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Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am Leben in der Kommune

Eine Studie des IMEW im Auftrag des Deutschen Caritasverbands.

Die Fragestellung lautete: Wie lässt sich Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am kulturellen und öffentlichen Leben in der Kommune verwirklichen? Was ist „richtig verstandene“ Teilhabe, durch welche Merkmale zeichnet sie sich aus? Welche Faktoren führen zum Erfolg von Projekten, mit denen die Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung gefördert werden soll? Als ein Ergebnis der Studie wurde ein Beurteilungsschema für gelungene Teilhabeprojekte entwickelt. Die Praxistauglichkeit der erarbeiteten Bewertungskriterien wurde anhand beispielhaft ausgewählter Projekte der Caritas und anderer Träger demonstriert.

Menschen mit geistiger Behinderung sind in besonderer Weise von Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe betroffen, die anders gelagert sind als bei Menschen mit körperlicher Behinderung. Wenn allgemein von Teilhabe für Menschen mit Behinderung die Rede ist, wird ihre besondere Situation übergangen. Deshalb standen sie in unserer Studie im Mittelpunkt.

Das Teilhabekonzept, das im Rahmen der Studie entwickelt wurde, sollte außerdem von vornherein auch für schwerst- und mehrfachbehinderte Menschen gültig sein. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) hat klargestellt, dass das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen gilt, unabhängig von der Art, Schwere oder Ursache einer Behinderung.

Die Studie sollte einen Beitrag zu mehr Teilhabe für Menschen mit geistiger Behinderung leisten. Daher war es wichtig, nicht eine ideale Welt zu zeichnen, sondern gangbare Wege zur Umsetzung aufzuzeigen. Damit das gelingt, ist eine Sicht erforderlich, die sowohl die Situation der Menschen mit Behinderung als auch die ihrer nicht behinderten Mitmenschen einbezieht.

Ausgangsbedingungen für die Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung

  • Trotz aller Bestrebungen, gemeindenahe Wohnformen zu etablieren, spielt sich das Leben vieler Menschen mit geistiger Behinderung nach wie vor in besonderen Einrichtungen der Behindertenhilfe ab, wo sie nur über eingeschränkte Möglichkeiten zur Selbstbestimmung verfügen und weitgehend vom Rest der Gesellschaft getrennt sind.
  • Menschen, die abgeschottet, behütet bzw. bevormundet leben, bleiben zwangsläufig hinter ihren Fähigkeiten zurück, da sie in ihrem täglichen Leben kaum dazu herausgefordert werden, Neues zu lernen und Probleme selbst zu lösen.
  • Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Konfrontation mit Behinderungen bei vielen Menschen tief verwurzelte Ängste und Abwehrgefühle auslöst, die aber in Konflikt mit gesellschaftlich gültigen Anti-Diskriminierungs-Normen stehen. Das löst Verhaltensunsicherheiten aus, die als unangenehm erlebt werden und tendenziell zur Vermeidung von Begegnungen führen. 
  • Eine Folge der immer noch vorherrschenden Segregation besteht darin, dass die meisten Menschen außerhalb des Kreises der selbst Betroffenen, der Angehörigen und Beschäftigten der Behindertenhilfe keine Gelegenheit haben, ihre Ängste gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung abzubauen, da sich beide Seiten nicht „automatisch“ begegnen.

Diesen Ausgangsbedingungen hat ein umsetzungsorientiertes Teilhabekonzept Rechnung zu tragen.

Gesellschaftliche Teilhabe: Teil des sozialen Geflechts in der Gemeinde oder im Stadtviertel sein Selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Kommune bedeutet nichts anderes als (Mit )Bürger unter (Mit )Bürgern zu sein . Was heißt das? Mitbürger (im Gegensatz zu bloßen Einwohnern) beteiligen sich am sozialen Leben in der Gemeinde. Sie sind Teil des sozialen Geflechts vor Ort, indem sie wahlweise Angebote wahrnehmen, Angebote machen, sich für ihre Belange oder die ihrer Mitbürger engagieren, in der lokalen Öffentlichkeit in Erscheinung treten, da sie Schulen besuchen, ihrer Arbeit nachgehen, einkaufen usw. Indem Menschen die genannten sozialen Rollen übernehmen, werden sie für ihre Mitmenschen verortbar, sie gewinnen Gestalt und werden wahrgenommen, ebenso wie sie selbst die anderen in ihren sozialen Rollen wahrnehmen und verorten. Es bildet sich eine gemeinsame Vorstellung von „Eine/r-von-uns“-Sein. Das gilt in gleicher Weise für alle Einwohner, die sich als Bürger in der Gemeinde engagieren, unabhängig davon, ob sie geistig behindert sind oder nicht. Die konkreten Aktivitäten können durchaus verschieden sein, denn Menschen haben unterschiedliche Vorlieben und Fähigkeiten. Teilhabe bedeutet also nicht, „alle machen bei Allem mit“, wie ein bekannter Slogan lautet. Nur wenn man das anerkennt, schließt das Teilhabekonzept alle Menschen, auch die mit schwersten Behinderungen, ein.

Ein weiterer Unterschied unseres Ansatzes zu verbreiteten Auffassungen liegt darin, dass die Hilfsbedürftigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung nicht im Vordergrund steht. Das Angewiesensein auf Hilfe ist eine Gegebenheit, die nicht wegzudiskutieren ist. Sie soll durch Maßnahmen der Behindertenhilfe aufgefangen und durch alltagspraktisches Training verringert werden. Auch gegen die Einbindung von freiwilliger Hilfe durch die Mitmenschen ist nichts zu sagen. Wenn aber die Hilfsbedürftigkeit den Teilhabeprozess dominiert, sind Beziehungen „auf gleicher Augenhöhe“ kaum möglich.

„Teilhabe“ lässt sich aufschlüsseln in die einzelnen Teilhabebereiche: Zwischenmenschliche Beziehungen, Bildung/Erziehung/Kompetenzen, Arbeit und Beschäftigung, wirtschaftliches Leben, Kultur/Freizeit/Gemeinschaftsleben/Staatsbürger sein. Diese haben in den verschiedenen Phasen eines Lebenslaufs ein unterschiedliches Gewicht, und sie stehen miteinander in Wechselwirkung. Sozialbeziehungen außerhalb des Kreises der Angehörigen und Helfer sind das Resultat von Teilhabe in den anderen Bereichen, nicht die Voraussetzung, wie oft gesagt wird.

Teilhabeförderung besteht vor diesem Hintergrund in der Schaffung und Erweiterung von Gelegenheiten und Möglichkeiten für Menschen mit geistiger Behinderung, sich als (Mit )Bürger unter (Mit )Bürgern zu betätigen. Einer lokalen „inklusiven Infrastruktur“ kommt dabei eine erhebliche Bedeutung zu. Besonders der Zugang zu öffentlichen Nahverkehrsmitteln stellte sich als ein bislang unterbewerteter Faktor für die Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung heraus. Die Inklusionsbereitschaft der nicht behinderten Bürger in der Kommune zeigte sich in der Zusammenschau der Teilhabebereiche dagegen nur als nachrangiger Faktor. Ein wichtiges Anliegen konnte somit erreicht werden, nämlich: die Vorstellung von Teilhabe für Menschen mit geistiger Behinderung von der gedanklichen Anbindung an den (erfahrungsgemäß begrenzten) „guten Willen“ ihrer Mitmenschen zu befreien.

Das Bewertungsschema für Teilhabeprojekte

Das Bewertungsschema, das wir auf der Grundlage dieser Überlegungen aufstellten, weist fünf Zieldimensionen auf.

  • Aufhebung von Segregation: Dieses ist die Grundvoraussetzung von Teilhabe nach der UN-BRK.
  • Normalisierung: Menschen mit geistiger Behinderung sollen Bürger unter Bürgern und anerkannter Teil der Gemeinde sein.
  • Empowerment: Sind die Projektaktivitäten mit dem Erwerb alltagspraktischer Kompetenzen und einer Weiterentwicklung der Persönlichkeit für die teilnehmenden Menschen mit geistiger Behinderung verbunden?
  • Normalisierung der Beziehungen: Ermöglichung von Beziehungen auf „gleicher Augenhöhe“ zwischen Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen ohne geistige Behinderung.
  • Nachhaltigkeit und Reichweite: Dauerhaftigkeit der durch ein Projekt eingeleiteten Veränderungen und mögliche Multiplikator-Effekte.

Für jede Dimension wurde eine Reihe von Beurteilungskriterien aufgestellt, die eine Aussage darüber zulassen, ob Projekte sich dem jeweiligen Ziel annähern. Einzelne Projekte zur Teilhabeförderung können sich immer nur auf einen kleinen Ausschnitt der unterschiedlichen Teilhabebereiche beziehen. Das Bewertungsschema ermöglicht es, trotz dieser notwendigen Beschränkung von Projekten auf ein abgegrenztes Teilhabefeld zu beurteilen, ob sie im Sinn der UN-BRK in die richtige Richtung gehen.

Projektleitung: Dr. Katrin Grüber
Projektbearbeitung: Klaudia Erhardt
sowie Dr. Marianne Hirschberg, Kathleen Wartenberg, Sascha Omidi
Laufzeit: Mai 2009 bis April 2011
Auftraggeber: Deutscher Caritasverband, gefördert durch die Glücksspirale

Dieser Text basiert auf der Veröffentlichung: Klaudia Erhardt, Katrin Grüber:  Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am Leben in der Kommune. Erschienen im Lambertus-Verlag 2011.

Klaudia Erhardt
Katrin Grüber
Oktober 2011

 

1) vgl. Cloerkes (2007): Soziologie der Behinderten.
2) Dies haben wir in der Veröffentlichung der Projektergebnisse (Erhardt / Grüber 2011) ausführlich hergeleitet.

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