Empfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“
Eine Handreichung des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft
Inhalt
- Ethische und rechtliche Orientierungspunkte - Grundlagen und Konkretionen
- Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie
- Stammzellforschung
- Assistierte Reproduktionsmedizin
- Pränatale Diagnostik
- Präimplantationsdiagnostik
- Genetische Daten
- Diskurs und Partizipation
- Weitere Problemgebiete
Vorwort
Am 22. März 2000 beschloss der Deutsche Bundestag die Einrichtung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin". 13 Abgeordnete und 13 Sachverständige haben gut zwei Jahre lang gemäß dem Auftrag des Parlaments grundlegende ethische und rechtliche Fragen der Entwicklung und Anwendung der Biotechnologie und der modernen Medizin untersucht sowie für bevorstehende Entscheidungen des Bundestages Empfehlungen formuliert. Ihre Ergebnisse hat die Kommission in zwei Zwischenberichten und einem Abschlussbericht präsentiert. [ 1 ]
Die Empfehlungen der Enquete-Kommission richten sich nicht nur an den Bundestag, sondern auch an relevante Institutionen, wie zum Beispiel die Bundesärztekammer, sowie die breite Öffentlichkeit. Um die Fülle dieser Empfehlungen der Enquete-Kommission für die breitere Öffentlichkeit nutzbar zu machen, legt das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft hiermit eine Zusammenfassung der Kommissionsberichte vor. Die Gliederung der Zusammenfassung orientiert sich weitgehend an derjenigen der Kommissionsberichte. Sie konzentriert sich dabei allerdings auf die ethischen und rechtlichen Bewertungen, Stellungnahmen und Empfehlungen. Um die Zusammenfassung übersichtlich zu halten, bleiben die umfangreichen Darstellungen der medizinischen und rechtlichen Grundlagen unberücksichtigt.
Die Zusammenfassung hält sich zumeist sehr eng an den Wortlaut der Kommissionsberichte [ 2 ], Zitate werden daher nicht eigens gekennzeichnet. Um der besseren Lesbarkeit willen wurde durchgängig auf konjunktivische Formulierungen verzichtet. Es handelt sich nicht um eine Stellungnahme des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft.
Dr. Katrin Grüber
Februar 2003
1. Ethische und rechtliche Orientierungspunkte - Grundlagen und Konkretionen [ 3 ]
Die zwei ethischen Leitideen der Enquete-Kommission sind die der Menschenwürde und Menschenrechte. Die Kommission setzt sich kritisch mit Relativierungen und Ablehnungen des Menschenwürde-Konzeptes seitens einiger (Bio)Ethiker auseinander und erteilt Positionen eine deutliche Absage, die Grenzen zu ziehen versuchen zwischen Menschen, denen Menschenwürde zukomme, und solchen, für die das nicht gelte. Zu Menschenwürde und Menschenrechten bekennt sich die Kommission unmissverständlich als einem "unverzichtbaren Rahmen für die ethische und rechtsethische Auseinandersetzung mit den Fragen der modernen Medizin". Ebenso bekennt sie sich zu den aus der Idee der Menschenwürde abgeleiteten Menschenrechten, wie sie auch im deutschen Grundgesetz in Form der Grundrechte verankert sind.
Da die Kommission die Beschränkung des Menschenwürdeschutzes auf Menschen mit bestimmten Eigenschaften oder Leistungen ablehnt, befürwortet sie konsequenterweise auch den Menschenwürdeschutz für menschliche Embryonen. Zu der Frage, inwieweit sich aus dem Menschenwürdeschutz ein Lebensschutz für Embryonen ergibt, stellt die Kommission lediglich die unterschiedlichen Positionen dar, fällt jedoch kein abschließendes Urteil.
Die Enquete-Kommission leitet aus der Idee der Menschenwürde verschiedene Rechte ab, die sich vier grundlegenden Rechtsarten zuordnen und auf den Bereich der modernen Medizin anwenden lassen:
- Elementare Rechtsgleichheit: Nichteinwilligungsfähige Personen müssen denselben Rechtsstatus erhalten wie alle anderen Menschen auch. Niemand darf aufgrund seiner genetischen Ausstattung oder einer Behinderung diskriminiert werden.
- Persönliche Freiheits- und Integritätsrechte: Organ- oder Gewebeentnahme oder die Erhebung genetischer Daten bedeutet eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, es sei denn, der oder die Betroffene hat auf der Grundlage vorheriger Aufklärung frei und ohne Zwang oder Druck zugestimmt.
- Soziale Anspruchsrechte: Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht ausreichend für sich sorgen können, haben Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft.
- Politische Partizipationsrechte: Auch soziale Gruppen, die gesellschaftlich über weniger Einfluss und Ressourcen verfügen als andere, müssen Gelegenheit zur Teilnahme an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen in Fragen der modernen Biomedizin erhalten.
2. Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie [ 4 ]
Die Enquete-Kommission hält bei der Umsetzung der EU-Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (98/44/EG) die folgenden Kernpunkte für unverzichtbar:
- Beschränkung auf erfinderische Leistungen: Patente auf biotechnologische Erfindungen können sich nur auf die erfinderische Leistung erstrecken. Sie dürfen weder DNA-Sequenzen noch Lebewesen oder deren Teile noch andere in der Natur bereits vorhandene Phänomene umfassen. Das Stoffpatent ist kein adäquates Instrument zum Schutz geistigen Eigentums bei lebenden Systemen.
- Begrenzung auf belegbare Anwendungen / Funktionen: Die Belohnung der erfinderischen Tätigkeit muss angemessen sein und daher auf belegbare Anwendungen begrenzt sein. Die gewerbliche Anwendbarkeit einer Sequenz oder Teilsequenz eines Gens muss in der Anmeldung konkret, d.h. unter belegter Angabe der von der Sequenz erfüllten Funktion sowie der jeweils genutzten Bedeutung dieser Funktion beschrieben werden.
- Forschungsfreiheit: Was die mögliche Einengung der Forschung durch Patente angeht, so ist zu begrüßen, dass die Rechtslage in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Forschungsfreiheit geklärt worden ist. Das sollte jedoch bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht herausgestellt werden.
- Zwangslizensierung: Die Zwangslizensierung insbesondere im medizinischen Bereich muss erleichtert werden.
- Moralische Grenzen der Patentierbarkeit: Die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen ist durch den "ordre public" eingeschränkt. Solche Einschränkungen, insbesondere des Handels mit Körperteilen, sind zu konkretisieren und in den Gesetzestext mit aufzunehmen. Die Schutzbestimmungen des Embryonenschutzgesetzes und des Transplantationsgesetzes müssen im Gesetzestext als Patentierungsschranke verankert werden.
- Schutz des Persönlichkeitsrechts: Der Schutz des Persönlichkeitsrechts von Probanden oder von Menschen, von denen Ausgangsmaterial für eine biotechnologische Erfindung stammt, muss verbessert werden.
- Herkunft des Ausgangsmaterials: Die Herkunft des pflanzlichen und tierischen Ausgangsmaterials für biotechnologische Erfindungen muss bei einer Patentanmeldung angegeben und die Einhaltung des Biosafety-Protokolls muss sichergestellt werden.
- Transparenz von Gegenstand und Umfang einer Patentanmeldung: In der Überschrift einer Patentanmeldung sind Gegenstand und Umfang einer Patentanmeldung auch für die interessierte Öffentlichkeit deutlich zu machen.
- Keine Befristung für Rechtsmittel gegen erteilte Patente: Rechtsmittel gegen erteilte Patente wegen Verstoßes gegen den "ordre public" müssen unbefristet erhoben werden können.
Des Weiteren weist die Enquete-Kommission auf die grundsätzlichen Probleme der Biopatentierung hin, die sich aus dem besonderen Wesen des Lebendigen ergeben. Zum einen ist dies die Frage, was in der Biotechnologie als Erfindung gelten kann und was nur eine Entdeckung ist. Es wird davor gewarnt, die bloße Feststellung eines Gens samt seiner Funktion als Erfindung und damit als patentierbar zu verstehen. Ein anderes grundsätzliches Problem ist die Übertragung des Stoffpatentes auf Gene: Gene sind kein Stoffe im üblichen Sinn, sondern beinhalten Informationen, deren Bedeutung von ihrer Position innerhalb des Genoms und der Interaktion zwischen Zelle und Umwelt abhängt. Gene können eine Vielzahl von Funktionen haben, die bei ihrer Entdeckung noch nicht bekannt sind. Die Übertragung des Prinzips des Stoffpatents auf Gene hätte zur Folge, dass jede mögliche Funktion, die mit diesen Buchstaben codiert ist, mit patentierbar würde.
Die Enquete-Kommission bestreitet die Position der Bundesregierung, dass Deutschland vor einem Zwang zur Umsetzung der Richtlinie steht: Da abweichende Gesetzgebungen zur Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen den freien Warenverkehr nicht behindern würden, besteht keine Notwendigkeit zur Harmonisierung der diesbezüglichen Rechtsvorschriften. Dennoch hat die EU-Kommission als Rechtsgrundlage der Richtlinie fälschlicherweise eine Vorschrift zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften gewählt. Die an diese Vorschrift gebundene Notwendigkeit einer lediglich qualifizierten Mehrheit führte dazu, dass die Richtlinie gegen den Widerstand der Niederlande verabschiedet wurde. Die Enquete-Kommission geht davon aus, dass sich aus der Rechtslage kein Umsetzungszwang ergibt.
Minderheitsvotum
Nachdem die oben genannten Punkte gemeinsam beschlossen wurden, haben neun Kommissionsmitglieder im Nachhinein ein Minderheitsvotum abgegeben. Einerseits stimmen sie der Aussage zu, dass das geltende Patentrechtssystem für den Bereich der Biotechnologie in etlichen Punkten nicht ausgereift ist. Andererseits kritisieren sie die Stellungnahme der Kommissionsmehrheit, insofern sie Auswirkungen der Biopatent-Richtlinie einseitig negativ und darum verzerrt darstellt und ihre auch rechtsethisch zu begrüßenden Verbesserungen gegenüber dem früheren Rechtszustand völlig außer Betracht lässt:
- Begrenzung der Patentierbarkeit: Die Patentierung biotechnologischer Erfindungen, insbesondere die Erteilung von Stoffpatenten, wird gegenüber dem bisherigen Rechtszustand nicht erleichtert oder erweitert. Vielmehr konnte erst durch die Biopatent-Richtlinie die vorher mögliche Erteilung von "strategischen und Globalpatenten" für biologische Substanzen international eingedämmt werden.
- Ethische Grenzen: Die Richtlinie stellt einen ersten Erfolg dabei dar, europaweit ethische Grenzen für die Patentierung biotechnologischer Erfindungen zu definieren, soweit diese den Menschen betreffen.
- Ökonomische Bedeutung: Die Stellungnahme erweckt den unzutreffenden Eindruck, die Patentierung biotechnologischer Erfindungen liege vorwiegend im Interesse weltweit operierender Pharma-Konzerne. Sie übersieht dabei, dass junge innovatorische Startup-Unternehmen ohne Patente nicht die geringsten Entwicklungschancen haben.
- Gesellschaftlicher Fortschritt durch Veröffentlichung biotechnologischer Erfindungen: Die Stellungnahme der Mehrheit verkennt das vitale gesellschaftliche Interesse an der durch das Patentrecht erzwungenen Veröffentlichung biotechnologischer Erfindungen, die auf diese Weise rasch zum Stand der Technik werden und weitere Forschung anregen, aber auch gesellschaftlich kontrolliert und kritisiert werden können.
- Überzogene rechtliche Vorkehrungen: Die Stellungnahme verlangt vom Patentrecht überzogene rechtliche Vorkehrungen.
- Einseitige Argumentation: Die Argumentation zu den EU-rechtlichen Rahmenbedingungen und der daraus folgenden Pflicht zur nationalstaatlichen Umsetzung ist bar jeder Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Argumenten.
3. Stammzellforschung [ 5 ]
Die Gewinnung und Nutzung embryonaler Stammzellen aus sog. "überzähligen" Embryonen
Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Herstellung von Embryonen zu anderen Zwecken als dem der Schwangerschaft und ganz allgemein die fremdnützige Verwendung des in vitro erzeugten Embryos. Daher ist die Nutzung sog. "überzähliger" Embryonen zur Stammzellentnahme verboten. Die Mitglieder der Enquete-Kommission nehmen unterschiedliche Positionen bezüglich des moralischen Status von Embryonen ein. Dennoch sprechen sich alle dagegen aus, durch Änderung des Schutzstandards des Embryonenschutzgesetzes die Gewinnung von Stammzelllinien aus sog. "überzähligen" Embryonen freizugeben. Für diejenigen, die keine grundsätzlichen ethischen Einwände gegen die Nutzung "überzähliger" Embryonen vorbringen, sprechen zumindest der fehlende gesellschaftliche Konsens über diese ethische Problematik sowie die offenen Fragen nach Geeignetheit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der in Frage stehenden Verfahren gegen die Freigabe.
"Therapeutisches" Klonen
Die Erzeugung eines Kerntransfer-Embryos widerspricht dem Embryonenschutzgesetz, unabhängig davon, ob sie mit der Intention der Stammzellentnahme oder der Reproduktion vorgenommen wird. Für die Positionen, die dem menschlichen Embryo von Anfang an Menschenwürde und Lebensrecht zusprechen, ist das "therapeutische" Klonen als eine Form fremdnütziger Verwendung eine ethisch nicht akzeptable Verletzung der Menschenwürde. Für die Vertreter der Positionen, die von einer abgestuften Schutzwürdigkeit ausgehen, sind die Erzeugung und Nutzung von Kerntransfer-Embryonen zwar ethisch rechtfertigungsfähig. Für viele Vertreter dieser Position werden aber die Kriterien der Verhältnismäßigkeit, der Geeignetheit und der Notwendigkeit nicht erfüllt, weshalb sie die Erlaubnis des "therapeutischen" Klonens ablehnen.
Die Enquete-Kommission empfiehlt, eine gesetzliche Klarstellung des Embryonenschutzgesetzes im Sinne des Bestimmtheitsgebotes vorzunehmen, so dass alle Varianten des Klonens von menschlichen Embryonen eindeutig verboten sind.
Import von embryonalen Stammzellen
Zur Frage des Imports embryonaler Stammzellen gibt es in der Enquete-Kommission zwei Argumentationslinien. Beide Positionen stimmen darüber ein, dass die erforderlichen Regelungen gleichermaßen für den öffentlichen wie den privaten Sektor gelten müssen. Sie sollten deshalb auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden.
- Argumentation A: Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder spricht sich gegen den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen aus. Sie ist der Meinung, dass der Bundestag und die Bundesregierung alle Möglichkeiten ausschöpfen sollten, um den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen zu verhindern. Sie hält die Verwendung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken, auch wenn diese im Ausland stattfindet, ethisch für nicht vertretbar und wissenschaftlich für nicht ausreichend begründet.
- Argumentation B: Der Minderheit der Kommission erscheint es zweifelhaft, ob ein vollständiges Verbot des Imports von im Ausland gewonnen embryonalen Stammzellen verfassungs- und europarechtlich begründet werden kann. Der Import von menschlichen embryonalen Stammzellen ist daher unter engen Voraussetzungen zu tolerieren. Dazu gehört die Beschränkung des Imports auf den derzeit bereits vorhandenen, aus kryokonservierten sog. "überzähligen" Embryonen gewonnenen embryonalen Stammzelllinien.
4. Assistierte Reproduktionsmedizin [ 6 ]
Eine der Hauptaufgaben der Enquete-Kommission war die Bewertung der Präimplantationsdiagnostik (PID). Da diese die In-vitro-Fertilisation (IvF) zur Voraussetzung hat, unterzieht der Kommissionsbericht auch das Thema der assistierten Reproduktion einer eingehenden Untersuchung. Ebenso beleuchtet und bewertet er die Erfahrungen mit pränataler Diagnostik (PND) im Hinblick auf die PID.
Empfehlungen an den Gesetzgeber
Die Enquete-Kommission empfiehlt dem Bundestag, in einem Gesetz die Anwendung der Technologie der assistierten Reproduktion umfassend zu regeln ("Fortpflanzungsmedizingesetz"). Dies betrifft insbesondere folgende Aspekte:
- Dokumentation und Qualitätssicherung: Dazu gehören die verpflichtende Einführung eines unabhängigen IvF-Registers, das die Dokumentation aller durchgeführten IvF-Behandlungen durchführt; eine jährliche Dokumentations- und Meldepflicht über die Kryokonservierung von Gameten, Vorkernstadien und Embryonen; die Regelung der Dokumentationspflichten im Hinblick auf die Beratung und Durchführung der Behandlung; die Regelung der Qualitätssicherung und der Einführung neuer Verfahren und Methoden.
- Heterologe Samenspende: Die zivilrechtlichen Folgen im Zusammenhang mit der assistierten Reproduktion und mit der heterologen Samenspende sollten geregelt werden. Dabei sollte das Kindeswohl Vorrang haben. Maßnahmen zur Verschleierung der Identität des Vaters müssen unterbunden werden. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber weiterhin entscheiden, ob unverheirateten und lesbischen Paaren sowie allein stehenden Frauen der Zugang zur heterologen Insemination eröffnet werden soll.
- Umgang mit Vorkernstadien: Die Pronukleusspende sollte explizit ausgeschlossen werden, denn die Verwendung von befruchteten Eizellen im Vorkernstadium für Zwecke der Embryonenforschung käme einer Herstellung von Embryonen für Forschungszwecke gleich. Die Lagerungsdauer bereits bestehender kryokonservierter Vorkernstadien sollte befristet werden. In Verbindung damit ist zu regeln, was nach Ablauf der Befristung mit den Vorkernstadien geschehen soll.
- Umgang mit sog. überzähligen Embryonen: Der Gesetzgeber muss eine Entscheidung darüber treffen, was mit Embryonen und Vorkernstadien geschehen soll, die bei einer IvF ungeplant übrig geblieben sind. Die Verwendung des Begriffs "überzählig" sollte im Gesetz vermieden werden. Die Richtung der zu treffenden Entscheidung bestimmt die Kommission nicht.
Empfehlungen für Forschungsvorhaben
Des Weiteren empfiehlt die Kommission, bestimmte Forschungsbereiche zu intensivieren und auszuweiten:
- Die Erforschung von Alternativen zum Entstehen kryokonservierter Vorkernstadien. Denn die Kryokonservierung von Vorkernstadien wirft ähnliche Probleme auf wie die Kryokonservierung von Embryonen.
- Die Forschung über potenzielle Langzeitfolgen von IvF/ICSI sollte fortgesetzt werden: ein systematisches und langfristiges Monitoring bei Frauen und Kindern.
- Die Forschung über die Folgen des Scheiterns von IvF/ICSI bei betroffenen Paaren.
- Ausreichend vorhergehende Studien an Tieren zur Verbesserung und Neuentwicklung von Methoden der assistierten Reproduktion. Hintergrund ist hier die Erkenntnis, dass der Einführung von IvF und ICSI zu wenige Forschungen über Wirkungs- und Schädigungspotenziale vorausgegangen sind.
Offene Fragen
Eine Reihe von Fragen konnte die Kommission nur aufwerfen, nicht jedoch abschließend klären. Dazu gehören:
- Die Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen der assistierten Reproduktion: Das betrifft 1. die Einführung einer psychosozialen Beratung, bei der strittig ist, ob sie den Charakter eines Angebots oder einer Zugangsvoraussetzung haben sollte; 2. die Frage, ob die Kriterien für die Kostenübernahme seitens der gesetzlichen Krankenversicherungen restriktiver gefasst werden sollten.
- Maßnahmen zur Senkung der Mehrlingsschwangerschaften nach IvF: Möglichkeiten: 1. gesetzliche Beschränkung des Transfers auf zwei Embryonen, 2. Klärung der Eignung oder möglicher Schädigungspotenziale der Blastozystenkultur.
- Die Einrichtung einer Bundesbehörde zur Überwachung und Qualitätssicherung in IvF-Zentren sowie in den Labors.
- Die Frage der Zulässigkeit von Eizellspenden für nicht-reproduktive Zwecke. Gegen gezielte Eizellspenden für nicht-reproduktive Zwecke sprechen die invasiven, fremdnützigen Eingriffe, die für die Frauen mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko verbunden sind. Die Verwendung von "überzähligen" Eizellen aus IvF-Behandlungen könnte unter bestimmten Bedingungen ermöglicht werden (wie u.a. die informierte und freiwillige Zustimmung der Frau).
- Die Erforschung von verschiedenen Bewältigungsstrategien und Umgangsformen mit unfreiwilliger Kinderlosigkeit. Die Kommission hält neben der IvF verschiedene Wege für gangbar: medizinische Interventionen (z. B. naturheilkundliche Verfahren), psychotherapeutische Beratungskonzepte, Erhebungen zu den "Erfolgsraten" des "Abwartens" und Vertrauens auf spontane Schwangerschaft, Verzicht auf Kinderwunsch und die Entwicklung anderer Lösungen wie z. B. Adoption.
Jenseits der Empfehlungen und Überlegungen zu gesetzlich-administrativen Änderungen spricht sich die Kommission dafür aus, den Diskurs mit Bürgern und Bürgerinnen über die ethischen Fragen der Reproduktionstechnologien zu stärken.
5. Pränatale Diagnostik [ 7 ]
Auf der Grundlage ihrer Untersuchung der Gründe für die massive Ausbreitung der Pränataldiagnostik (PND) in den letzten drei Jahrzehnten kommt die Enquete-Kommission zu folgenden Empfehlungen:
- Bedingungen für die Anwendung von PND: Für alle Maßnahmen im Bereich der PND sind bestimmte Voraussetzungen sicherzustellen: 1. Methoden der Risikospezifizierung müssen aus der regulären Schwangerschaftsvorsorge herausgenommen und lediglich als Einzelfallangebot bereitgehalten werden; 2. die selbstbestimmte und informierte Entscheidung der Frauen bzw. der Paare durch eine rechtzeitige und umfassende Aufklärung und Beratung vor jeder pränataldiagnostischen Maßnahme, die der Suche nach Fehlern dient; 3. ein ausreichendes medizinisch-humangenetisches und psychosoziales Beratungsangebot, das über mögliche Konsequenzen des Befundes informiert.
- Überprüfung der Rahmenbedingungen: Hinsichtlich der Rahmenbedingungen für das Angebot der PND ist 1. den Organen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen eine Überarbeitung ihrer Richtlinien im Sinne einer Beschränkung der PND zu empfehlen; 2. dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen sowie dem Koordinierungsausschuss der Selbstverwaltungsparteien im Gesundheitswesen die Befassung mit der Praxis der PND hinsichtlich einer Überversorgung zu empfehlen.
- Änderung des gesellschaftlichen Klimas: Schließlich können einige politische Maßnahmen zur Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas beitragen, das Eltern ermöglicht oder erleichtert, auch Kinder mit Behinderungen zur Welt zu bringen. Diese Maßnahmen müssten von unterschiedlichen Institutionen wahrgenommen und durchgeführt werden:
- Überarbeitung der Mutterschaftsrichtlinien, Aufnahme eines klärenden Hinweises auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Betreuung einer Schwangeren
- Ausweitung der PatientInneninformation seitens der gesetzlichen Krankenversicherungen gerade in diesem Bereich
- die Schaffung qualifizierter Beratungskonzepte sowie deren Implementierung in die Schwangerenvorsorge
- Initiierung einer breiten Informationskampagne über die Rechte der Patientinnen, die Bedingungen der Schwangerschaftsvorsorge sowie die mit PND verbundenen Risiken durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- eine gesetzliche Regelung der so genannten Spätabtreibung
- verstärkte Forschung über therapeutische Interventionen bei Symptomen oder Syndromen, aufgrund derer es nach einer PND am häufigsten zu einem Schwangerschaftsabbruch kommt
- der Bundestag sollte gesetzlich regeln, dass Ärzte und Ärztinnen für die Existenz eines Kindes und die Folgekosten dann nicht haften, wenn die Geburt eines Kindes nicht durch einen Schwangerschaftsabbruch verhindert wurde und wenn sie pränataldiagnostische Tests, die mit keinem präventiven oder therapeutischen Nutzen für das ungeborene Kind verbunden sind, der Schwangeren nicht von sich aus angeboten oder nicht auf solche Tests hingewiesen haben
- Schaffung eines finanziellen Ausgleichs durch eine Versicherungslösung, eine Fondslösung oder durch Verbesserung der öffentlichen Leistungen, damit Eltern unterstützt werden, sich für die Geburt eines kranken oder behinderten Kindes zu entscheiden.
Präimplantationsdiagnostik [ 8 ]
Die PID erfährt durch die Enquete-Kommission eine skeptische Beurteilung.
- Keine Pflicht des Gesetzgebers: Aus dem verständlichen Wunsch nach einem genetisch eigenen, möglichst gesunden bzw. nicht behinderten Kind folgt nicht notwendigerweise eine Pflicht des Gesetzgebers, Methoden wie die PID zuzulassen, um diesen individuellen Wunsch zu erfüllen. Ebenso wenig lässt sich aus dem Recht auf Selbstbestimmung über die eigene Fortpflanzung (Art. 2, Abs. 1 GG) ein Anspruch gegenüber dem Gesetzgeber ableiten, alle medizinisch-technischen Mittel zur Erfüllung des Wunsches nach einem genetisch eigenen, möglichst gesunden bzw. nicht behinderten Kind bereitzustellen oder deren Bereitstellung zuzulassen.
- Vergleich PID/PND: Eine bessere Alternative zur PND stellt die PID nicht dar, da sie durch die IvF eine relativ hohe Belastung der Frau und eine relativ hohe Rate iatrogener Schädigungen des Kindes infolge von Mehrlingsschwangerschaften mit sich bringt.
- Ethische Gründe: Die Pflicht zur Gewährleistung des Schutzes des Embryos lässt sich nicht anhand der Art der Zeugung (natürlich oder in vitro) begründet unterscheiden. Da zum Zeitpunkt der PID keine Schwangerschaft besteht, können die Rechte der Frau auf Wahrung ihrer körperlichen Integrität und Achtung ihrer Selbstbestimmung nicht als Argument gegen die Einschränkung des Schutzes des menschlichen Embryos herangezogen werden. Der Auftrag zur Durchführung der PID widerspricht den Zielen des ärztlichen Behandlungsauftrages.
- Epistemologische Gründe: Die Antizipation möglicher Wünsche eines möglicherweise gegen seinen Willen geborenen Kindes übersteigt die Kompetenz der Ärztin bzw. des Arztes wie auch der möglichen Eltern, auf deren Wunsch die Ärztin bzw. der Arzt handeln könnte.
- Fehlende Begrenzbarkeit: Die Etablierung der PID birgt die Gefahr einer unkontrollierten Ausweitung ihres Einsatzes.
- Gesellschaftliche Folgen: Aus dem Angebot der PID sind eine Reihe negativer gesellschaftlicher Folgen zu erwarten: die unrealistische Erwartungshaltung einer "Garantie auf ein gesundes Kind"; die Entstehung gesellschaftlichen Drucks besonders auf "Risikopaare", die Geburt eines behinderten Kindes zu verhindern; die Entstehung zusätzlicher Nachfrage nach PID durch die vermehrten Hinweise der Ärzte, die die Haftung für die Geburt eines behinderten Kindes fürchten; die Verstärkung stigmatisierender, ausgrenzender und diskriminierender Tendenzen in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranken.
Aufgrund dieser Bewertung kommt die Enquete-Kommission zu Empfehlungen im Umgang mit PID. In diesem Punkt fanden die Mitglieder allerdings nicht zu einem Konsens. Die Empfehlungen sind daher in ein Mehrheits- und ein Minderheitsvotum unterteilt. Die Mehrheit lehnt die PID ab.
Minderheitsvotum
Die Kommissionsminderheit, bestehend aus drei Mitgliedern, kommt zu dem Schluss, die PID für Hilfe suchende Paare mit einem nachweislich hohen genetischen Risiko unter bestimmten Bedingungen zulassen zu wollen. Sie stellt sich hinter die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde, betont aber, dass ein Eingriff in das Lebensrecht nicht einen Eingriff in die Menschenwürde bedeuten muss. Sie betont ebenfalls, dass die Konfliktlage vor der Implantation eines Embryos nicht identisch mit einem Schwangerschaftskonflikt ist, die Schwere des Konflikts jedoch vergleichbar ist. Menschen in einer hochgradigen Konfliktlage sollten nicht durch zusätzlichen Druck belastet werden. Dem Gesetzgeber steht es nicht zu, darüber zu urteilen, ob der Verzicht auf leibliche Elternschaft als schwere oder geringfügige Belastung anzusehen ist. Hinsichtlich der Rechtslagen in anderen Ländern weist sie darauf hin, dass diese zwar nicht übernommen werden müssen, aber die Gefahr bestehe, dass die hiesige Rechtsordnung unterlaufen wird und Rechtsordnung und Rechtswirklichkeit auseinander fallen. Die Sorge, dass PID zu negativen gesellschaftlichen Tendenzen im Umgang mit behinderten Menschen führt, hält sie für plausibel, aber nicht empirisch belegt.
Die rechtliche Regelung stellt sich die Kommissionsminderheit ähnlich der des Schwangerschaftsabbruchs vor: ein grundsätzliches strafrechtliches Verbot, bei dem in bestimmten Fällen auf die Durchsetzung des Strafanspruchs verzichtet wird. Diese Fälle sind folgendermaßen zu bestimmen:
- Voraussetzungen: PID kann nur in verlässlich feststellbaren und besonders schwerwiegenden Fällen straflos bleiben. Zur Ermittlung solcher Fallkonstellationen kommen zwei Optionen in Frage: 1. die Aufstellung eines Katalogs von gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen zusammen mit der Feststellung einer konkreten sozialen Notlage; 2. statt eines Katalogs eine möglichst präzise formulierte Generalklausel in Verbindung mit einem Beratungs- und Prüfungsverfahren. In jedem Fall muss die Indikation für die Anwendung einer PID eng auf Fälle begrenzt werden, in denen es ohne PID mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch käme.
- Beratung: Vor einer PID müssen eine humangenetische und psychosoziale Beratung in jedem Einzelfall unabhängig von der die PID durchführenden Einrichtung erfolgen. Dabei sind sämtliche, weniger problematischen Alternativen zu einer PID abzuklären.
- Lizenzierung: PID kann nur in dafür lizenzierten Zentren durchgeführt werden. Die Erlaubnis ist zeitlich befristet, an bestimmte Qualitätskriterien gebunden und mit einer Dokumentationspflicht verbunden.
- Begrenzung der Durchführung: Die Durchführung der PID sollte auf die Erzeugung von drei Embryonen pro Zyklus und insgesamt maximal drei Zyklen begrenzt werden.
- Überwachung: Die Praxis der PID ist zu überwachen.
Mehrheitsvotum
Die Kommissionsmehrheit ist der Auffassung, dass die PID nicht mit der in der Menschenwürde begründeten Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos vereinbar ist. Der Staat hat das Recht und die Pflicht, bereits die Erzeugung menschlicher Embryonen in vitro zu verhindern, wenn dies unter dem Vorbehalt geschieht, sie gegebenenfalls nicht für die Herbeiführung einer Schwangerschaft zu verwenden. Die Selektion vor Implantation in den Uterus der Frau ist grundlegend zu unterscheiden von der Situation bei einer bereits vorliegenden Schwangerschaft. Zwischen der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und dem Verbot der PID besteht kein Wertungswiderspruch. Das gilt auch für den Vergleich mit der "Schwangerschaft auf Probe" nach PND, denn diese stellt eine missbräuchliche Ausnutzung einer Gesetzeslage dar. Der Vergleich der abzuwägenden Grundrechte sowie die grundgesetzliche Verpflichtung, bei Konflikten zwischen unterschiedlichen Grundrechtspositionen nach einem möglichst schonenden Ausgleich zu suchen, bedeutet im konkreten Fall, dass dem Embryonenschutz Vorrang einzuräumen ist. Die PID birgt die Gefahr, die Individualisierung der Verantwortung für behinderte Kinder - vor allem der Frauen - zu verstärken und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und ihren Eltern zu befördern. Ebenso zu berücksichtigen sind die geringen Erfolgsraten der PID mit IvF, eine nicht unerhebliche Zahl von Fehldiagnosen und eine erhöhte Rate von Mehrlingsschwangerschaften. Neben diesen ethischen, gesellschaftspolitischen und technisch-medizinischen Problemen der PID sind auch die Vorschläge zu ihrer Begrenzung unbrauchbar: Der Versuch der Beschränkung durch eine Generalklausel scheitert an der fehlenden klaren Eingrenzung und der weitgehenden Unklarheit des Begriffs der "schwerwiegenden Krankheit". Ein verbindlicher Indikationenkatalog würde zu einer Stigmatisierung bestimmter Krankheitsbilder führen. Eine Ausdehnung der PID-Praxis auf eine allgemeine Screening-Methode im Rahmen der IvF lässt sich nur durch ein völliges Verbot der PID verhindern. Zudem könnte die Entstehung "überzähliger" Embryonen den Weg zu einer verbrauchenden und fremdnützigen Embryonenforschung ebnen.
7. Genetische Daten [ 9 ]
Auf der Grundlage einer ausführlichen Erfassung des Sachstands und des Diskussionsstandes sowie einer Analyse des Regelungsbedarfs, der Regelungsmöglichkeiten und Regelungsvorschläge kommt die Enquete-Kommission zu einer Reihe von Bewertungen und Empfehlungen zum Umgang mit genetischen Daten. Sie empfiehlt dem Bundestag, genetische Untersuchungen am Menschen durch ein umfassendes Gendiagnostik-Gesetz zu regeln, das sich an bestimmten Leitlinien orientiert:
- Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Sicherstellung des Rechtes des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung im Bereich der Gendiagnostik. Dazu gehören sowohl das Recht, die eigenen genetischen Befunde zu kennen (Recht auf Wissen), als auch das Recht, die eigenen genetischen Befunde nicht zu kennen (Recht auf Nichtwissen). Die Durchführung von ausschließlich dem Wohl Dritter dienenden Gentests an nichteinwilligungsfähigen Personen sollten gesetzlich untersagt werden. Ebenso untersagt werden sollten genetische Untersuchungen an Minderjährigen, sofern sie nicht in diesem Lebensabschnitt notwendig sind, um therapeutische oder präventive Konsequenzen ziehen zu können. Die Verletzung des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs durch heimliche Gentests sollten unter Strafe gestellt werden.
- Verhinderung von Stigmatisierung und Diskriminierung: Einer Stigmatisierung oder Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer genetischen Ausstattung sollte entgegengewirkt werden. Geeignete Maßnahmen dazu können sein: eine Ergänzung des Artikels 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes um den Begriff der "genetischen Merkmale" und ein effektives Diskriminierungsverbot auf einfachgesetzlicher Ebene. Vor der Stigmatisierung müssen insbesondere auch diejenigen Menschen geschützt werden, die genetische Untersuchungsmethoden - aus welchen Gründen auch immer - nicht in Anspruch nehmen.
- Gentests in der Versicherungswirtschaft: Durch eine gesetzliche Regelung sollte es Versicherungsunternehmen im Normalfall untersagt sein, die Ergebnisse prädikativer Gentests zu verlangen, anzunehmen oder zu verwerten.
- Genetische Risiken am Arbeitsplatz: Unternehmen sollten dazu verpflichtet werden, alle Vorkehrungen zu treffen, die genetische Risiken und Schädigungen am Arbeitsplatz ausschließen.
- Gentests bei Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern: Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sollte im Rahmen einer gesetzlichen Regelung untersagt werden, im Zusammenhang mit Einstellungsuntersuchungen oder während der Dauer eines Beschäftigungsverhältnisses von Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern die Durchführung eines molekulargenetischen oder zytogenetischen Tests zu verlangen oder nach früher durchgeführten Gentests zu fragen. Darüber hinaus wird empfohlen, Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern gesetzlich zu verbieten, im Zusammenhang von Einstellungsuntersuchungen bzw. während eines Beschäftigungsverhältnisses einer Arbeitgeberin oder einem Arbeitgeber die Ergebnisse eines früher durchgeführten Gentests mitzuteilen.
- Genetische Reihenuntersuchungen: Der Bundestag sollte die Durchführung von genetischen Reihenuntersuchungen gesetzlich regeln. Voraussetzungen für ihre Zulässigkeit sollten sein: die Freiwilligkeit der Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme, die Leistung eines erkennbaren Beitrages zum gesundheitlichen Wohlergehen der getesteten Person durch die Eröffnung präventiver und/oder therapeutischer Möglichkeiten, die angemessene Information und Aufklärung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darüber hinaus wird empfohlen, die Durchführung von Gruppenuntersuchungen zur Identifikation von heterozygoten Anlageträgern und Anlageträgerinnen sowie Angebote, bei denen gleichzeitig auf mehrere Merkmale getestet werden soll, gesetzlich zu untersagen.
- Arztvorbehalt: Der Bundestag sollte pränatale Gentests sowie Gentests, die medizinischen Zwecken dienen und Gentests, von deren Ergebnis eine mögliche Gefahr für die betroffene Person ausgehen kann, unter einen gesetzlichen Arztvorbehalt stellen.
- Sicherstellung der freien, informierten Entscheidung: Der Bundestag sollte die veranlassende Ärztin bzw. den Arzt gesetzlich verpflichten, vor jedem prädiktiven, pränatalen oder der Familienplanung dienenden genetischen Test die Bedingungen für eine freie informierte Entscheidung sicherzustellen.
- Beratungsangebot: Der Bundestag sollte dafür Sorge tragen, dass die Etablierung eines flächendeckenden, wohnortnahen, niedrigschwelligen, umfassenden und qualitativ hoch stehenden Angebots an humangenetischer und psychosozialer Beratung in Deutschland rechtlich und finanziell sicher gestellt wird.
- Gentests ohne medizinischen Nutzen: Der Bundestag sollte durch geeignete Maßnahmen dazu beitragen, dass genetische Testangebote, die mit keinem präventiven oder therapeutischen Nutzen für die getestete Person verbunden sind, aus der Regelfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen werden.
- Zulassung von Gentests: Der Bundestag sollte die Zulassung von Gentests und die Durchführung von zytogenetischen und molekulargenetischen Untersuchungen gesetzlich regeln. Besonders hohe Anforderungen müssen dabei an die Zulassung von DNA-Chips gestellt werden. Dabei ist insbesondere vorzusehen, dass mit Hilfe von DNA-Chips nur diejenigen genetischen Veränderungen untersucht werden dürfen, die für ein spezifisches Krankheitsbild und dessen Behandlung von Bedeutung sind. Bei DNA-Chips mit der Möglichkeit der Erfassung mehrerer Krankheitsbilder müssen die Anforderungen im Hinblick auf Information, Aufklärung, Beratung und Datenschutz wie bei Einzeltests für jedes einzelne Krankheitsbild erfüllt sein.
- Datenschutzrechtliche Regelung: Der Bundestag sollte den Umgang mit genetischen Daten in einer eigenständigen datenschutzrechtlichen Regelung normieren, die eine missbräuchliche Verwendung genetischer Daten verhindert.
- Chipkarten: Sollten Patientinnen- und Patienten-Chipkarten eingeführt werden, wird dem Bundestag empfohlen, Art und Umfang der Speicherung insbesondere genetischer Daten im Detail zu regeln, um Missbrauch zu verhindern.
- Gendiagnostik-Kommission: Der Bundestag sollte eine zentrale Gendiagnostik-Kommission einberufen. Ihre Mitglieder sollten sich aus Vertreterinnen und Vertretern der entsprechenden wissenschaftlichen Fachrichtungen zusammensetzen. Ihre Aufgabe läge u.a. in der Entwicklung verbindlicher Standards für die Zulassung von Gentests und in der Entwicklung von Maßstäben für Reihenuntersuchungen.
Gesellschaftlicher Diskurs
Der Bundestag sollte geeignete Maßnahmen ergreifen, um den gesellschaftlichen Diskurs über die mit der Anwendung genetischer Diagnoseverfahren verbundenen ethischen, sozialen und kulturellen Fragen zu fördern. Ein wichtiges Ziel dieses Diskussionsprozesses sollte in der Zurückweisung der Vorstellung eines "genetischen Determinismus" und der Sensibilisierung für die mit einer möglichen "Genetifizierung" der Medizin und des Menschenbildes verbundenen Probleme bestehen.
8. Diskurs und Partizipation [ 10 ]
Die Enquete-Kommission erkennt angesichts der neuen Herausforderungen, vor die die Entwicklungen der modernen Medizin Politik und Gesellschaft stellen, einen besonders hohen Bedarf an gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen und intensiver Beratung der institutionalisierten Politik. Daher empfiehlt sie dem Bundestag, sich einzusetzen für:
- Öffentliche Diskussion: Die demokratische öffentliche Diskussion über die ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen der modernen Medizin sollte gefördert werden. Insbesondere öffentliche Diskussionsverfahren, die auf der aktiven Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern basieren, sollen gefördert und unterstützt werden.
- Rechtsgrundlage von Gremien der Politikberatung: Sowohl ständige als auch zeitweise eingesetzte Gremien der Politikberatung zu den ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen der modernen Medizin auf nationaler wie auf Landesebene müssen eine für alle Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare Rechtsgrundlage erhalten. Dieser Rechtsgrundlage sollte eine wohl überlegte Konzeption in Bezug auf Aufgaben und Zwecke der Gremien zugrunde liegen, so dass sie nicht auf widersprüchlichen oder unklaren Zwecksetzungen beruhen. Die Rechtsgrundlage muss insbesondere die Pflicht zur Herstellung von Transparenz in Bezug auf Arbeitsweise, Struktur und Zusammensetzung der Gremien enthalten.
- Partizipation der Öffentlichkeit: Diesen Gremien der Politikberatung muss die rechtliche Möglichkeit gegeben werden, ihre Arbeit jederzeit öffentlich zu machen. Ihnen müssen die rechtliche Möglichkeit und der Auftrag gegeben werden, die Öffentlichkeit in geeigneter und insbesondere auch dialogischer Form einzubeziehen. Alle Gremien der Politikberatung sowie auch die durch Verfassungsorgane geförderten Modelle und Institutionen, Bürgerdialoge oder -konferenzen sollten ihre Arbeit in angemessener Weise öffentlich machen. Bei der Beteiligung der Öffentlichkeit muss darauf geachtet werden, dass auch weniger einflussreiche und ressourcenstarke Gruppen Stimme und Gehör erhalten. Es ist darauf zu achten, dass diese Gremien multidisziplinär und ausgewogen zusammengesetzt sind und die Dominanz eines Geschlechts, einer Berufsgruppe, Fachrichtung oder Weltanschauung vermieden wird.
- Demokratische Legitimation: Das Parlament muss bei der Besetzung von nationalen Gremien der Politikberatung beteiligt werden, sofern deren Auftrag über die Beratung von Regierungsorganen hinausgeht und z. B. die Vertretung der Bundesrepublik in internationalen Organisationen oder die Förderung der öffentlichen Diskussion einschließt. Diese Gremien sollten beim Parlament oder beim Bundespräsidenten angesiedelt sein. Die Gremien müssen dabei ihre Ergebnisse nachvollziehbar begründen, auf Gegenargumente eingehen und gegebenenfalls den Dissens offen legen. Fragen, die alle Bürgerinnen und Bürger grundlegend betreffen, dürfen weder formell noch informell von Instanzen entschieden werden, die dazu verfassungsgemäß nicht legitimiert sind.
9. Weitere Problemgebiete [ 11 ]
Die Enquete-Kommission konnte in der kurzen Zeit ihres Bestehens nicht sämtliche ihr aufgegebenen Themen ausführlich behandeln und abschließend beraten. So ist eine Reihe von Desideraten zurückgeblieben, für die in naher Zukunft eine weitere Enquete-Kommission eingesetzt werden sollte. Dazu gehören vor allem:
Allokation
Die Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen gehört zu einer der zentralen ethischen Fragen der modernen Medizin und der gegenwärtigen Gesundheitspolitik. Die Lage entsteht durch die innovationsorientierte, hochleistungsfähige Medizin und wird verschärft durch Verminderungen auf der Einnahmeseite aufgrund sozialer und ökonomischer Entwicklungen. Spezieller Handlungsbedarf entsteht zudem im Pflegebereich.
Die Zuteilung von Gesundheitsleistungen hängt von bestimmten Wertungen und Einschätzungen ab, die letztlich in einem Menschenbild und einem bestimmten Verständnis von Gesundheit und Krankheit gründen. Die Diskussion über das Verständnis von Gesundheit und Krankheit sollte für die Allokationsproblematik fruchtbar gemacht werden.
Um den Herausforderungen an die gesundheitliche Versorgung gerecht zu werden, sollten die medizinischen Verfahren einer umfassenden Technikfolgenabschätzung unterzogen werden. Diese darf nicht nur die kurzfristigen Folgen untersuchen, sondern muss ebenso die langfristigen Folgen sowie die ethische und rechtliche Dimension einbeziehen.
Ebenso wirft die Allokationsproblematik die Frage nach der Strukturierung des Gesundheitssystems auf, insbesondere im Hinblick auf die Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung.
Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen
Auch hinsichtlich der Zulässigkeit medizinischer Forschung, insbesondere bei nichteinwilligungsfähigen Menschen, gibt es zahlreiche offene ethische und politische Fragen, deren intensive Behandlung durch den Bundestag die Enquete-Kommission für notwendig erachtet. Das sind:
- Gestaltung der Informationsvermittlung im Rahmen des informed consent
- Definition der Begriffe "nichteinwilligungsfähig" und "einwilligungsfähig"
- das Konzept der Nutzen-Risiko-Abwägung und die Grenzen seiner Anwendung
- Rahmenregelungen für Ethikkommissionen
- Zulässigkeit der fremdnützigen medizinischen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen
- Zulässigkeit fremdnütziger klinischer Prüfungen von Arzneimitteln durch eine Klarstellung zum Arzneimittelgesetz.
Sterbebegleitung und Sterbehilfe
Auch die intensive Bearbeitung der Themen Sterbebegleitung und Sterbehilfe hält die Enquete-Kommission für notwendig. Dabei sind besonders folgende Problemfelder zu behandeln:
- Verbesserung der Sterbesituation in den Krankenhäusern und Heimen durch strukturelle Maßnahmen
- Maßnahmen zum Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung
- Verbesserung der ambulanten Pflege in der letzten Phase des Lebens
- Verbesserung der Zusammenarbeit der stationären und ambulanten Dienste
- Verbesserungen der familiären und ehrenamtlichen Hilfen
- weiterer Ausbau der Hospizarbeit
- Klarstellung zum Betreuungsgesetz, wonach eine vormundschaftsgerichtliche Entscheidung zur Behandlungsbegrenzung nur mit strenger Begrenzung auf Sterbende, dem Bestehen einer Vertrauensbeziehung zwischen Betreuter bzw. Betreutem und Betreuerin bzw. Betreuer und dem Vorliegen eines eindeutigen Willens der bzw. des Betreuten erfolgen sollte.
Die Enquete-Kommission sieht keinen Bedarf für eine gesetzliche Regelung zur Unterlassung oder zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen oder für eine Gesetzesänderung in den Bereichen ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen. Wohl sieht sie den Bedarf an einer verstärkten kritischen parlamentarischen und öffentlichen Diskussion.
Transplantationsmedizin
Der Bereich der Transplantationsmedizin ist 1997 durch das Transplantationsgesetz geregelt worden. Im Mittelpunkt einer erneuten Beschäftigung mit diesem Thema müssten die Fragen stehen, inwieweit sich die gesetzliche Regelung angesichts der medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bewährt hat und welche nicht beabsichtigten Folgen durch die gesetzliche Regelung möglicherweise eingetreten sind. Die Regelung der Transplantationsmedizin verdient besondere Aufmerksamkeit, weil der Gesetzgeber hier anhand eines konkreten Beispiels die Wirkung von Gesetzgebung vor dem Hintergrund eines ethischen Dissenses überprüfen kann.
Arzt-Patient-Verhältnis
Das Arzt-Patient-Verhältnis, dem für die Entwicklung der modernen Medizin eine Schlüsselrolle zukommt, unterliegt gravierenden Veränderungen. Sie betreffen unterschiedliche Ebenen und Aspekte: den Grad der Patientenbeteiligung, die Tendenz zu einer Arbeitsteilung durch die Spezialisierung der Medizin, das Rollenverständnis der Ärzte und Ärztinnen hin zu einer Dienstleistungsorientierung, die Verrechtlichung des Arzt-Patient-Verhältnisses, die Ökonomisierung der Medizin und eine marktwirtschaftliche Betrachtung des Arzt-Patient-Verhältnisses, neue Herausforderungen für das Arzt-Patient-Verhältnis durch neue Behandlungsverfahren am Anfang und Ende des Lebens sowie die Entwicklung genetischer Tests, die Veränderung der Patientenautonomie insbesondere in der Psychiatrie. Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, die auch politisch bedeutsam sind, z. B.:
- Wie können die ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt bzw. Ärztin und Patient bzw. Patientin nicht ausgehöhlt wird?
- Welche Konsequenzen ergeben sich aus der demographischen Entwicklung für das Arzt-Patient-Verhältnis im Hinblick auf chronisch kranke und speziell demente Menschen, z. B. in Heimen?
- Wie kann die medizinische Ausbildung so verbessert werden, dass die kommunikative Kompetenz von Ärztinnen und Ärzten im Umgang mit den Patientinnen und Patienten gestärkt wird?
- Muss und gegebenenfalls wie kann die ärztliche Beziehung zu Menschen mit Behinderung "entmedikalisiert" werden?
- Wie sollen Patientenverfügungen, Betreuungs- und Vorsorgevollmachten ausgestaltet werden, damit sie eine vertrauensfördernde Rolle spielen können?
- Wie ist die Partizipation der Patientinnen und Patienten am Gesundheitssystem zu verbessern?
- Website der Enquete-Kommission
URL: http://www.bundestag.de/gremien/medi/index.htm
Schlussbericht der Enquete-Kommission
URL: http://dip.bundestag.de/btd/14/090/1409020.pdf
Zwischenbericht zum Thema "Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie"
URL: http://dip.bundestag.de/btd/14/051/1405157.pdf
Zwischenbericht zur Stammzellforschung
URL: http://www.bundestag.de/gremien/medi/2zwischen.pdf - Eine Ausnahme stellt das erste Kapitel "Ethische und rechtliche Orientierungspunkte - Grundlagen und Konsequenzen" dar, das in höherem Maße ein Extrakt aus den Ausführungen des Schlussberichtes der Enquete-Kommission darstellt.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel B im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Zwischenbericht zum Thema "Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie".
- Dieses Kapitel entspricht dem Zwischenbericht zum Thema Stammzellforschung.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel C 1.2.7 im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel C 1.3.5 im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel C 1.4.5 im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel C 2.4 im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel D 2 im Schlussbericht.
- Dieses Kapitel entspricht dem Kapitel E im Schlussbericht.
Impressum
Herausgegeben vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), 2003.
Autor: Roland Kipke
V.i.S.d.P.: Katrin Grüber
Die Printversion dieser Handreichung ist kostenlos erhältlich beim IMEW, Warschauer Straße 58A, 10243 Berlin, Tel.: 0049 (0)30-293817-70, Fax: 0049 (0)30-293817-80, E-Mail: info@imew.de
Das IMEW wird gefördert durch die Aktion Mensch.
Die Deutsche Bibliothek hat die Netzpublikation IMEW Handreichung zu den Empfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar.