zum Seiteninhalt springen

Diskriminierungsfreier Zugang zu Gesundheitsleistungen – was muss sich in der Gesundheitsversorgung ändern?

Barbara Stötzer-Manderscheid

Impuls-Vortrag zum gleichnamigen Workshop auf der Fachtagung "Die Verankerung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen – den Prozess mitgestalten" am 25.06.2009 in Berlin

Inhalt:
1. In welchen Bereichen werden wir noch diskriminiert?
2. Was muss sich ändern?
3. Welche Lösungsansätze gibt es?

Vorweg

Gesetzliche Grundlagen vor der UN-BRK:

Laut § 2a, SGB V, ist den besonderen Belangen behinderter und chronisch Kranker Rechnung zu tragen.

Nur ein bedarfsgerechtes Hilfsmittel in guter Qualität „beugt“ – wie § 33 SGB V (1) fordert – „einer drohenden Behinderung vor oder gleicht sie aus“. Daher haben Versicherte lt. SGB V auch „Anspruch auf Versorgung mit … Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind.“

Ein tragendes Element des SGB IX ist das Wunsch- und Wahlrecht. Nach § 9 „wird bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe den berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen.“
Auch die Leistungserbringung und der Leistungsumfang zur medizinischen Rehabilitation sind im SGB IX, § 26 umfassend beschrieben.

§ 17 Abs. 1 SGB I verpflichtet die Sozialleistungsträger – so auch die Krankenkassen – darauf hinzuwirken, dass Berechtigte ihnen zustehende Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhalten und das diese in barrierefreien Räumen ausgeführt werden.

Mit dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) hat die Bundesregierung 2002 den Begriff der Barrierefreiheit an zentraler Stelle definiert. „Barrierefrei sind alle von Menschen gestalteten Lebensbereiche, z.B. Bauten, Verkehrsmittel, Systeme der Informationsverarbeitung und Kommunikationseinrichtungen, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“

1. In welchen Bereichen werden wir dennoch diskriminiert ?

Der ambulante und stationäre medizinische Bereich ist immer noch völlig unzureichend auf die Versorgung von Menschen mit Behinderungen eingestellt. Konkret heißt das:
Bei der Zugänglichkeit, Nutzbarkeit, Auffindbarkeit, bei Information und Kommunikation in Arztpraxen, physiotherapeutischen und psychologischen Praxen, Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen etc. stoßen behinderte Menschen noch immer auf eine Vielzahl von Barrieren. Ob es fehlende Rampen, Fahrstühle, Toiletten für RollstuhlbenutzerInnen oder höhenverstellbare Liegen sind, ob Leitsysteme und Beschriftungen in Großschrift für Sehbehinderte nicht vorhanden sind, ob Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Hör- und Sprachbehinderungen sich nur unzureichend verständigen können oder für sie brauchbare Informationen erhalten, ob physische oder psychische Besonderheiten bei langen Wartezeiten oder in engen Wartebereichen keine Beachtung finden oder ob das Wissen und die Akzeptanz zu behinderungsbedingten Besonderheiten und Situationen fehlt – es sind Hindernisse, die die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen erschweren oder unmöglich machen. Diese Hindernisse äußern sich u.a. in:
• massiven Einschränkungen der freien Wahl von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Leistungserbringern,
• der Nichtinanspruchnahme von medizinischen (Vorsorge-) Untersuchungen und Therapien,
• unkontrollierter Selbstmedikation oder
• der Inkaufnahme von Verschlechterungen bestehender Erkrankungen.
• Untersuchungen werden nicht in der üblichen Art und Weise durchgeführt oder
• es gibt Verständnisprobleme zu Sachverhalten oder Anordnungen.

Daraus können dann z.B.
• verfälschte Untersuchungsergebnisse
• falsche Behandlungen
• Unter-, Überversorgung und/oder
• Notsituationen entstehen oder es kommt sogar zu vermeidbaren
• Todesfällen.

Erhebliche Zugangsbarrieren (Entfernung, bauliche Barrieren, Ausstattung etc.) gibt es besonders noch in der fachärztlichen Versorgung. Vielfach benannt von Rollstuhlbenutzerinnen und Frauen mit Kommunikationsschwierigkeiten wurde beispielsweise der gynäkologische Bereich. Ob es sich um Routine- und Vorsorgeuntersuchungen, Schwangerschaft oder Nachsorge handelt - durch die schlechte oder nichtvorhandene Zugänglichkeit und Nutzbarkeit – vor allem der Praxen – sowie Kommunikationsbarrieren, verzichten viele schwerbehinderte Frauen auf regelmäßige Untersuchungen oder nehmen erschwerende Prozeduren auf sich.

In Krankenhäusern ist die fach- und sachgerechte Pflege bei schwerbehinderten PatientInnen meist nicht gewährleistet. Assistenz im Krankenhaus wirft immer noch Probleme auf, die auch das zu erwartende Pflege/Assistenzgesetz nicht ausreichend lösen wird.

Nach stationären Aufenthalten gibt es – auch durch die Fallpauschalen - erhebliche Probleme mit der ambulanten Nachsorge. Das betrifft besonders Menschen mit schweren Behinderungen in bestehenden Pflegesituationen, alte Menschen mit multimorbiden Einschränkungen und Menschen, die infolge einer Akuterkrankung, z.B. Schlaganfall, Pflege- und Unterstützungsbedarf haben.

2. Was muss sich ändern?

Um die Rechte von Menschen mit Behinderungen entsprechend der UN-BRK zu wahren, brauchen wir eine umfassende Neuorientierung des deutschen Gesundheitssystems unter Beteiligung der Betroffenen und ihrer Verbände.
Die ganzheitliche medizinische Regelversorgung muss entsprechend den individuellen Bedarfen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen aller Schweregrade ausgebaut werden.

Zugang
• Barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Praxen, Apotheken, Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen.

• Mobilität, um die Gesundheitsdienstleister - die eine regional sehr unterschiedliche Niederlassungsdichte aufweisen - überhaupt aufzusuchen. D.h. zuerst, barrierefrei zugänglicher ÖPNV - ergänzt durch spezielle Behindertenfahrdienste für den Personenkreis, der aus regionalen oder behinderungsbedingten Gründen den ÖPNV nicht nutzen kann.

• Zugang heißt aber auch, über ausreichende Finanzen zu verfügen, die den erhöhten Aufwand für die notwendige Gesundheitsversorgung, Mobilität sowie persönliche Assistenz u.a. Dienstleistungen einschließen.

Finanzielle Barrieren sind nicht ausschließlich auf behinderte
Menschen zu beziehen, dennoch haben viele von ihnen geringe
Arbeitseinkommen oder Renten (Verarmung im Osten größer als
im Westen). Auch die Pflege- oder Assistenzleistungen decken oft
nicht den Hilfe- und behinderungsbedingten Mehrbedarf ab, was
zu Abhängigkeiten von Sozialleistungen führt und von der Nutzung
gesundheitsfördernder Angebote, aber auch notwendiger
Therapien und Hilfsmittel infolge von Zu- und Aufzahlungen oder
Gesamtkosten ausschließt. Auch wegen der Praxisgebühr gehen
Menschen nicht zum Arzt.

• Zugang zu Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention (Behinderung bei Präventionsangeboten mitdenken und barrierefrei gestalten, Leistungserbringung auch zu Präventionszwecken)

• Zugang zu medizinischer Rehabilitation – auch schwerwiegende Behinderungen, Pflegestufen II und III, hoher Assistenzbedarf sowie nicht heilbare Erkrankungen dürfen kein Hindernis der Leistungsgewährung sein.

• Strukturelle Barrieren – z.B. müssen Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe medizinischen Behandlungen informiert zustimmen oder diese auch ablehnen können.

• Zeitbarrieren – für Menschen mit schweren Behinderungen ist meist ein höherer Zeitaufwand aufgrund von behinderungsbedingten oder Nutzungsbarrieren erforderlich. Wird dieser Mehraufwand nicht ausreichend honoriert, werden die Untersuchungen oder Behandlungen nicht in der üblichen Art und Weise durchgeführt, Anordnungen und Hinweise nicht verstanden u.ä.

Verordnungsverhalten/Leistungsgewährung

• Bedarfsgerechte und individuell stimmige Arzneimittelversorgung,
• Bedarfsgerechte und nachhaltige Heil- und Hilfsmittelversorgung. (Der Bedarfsgerechtigkeit stehen in der Praxis oftmals vorgegebene Richtgrößen für die Arznei- und Heilmittelversorgung entgegegen).

Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel beeinflussen besonders bei chronisch kranken und behinderten Menschen, die darauf angewiesen sind, ganz entscheidend ihre Lebensqualität. Daher müssen diese auch immer individuell den Bedürfnissen, Lebensumständen und behinderungsbedingten Besonderheiten der jeweiligen Person angepasst sein.
Gegenwärtig nehmen wir eine Verschlechterung der Grundversorgung durch Abstriche am medizinisch Notwendigen wahr.

Heil- und Hilfsmittel müssen dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 (1) SGB V entsprechen, aber auch den qualitativen Anforderungen nach § 2 SGB V. „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“.
Aber der Teufel liegt bekanntlich im Detail, sprich den weiteren Festlegungen und Einschränkungen des § 33 SGB V. So wurde z.B. die Festbetragsregelung auf der Grundlage von vertraglich vereinbarten Preisen mit Leistungserbringern forciert (§ 33 (7) SGB V). Danach trägt die Krankenkasse lt. Ausschreibungsverpflichtung nach dem GKV-WSG nur noch die Kosten in Höhe des niedrigsten Preises, der für eine vergleichbare Leistung mit anderen Leistungserbringern vereinbart wurde. Versicherte können die Leistungserbringer nicht frei wählen, sondern sind auf diejenigen angewiesen, die Versorgungsverträge mit ihrer Krankenkasse abgeschlossen haben.

Das Wunsch- und Wahlrecht wird ausgehebelt und die Nachhaltigkeit der Versorgung spielt eine oft untergeordnete Rolle, was sich besonders krass in der Handhabung der Inkontinenzversorgung seit 2008 widerspiegelt.

Diese ausschließlich kostenorientierte Art der medizinischen Versorgung widerspricht allen Vorgaben der Behindertenrechtskonvention zum Leistungsumfang sowie der möglichst gemeindenahen Leistungserbringung und hat erhebliche Einschnitte der Lebensqualität, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe zur Folge.

Wenn auch nicht in jedem Fall zeitnah - mittel- und langfristig wird sich der Sparzwang, den z.B. das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz den Krankenkassen vorschreibt - nachteilig auf die Gesundheit und Lebensqualität der Versicherten auswirken und zu hohen Folgekosten führen. Eine qualitativ hochwertige Hilfsmittelversorgung hat ihren Preis, eine minderwertige aber auch!

3. Welche Lösungsansätze gibt es?

• UN-BRK als behindertenpolitische Zielstellung – u.a. mit dem Rechtsanspruch auf umfassende gesellschaftliche Teilhabe und Gesundheitsversorgung – definieren und ein breites Problembewusstsein bei Entscheidungsträgern und Akteuren fördern und fordern

• Zeitplan zur Umsetzung der BRK erstellen

• Gesetze, die die Gesundheitsversorgung regeln und beeinflussen, überprüfen, inwieweit sie mit der BRK konform sind und ein verlässliches System für die medizinische Versorgung aller Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung aufbauen.

Änderung § 127 SGB V, Ausschreibung und Verträge zur Hilfsmittel-Versorgung; Widerherstellung des Wunsch- und Wahlrechts Betroffener

• Gesetzesänderungen und Transparenz auf allen politischen Ebenen einfordern und flächendeckend umsetzen

Z.B. Landesbauordnungen dahingehend ändern, dass Barrierefreiheit ein Bestandteil von Baugenehmigungen öffentlicher Gebäude ist – ob mit oder Förderung.

Barrierefreiheit als Teil des Qualitätsmanagements med. Einrichtungen festlegen – Hersteller von Medizintechnik einbeziehen

• Sanktionen bei Nichtbeachtung bestehender Gesetze (auf UN-BRK ausgerichtet) festlegen

• Selbsthilfe behinderter Menschen im Sinne der UN-BRK stärken und in sie betreffende maßgebliche Entscheidungen einbeziehen

• Thematik „Menschen mit Behinderungen“ als Bestandteil der Aus- und Fortbildung von MedizinerInnen und med. Personal

• Gesetzeslücke bzgl. der Schnittstelle ambulant/stationär schließen und Entlassungsmanagement der Krankenhäuser verbessern

Seitenanfang


© 2008 | IMEW - Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft
www.imew.de