Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
IMEW konkret Nr. 11, März 2008
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Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde im Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Dem ging ein mehrjähriger Prozess voran, in dem sich die Vereinten Nationen mit dem Thema Behinderung beschäftigten (vgl. Degener 2006; Weiß 2006). Die Konvention wurde im März 2007 von Deutschland unterzeichnet. Der nächste Schritt ist die Umsetzung in nationales Recht.
Die Konvention fordert einen Paradigmenwechsel von einer Politik der Fürsorge zu einer Politik der Menschenrechte (Degener 2006). Sie befreit behinderte Menschen von ihrer "gesellschaftlichen Unsichtbarkeit" (OHCHR). Sie steht in der Tradition anderer "Gruppenkonventionen" wie der Frauen- und der Kinderrechtskonvention. Wie diese enthält sie keine "Sonderrechte" für behinderte Menschen; sie konkretisiert und präzisiert lediglich den allgemeinen Menschenrechtsschutz für die besonderen Gefährdungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind (Schmahl 2007). Genau darin liegt das große Innovationspotenzial der Konvention (Bielefeldt 2006).
Teilhabe und Autonomie
Die Leitprinzipien der Konvention sind die volle gesellschaftliche Teilhabe (inclusion) verbunden mit der Achtung der Autonomie und der sozialen Wertschätzung behinderter Menschen. Menschen, die intensivere Unterstützung benötigen, werden explizit einbezogen. Damit verbunden ist eine bemerkenswerte Verknüpfung von Freiheitsrechten als Abwehrrechte gegen staatliche und andere Eingriffe in die persönliche Freiheit mit sozialen Rechten als Anspruchsrechte auf soziale Dienste und Leistungen.
So umfasst z.B. das Recht auf gleiche Anerkennung als rechtsfähige Person nicht nur den Schutz vor Willkür und Ungleichbehandlung vor dem Gesetz, sondern auch die notwendige Unterstützung und Assistenz, die behinderte Menschen brauchen, um ihre Rechte auch wirklich ausüben zu können (Art. 12; Art. 13). Denn letzteres ist nur möglich, wenn beide Rechtsansprüche verbunden werden. Einbezogen sind dabei auch alle, die nach deutschem Recht bisher als nicht geschäftsfähig gelten. Für die Umsetzung hat dies weitreichende Folgen: Das bestehende Konzept der rechtlichen Vertretung im deutschen Recht müsste ersetzt werden durch ein Konzept rechtlicher Assistenz und Unterstützung, das institutionell und finanziell abgesichert ist (Lachwitz 2007; Krause-Trapp 2007). Außerdem dürfte eine Zwangsbehandlung und -unterbringung bei einer psychischen Störung nur als ultimo ratio richterlich angeordnet werden, wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung nicht anders abgewandt werden kann und wirklich alle freiwilligen Hilfs- und Unterstützungsmöglichen ausgeschöpft worden sind (Kaleck u.a. 2007).
Für Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und gleichberechtigte Teilhabe ist das Recht auf einen "angemessenen Lebensstandard" (Art. 28) wesentlich, das damit deutlich über das "soziokulturelle Minimum" im deutschen Sozialrecht hinausgeht. Ferner gehört dazu die Verpflichtung zur Beseitigung von allen Barrieren, die den gleichberechtigten Zugang "zur physischen Umgebung, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation" (Art. 9) behindern.
Stigmatisierung und Diskriminierung
Definitionen von Behinderung sind meist stigmatisierend. Die Konvention verzichtet auf eine abschließende Definition und betont, dass sich der Begriff Behinderung ständig weiterentwickelt. Ihr liegt damit das soziale Modell zu Grunde, welches Behinderung auf gesellschaftliche Barrieren und fehlende Unterstützung zurückführt. Es ersetzt das medizinische Modell, das sich wie die deutsche sozialrechtliche Definition auf individuelle Funktionsbeeinträchtigungen stützt. Als behinderte Menschen im Sinne der Konvention gelten daher alle, die auf Grund von Wechselwirkungen zwischen individuellen Schädigungen und "verschiedenen Barrieren" an der vollen gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden (Art. 1). Der "Defizit-Ansatz" im Verständnis von Behinderung wird damit konsequent durch einen "Diversity-Ansatz" ersetzt: Während die individuelle Besonderheit jedes Menschen Wertschätzung verdient, sind die sozialen Bedingungen als das eigentliche Problem anzusehen.
Bemerkenswert ist außerdem der gesellschaftliche Bewusstseinswandel (awareness raising), den die Konvention fordert: Die Unterzeichnerstaaten werden zur Förderung des Bewusstseins für die Rechte und Würde behinderter Menschen und für ihre soziale Wertschätzung (Art. 8) im Sinne der Konvention verpflichtet. Außerdem sehen Einzelregelungen Schulungen zur Sensibilisierung von im Bildungs-, Justiz- oder Gesundheitswesen tätigen Personen vor.
Aufmerksamkeit verdient auch, dass sich der Begriff "Diskriminierung" nicht auf die Vorenthaltung formal gleicher Rechte beschränkt, sondern Diskriminierung durch Vorurteile, Barrieren und fehlende Unterstützung explizit einbezieht (Art. 2). Ein besonderer Akzent wird auf die Gefährdungen von behinderten Frauen (Art. 6) und behinderten Kindern (Art. 7) durch Mehrfachdiskriminierung gesetzt.
Bildung, Arbeit und Wohnen
Sondereinrichtungen für behinderte Menschen können mit einer Gefährdung der Achtung der Menschenrechte verbunden sein. Die Unterzeichnerstaaten werden verpflichtet, gesetzliche und institutionelle Voraussetzungen zu schaffen, um solche Rechtsverletzungen wirkungsvoll zu verhindern. Dazu gehören die Achtung der Privatsphäre (Art. 22) und der Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 16) in allen Wohn-, Arbeits-, Bildungs-, Therapie- und Rehabilitationseinrichtungen.
Festgelegt wurden in der Konvention Wahlrechte in Bezug auf die Schulform für behinderte Schüler (Art. 24) sowie für Wohnform und Wohnort für behinderte Menschen (Art. 19). Landesschulgesetze, die einseitig auf Sonderschulen bauen, und Kostenvorbehaltsregelungen, die behinderte Menschen gegen ihren Willen in Heime zwingen, müssten so verändert werden, dass eine volle Ausübung dieser Wahlrechte gewährleistet ist.
Die Konvention enthält das "Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen", verbunden mit Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten, einem umfassenden Diskriminierungsverbot durch Arbeitgeber sowie die Verpflichtung, einen offenen und integrativen Arbeitsmarkt zu schaffen (Art. 27). Damit müsste die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zukünftig konsequent Vorrang vor der Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen haben.
Medizin und Forschung
Das soziale Modell von Behinderung ist auch eine Antwort auf das Diskriminierungspotenzial im Kontext der Medizin. Nach der Konvention haben behinderte Menschen ein Recht "auf das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit" und sind dabei vor jeder diskriminierenden Ungleichbehandlung und Fremdbestimmung zu schützen (Art. 25).
Die Konvention enthält ausdrücklich das Verbot nichteigennütziger medizinischer und wissenschaftlicher Versuche ohne eigene freiwillige Einwilligung (Art. 15). Solche Versuche mit "nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen" sind im deutschen Arzneimittelrecht ausdrücklich verboten, außerhalb dessen aber gesetzlich ungeregelt. Sie finden in der Praxis in einem rechtlichen Graubereich statt, wenn z.B. nach genetischen Ursachen von geistigen Behinderungen und Demenzerkrankungen geforscht wird.
Das innovative Potenzial der Konvention
Die Konvention ist durch die Unteilbarkeit und Gleichrangigkeit insbesondere der Freiheitsrechte und der sozialen Menschenrechte geprägt (Lob-Hüdepohl 2007). Allerdings sind diese Grundsätze umstritten (Lohmann u.a. 2005). Oft wird eingewandt, soziale Rechte seien unbestimmt und könnten Freiheitsrechte verletzen. Deshalb käme ihnen nur ein nachgeordneter Status zu (vgl. Habermas 1998). Freiheitsrechte sind für behinderte Menschen aber wertlos, wenn ihnen Barrieren Zugänge verwehren und ihnen die materielle Grundlage für ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben fehlt (vgl. Tugendhat 1996; Gosepath 1998). Behinderte Menschen haben außerdem die Erfahrung machen müssen, dass soziale Leistungen unter dem Diktum der Fürsorge an Bevormundung und Fremdbestimmung gekoppelt sind (Graumann 2006). Die Unteilbarkeit und Gleichrangigkeit der Menschenrechte besitzt für sie deshalb besondere Relevanz. Damit und vor allem mit der Akzentuierung gesellschaftlicher Teilhabe bei strikter Achtung individueller Autonomie fordert die Konvention das vorherrschende Verständnis von sozialstaatlichen Solidarpflichten heraus (vgl. Kersting 2000).
Sigrid Graumann
Literatur
- Bielefeldt, Heiner (2006): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention. Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin.
- Degener, Theresia (2006): Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vereinte Nationen 3/2006, S. 104-110.
- Gosepath, Stefan (1998): Zu Begründungen sozialer Menschenrechte. In: Gosepath, Stefan/Lohmann, Georg (Hg.): Philosophie der Menschenrechte. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 146-187.
- Graumann, Sigrid (2006): Sind wir dazu verpflichtet, für das Wohlergehen anderer zu sorgen? Eine Kritik traditioneller Ethikkonzeptionen und ein Plädoyer für eine "Care-Ethik", die verbindliche Verpflichtungen ausweist. Sonderpädagogische Förderung 51, 1, S. 5-22.
- Habermas, Jürgen (1998): Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte. In: Brunkhorst, Hauke/Köhler, Wolfgang R./Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 216-227.
- Kaleck, Wolfgang/Hilbrans, Sönke/Scharmer, Sebastian (2007): Ratifikation der UN Disability Convention vom 30.03.2007 und Auswirkung auf die Gesetze für sogenannte psychisch Kranke am Beispiel der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung nach dem PsychKG Berlin. Gutachterliche Stellungnahme im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., Berlin.
- Kersting, Wolfgang (2000): Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung. In: Kersting, Wolfgang (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, S. 202-256.
- König, Matthias (2005): Menschenrechte. Campus, Frankfurt a.M.
- Krause-Trapp, Ina (2007): Zum Recht behinderter Menschen auf Selbstbestimmung und Teilhabe. PUNKT UND KREIS Michaeli/2007, S. 18-21.
- Lachwitz, Klaus (2007): UNO-Generalversammlung verabschiedet Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen. Teil I: Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/07, S. 37-42; Teil II: Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/07, S. 37-40.
- Lob-Hüdepohl, Andreas (2007): Welche Pflichten hat die Gesellschaft gegenüber Menschen mit schweren Behinderungen und ihren Familien? In: Dederich, Markus/Grüber, Katrin (Hg.): Herausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben. Mabuse, Frankfurt a.M., S. 87-101.
- Lohmann, Georg/Gosepath, Stefan/Pollmann, Arnd/Mahler, Claudia/Weiß, Norman (2005): Die Menschenrechte: unteilbar und gleichgewichtig? Studien zu Grund- und Menschenrechten 11, Menschenrechtszentrum Potsdam.
- Menke, Christoph/Pollmann, Arnd (2007): Philosophie der Menschenrechte. Junius, Hamburg.
- OHCHR (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights) (2002): Human Rights and Disability. The Current Use and Future Potential of United Nations Human Rights Instruments in the Context of Disability. Unter: www.ohchr.org/Documents/Publications/HRDisabilityen.pdf, gesehen am 17.03.08
- Schmahl, Stefanie (2007): Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen Menschenrechtsschutzes. Archiv des Völkerrechts 45, S. 517-540.
- Tugendhat, Ernst (1995): Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 236-363.
- UN (United Nations) (2006): Convention on the Rights of Persons with Disabilities.
- Weiß, Norman (2006): Die neue UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - weitere Präzisierung des Menschenrechtsschutzes. MenschenRechtsMagazin 3/2006, S. 293-300.