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Patientenverfügungen – ein notwendiges und wirksames Instrument zur Stärkung der Patientenautonomie?

IMEW konkret Nr. 7, Dezember 2004

Online Version ISSN 1612-9997 © Copyright: IMEW

In den letzten Jahren wurde in der Öffentlichkeit eher wenig über Sterben und Tod diskutiert. Nachdem der Bundesgerichtshof im Jahre 2003 in einem Beschluss zum ersten Mal Aussagen zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen getroffen hat, wurde das Thema 2004 von drei Kommissionen aufgegriffen: der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, der vom Bundesjustizministerium eingesetzten Kommission "Patientenautonomie am Lebensende zur Abfassung und Geltung von Patientenverfügungen" sowie der Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages. Die Bundesärztekammer hat ihre "Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung" überarbeitet.

Patientenverfügungen wurden in den Siebziger Jahren als Reaktion auf die moderne Intensivmedizin entwickelt. Es wurde kritisiert, dass durch ihre Anwendung das Sterben und Leiden von Menschen unnötig in die Länge gezogen würde und Ärzte einzig die Lebenserhaltung im Blick hätten, wobei sie über Vorstellungen ihrer Patienten hinweg gingen (Manzei 1999, Uhlenbruck 1997). Die allein kurative Zielsetzung der Medizin wurde zwischenzeitlich durch palliative Ansätze, die eine Linderung der Symptome, aber keine Heilung der zugrunde liegenden Erkrankung anstreben, ergänzt. Diese werden allerdings nicht in ausreichendem Maße praktiziert.

Voraussetzung für die Durchführung medizinischer Maßnahmen

In Patientenverfügungen wird festgelegt, welche medizinischen Maßnahmen unterbleiben oder durchgeführt werden sollen, wenn der Patient nicht selbst entscheiden kann. Medizinische Maßnahmen dürfen - von Ausnahmen wie der Notfallversorgung abgesehen - grundsätzlich nur mit Einwilligung des Patienten durchgeführt werden. Das Recht von Patienten, medizinische Maßnahmen abzulehnen, auch wenn sie lebenserhaltend sind, wird verfassungsrechtlich insbesondere daraus abgeleitet, dass sie einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellen (Grundgesetz Artikel 2, Absatz 1). Allerdings muss der Entscheidung des Patienten über die Einwilligung oder Ablehnung der Maßnahme eine Aufklärung über ihre Aussichten und Risiken vorausgehen ("informed consent", informierte Zustimmung). In Situationen der Nichteinwilligungsfähigkeit (z.B. Demenz, Wachkoma) soll eine andere Person, entweder eine vorher vom Patienten durch eine Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten bestimmte Vertrauensperson oder ein vom Vormundschaftsgericht bestellter gesetzlicher Betreuer, die Interessen des Patienten vertreten. Dabei soll sie dem Wohl des Betreuten dienen und seinen mutmaßlichen Willen ermitteln. Es können nur Entscheidungen zu medizinischen Maßnahmen getroffen werden, die aus medizinischer Sicht angezeigt sind.

Verbindlichkeit von Patientenverfügungen

Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom März 2003 Patientenverfügungen für die Situationen verbindlich erklärt, die darin konkret beschrieben sind und bei denen sich Arzt und Betreuer einig sind. In Konfliktfällen müsse das Vormundschaftsgericht zur Überprüfung der Entscheidung angerufen werden (BGH 2003). Die Folgerungen dieses Beschlusses wurden sowohl im gesellschaftlichen Raum als auch in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Inzwischen sind sich die drei genannten Kommissionen darin einig, dass die Verbindlichkeit der in Patientenverfügungen geäußerten Wünsche zu medizinischer Behandlung gesetzlich festgeschrieben werden solle, wobei es unterschiedliche Meinungen über die Voraussetzungen gibt. Auch die Bundesärztekammer betont die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, weist aber auf die Notwendigkeit der individuellen Entscheidung des Arztes hin, da dieser von der eigenen Verantwortung nicht entbunden werden könne (BÄK 2004).

Unterschiedliche Ziele und Zwecke von Patientenverfügungen

Patientenverfügungen, so wird meist angenommen, sind ein Instrument zur Wahrung der Patientenautonomie, um sich vor einer 'Intensivmedizin bis zum bitteren Ende' zu schützen. Studien, die bisher überwiegend in den USA und nur vereinzelt in Deutschland durchgeführt wurden, zeigen hingegen, dass Patientenverfügungen sehr unterschiedliche Funktionen haben können. So sind sie eine Möglichkeit, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, sich ihre Unheilbarkeit einzugestehen und den Tod anzunehmen (Burchardi u.a. 2004, Schäfer 2001). Sie dienen außerdem als Anlass für ein Gespräch mit Angehörigen (Hines 2001, Levine 1999). Vor diesem Hintergrund wird eine Befragung nachvollziehbar, in der Patienten nur zu einem kleinen Teil wünschten, dass die von ihnen erstellte Patientenverfügung unbedingt beachtet werden solle. Der größere Teil ist der Meinung, dass Nahestehende und Ärzte sie zwar im Entscheidungsprozess über die Anwendung medizinischer Maßnahmen berücksichtigen sollen, bei guten Gründen aber auch davon abweichen können (Sehgal u.a. 1992). Dies hängt möglicherweise auch mit der Erkenntnis zusammen, dass Einstellungen über Krankheiten und deren Einfluss auf die Lebensqualität abhängig vom Gesundheitszustand sind. Im Vorfeld als unerträglich angesehene Einschränkungen werden oft akzeptiert, wenn sie eingetreten sind. Der Arzt Ryan fragt, ob das Konzept von Patientenverfügungen nicht mit einem systematischen Fehler behaftet sei, da gesunde Menschen zu einem sehr hohen Prozentsatz eine Therapiebegrenzung für sich sinnvoll finden, Kranke dagegen sehr selten (Ryan 1996).

Der Prozess der Erstellung von Patientenverfügungen

Im Gegensatz zur direkten Einwilligung in medizinische Maßnahmen werden viele Patientenverfügungen verfasst, ohne dass eine Aufklärung über die darin verfügten Maßnahmen, ihre Alternativen oder Folgen stattgefunden hat. Unterschiedliche Institutionen, Behörden und Kirchen bieten zahlreiche Formulare an.
In ihrer ursprünglichen Form soll eine Patientenverfügung die Anwendung passiver bzw. indirekter Sterbehilfe regeln. Hierbei soll das Sterben an einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung mit einer schlechten oder aussichtslosen Prognose ermöglicht werden, indem medizinische Verfahren gewählt werden, die nicht auf die Heilung der Krankheit abzielen, sondern ihre Symptome wie Schmerz, Unruhe und Luftnot lindern.
Verschiedene Patientenverfügungsformulare sehen darüber hinaus die Einstellung der künstlichen Ernährung für den Fall einer Dauerbewusstlosigkeit oder erloschenen Kommunikationsfähigkeit vor, weiten also den Anwendungsbereich auch auf Erkrankungen aus, die keinen tödlichen Verlauf haben. Im Gegensatz zu anderen Therapiemöglichkeiten führt die Einstellung der künstlichen Ernährung in jedem Fall zum Tod.
Diese Patientenformulare transportieren die Beurteilung, bei solchen Zuständen handele es sich um nicht mehr lebenswertes Leben. Es ist zu befürchten, dass eine solche Einschätzung Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, indem die Sichtweise auf Menschen mit dauerhaften Störungen des Bewusstseins und der Kommunikationsfähigkeit verändert wird und in der Folge die Bereitschaft zur adäquaten medizinischen und pflegerischen Versorgung abnimmt.

Die Reichweite von Patientenverfügungen

Während die von der Bundesjustizministerin eingesetzte Kommission und die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz keine Einschränkung der Reichweite empfehlen, schlägt die Enquetekommission vor, Patientenverfügungen nur dann gelten zu lassen, "wenn das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird" (Enquetekommission "Ethik und Recht der Modernen Medizin" 2004). Es werden aber auch Phasen einer zum Tode führenden Erkrankung erfasst, bei denen das Sterben noch in ferner Zukunft liegen kann.

Resumée

Überzogene Erwartungen an Patientenverfügungen werden ihnen nicht gerecht. Das Instrument kann eine Auseinandersetzung zwischen Sterbenden und Angehörigen im Vorfeld des Sterbens ermöglichen und eine wichtige Orientierung für diejenigen sein, die entscheiden müssen, wenn der Patient nicht mehr entscheiden kann. Sie sind eine Hilfe - jedoch keine Patentlösung für alle schwierigen Entscheidungen im Sterbeprozess, denn auch mit Patientenverfügungen werden sich Konflikte und Gewissensentscheidungen nicht grundsätzlich vermeiden lassen. Passive Sterbehilfe kann Leiden lindern, eine Verkürzung des Lebens durch Verzicht auf Basismaßnahmen ist ein weiter gehender Eingriff. Eine Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen auf den Sterbeprozess würde klar machen, dass nur passive und nicht aktive Sterbehilfe gewünscht wird. Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass sich zwar alle Kommissionen dazu äußern, dass es in Deutschland einen großen Nachholbedarf an Palliativmedizin und -pflege sowie Hospizeinrichtungen gibt und Forderungen an den Gesetzgeber formulieren, dies aber in der öffentlichen Debatte und auch in der politischen Umsetzung bisher kaum Nachhall findet.

Katrin Grüber
Jeanne Nicklas-Faust

Literatur

  • Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" (2004): Patientenautonomie am Lebensende, Ethische, rechtliche und medizinische Aspekte zur Bewertung von Patientenverfügungen, Bericht vom 10. Juni 2004
  • Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz (2004): Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Ethische, rechtliche und medizinische Bewertung des Spannungsverhältnisses zwischen ärztlicher Lebenserhaltungspflicht und Selbstbestimmung des Patienten, Bericht vom 23. April 2004
  • Bundesärztekammer (BÄK 2004): Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt, Heft 19, 7. Mai 2004
  • Bundesgerichtshof (BGH 2003): Beschluss vom 17.03.2003, AZ: XII ZB 2/03, in: NJW, S.1588
  • Burchardi, Nicole/Rauprich, Oliver/Vollmann, Jochen (2004): Patientenverfügungen aus der Sicht von Patienten mit amyothropher Lateralsklerose, Eine qualitativ-empirische Studie. Ethik Med 16, S. 7-21
  • Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2003): Zwischenbericht Patientenverfügungen. Deutscher Bundestag 15. Wahlperiode, Drucksache 15/3700, 13.09.2004
  • Hines, Stephen C. et al. (2001): From coping with life to coping with death: problematic integration for the seriously ill elderly. Health Commun 13(3), S. 327-342
  • Hines, Stephen C. et al. (2001): Improving advance care planning by accommodating family preferences. J Palliat Med 4(4), S. 481-489
  • Levine, David Z. (1999): Advance Care Planning in Dialysis. Am J Kid Dis 1999, 33/5, S. 980-991
  • Manzei, Alexandra (1999): Pflegende und Ärzte zwischen High-Tech und Patientenorientierung. Intensiv 7, S. 60-65
  • Ryan, Christopher J. (1996): Betting your life: an argument against certain advance directives. J Med Ethics 1996, 22, S. 95-99
  • Schäfer, Dagmar (2001): Patientenverfügungen, Krank - aber entscheidungsfähig, Lage: Jacobs
  • Sehgal, Ashwini et al. (1992): How strictly do Dialysis patients want their advanced directives followed? JAMA 267, S. 59-63
  • Uhlenbruck, Wilhelm (1997): Selbstbestimmtes Sterben durch Patienten-Testament, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Berlin: Vahle

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