "Gentechnik" zu "Lebenswissenschaften" soll genau das kaschieren. Dann tritt durch die neuen Biotechniken eine Welt der totalen Machbarkeit in den Blick. Unser Verfügungswissen vergrößert sich explosionsartig, aber unser Orientierungswissen hinkt hoffnungslos den potenzierten Handlungsmöglichkeiten hinterher. Der Versuch, vom evolutionären Denken her ein humanes Ethos zu begründen, bietet wenig Tröstliches. Kategorien wie Liebe und Erbarmen sind hier von vornherein ausgeschlossen. Schlüsselbegriffe des evolutionären Denkens sind Selektion, Kampf ums Überleben, Belohnung der Stärkeren. Was mit denen geschieht, die dabei zu kurz kommen oder auf der Strecke bleiben, findet letztlich keine Antwort. Der Mensch wird sich auf Dauer nicht damit begnügen, nur Fakten festzustellen oder herzustellen. Person ist etwas anderes als ein naturwissenschaftliches Objekt. "Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie" (Jürgen Habermas, Frankfurter Rede). "Mensch - Ethik - Wissenschaft", der Titel ist Programm, spannungsreich, einfach spannend. Ein Kontrapunkt zu der gängigen Trias Wissenschaft - Technik - Markt. Jürgen Habermas hat in seiner Frankfurter Rede den Begriff der Gottebenbildlichkeit in Erinnerung gebracht. Die "Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen ... etwas sagen kann." "Gott ist tot", ruft der "tolle Mensch" in Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft". Was aber ist, wenn Gott tot ist? Der Schrei "Wohin ist Gott?" findet bei Nietzsche ein Echo, das nachdenken lässt. Es lautet: "Wohin denn der Mensch?" Diese Frage stellt sich heute in aller Schärfe: Wohin geht der Mensch, wenn er sich von Gott verabschiedet hat. Geht er zum Teufel? Oder vor die Hunde? Er wird heute immer mehr sein eigenes Experiment. Alles wird technisch produzierbar, am Ende auch der produzierende Mensch. Er produziert sich selbst. Wer dem widerstehen will, wird wohl schließlich und endlich die Aufklärung in den Horizont des Gottesglaubens rücken und den Umkehrschluss zu Nietzsche riskieren müssen: Wer die Würde des Menschen wahren will, kann das, wenn es zum Schwure kommt, kaum anders, als wenn er in Erinnerung hält, was mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen ausgesagt ist.

Den Ausgang der Eingangsgeschichte will ich Ihnen zum Schluss nicht vorenthalten. Dem Glöckner von Notre Dame - von den Menschen wie ein Monster begafft - geschah nichts, obwohl das Feuer schon angezündet war. Ein junger Pfarrer, der abseits gestanden und alles mit angehörte hatte, trat vor und legte die Hand auf ihn. "Ich nehme dieses Kind an", sagte er gerade noch rechtzeitig. Er nahm es auf den Arm und trug es fort, taufte es dann und gab ihm den Namen zum Gedächtnis des Tages, an dem er es gefunden hatte: Quasimodo. ("Quasi modo geniti infantes"). Mit anderen Worten: Er ist ein Gotteskind. Der Pfarrer unterrichtete seinen Adoptivsohn selbst und machte ihn, zum Erzdechanten aufgestiegen, schließlich zum Glöckner von Notre Dame. Dort lebt der Verwachsene in einem Heiligtum von unendlicher Harmonie und hängt die Würde seines behinderten Lebens an die große Glocke.

Bischof Prof. Dr. Franz Kamphaus, Limburg

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