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Klassifizierung von Behinderung

IMEW konkret Nr. 12, Mai 2009

Online Version ISSN 1612-9997 © Copyright: IMEW

Klassifikationen strukturieren und ordnen Gruppen oder Dinge nach bestimmten Kriterien (Zaiß et al. 2002). Sie erschaffen dadurch ein Ordnungssystem, mit dem beispielsweise Krankheiten und Behinderungen einer Bevölkerung nach Entstehung und Wirkung eingeordnet werden können, um auf dieser Grundlage gesundheitsfördernde und rehabilitative Maßnahmen zu entwickeln.

Klassifikationen von Krankheiten gibt es bereits seit Jahrhunderten und in allen Heiltraditionen, so u.a. in Indien, Mexiko oder auch in der Vier-Säfte-Lehre vor der Neuzeit in Europa (Ackerknecht 1992, Nutton 1993). Mit ihnen wurden innere und äußerlich sichtbare Krankheiten, Verletzungen, Brüche sowie Krankheiten des Körpers und des Geistes unterschieden. Seit 1946 gibt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Klassifikationen von Krankheiten heraus. Derzeit wird die zehnte Klassifikation, die International Classification of Diseases (ICD-10) grundlegend überarbeitet, ihre Neufassung soll 2014 verabschiedet werden (WHO 2005).

Nachdem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Behindertenverbände sowie die erstarkende internationale Behindertenbewegung in den späten 1960er und den 1970er Jahren kritisiert hatten, dass eine Behinderung nicht mit einer Krankheit gleichzusetzen ist, entwickelte die WHO die Internationale Klassifikation von Schädigungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) (Hunt 1966, Sander 1978). Mit ihr unterschied die WHO 1980 erstmals Behinderung und Krankheit.

Aufgrund verschiedener Mängel leitete die WHO Anfang der 1990er Jahre einen Revisionsprozess ein, in dem vor allem die Konstruktion von Behinderung verändert wurde (Hirschberg 2003). Zum ersten Mal wurde auch das Umfeld des Individuums in das Blickfeld genommen. Behinderung wird in der ICF nicht mehr (wie in der ICIDH) als kausale Folge einer Krankheit oder Schädigung angesehen, sondern als Ergebnis der Interaktion verschiedener Komponenten. 2001 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die aktuelle behinderungsspezifische Klassifikation, die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Diese Klassifikation ist international gültig und in Deutschland rechtlich durch das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) und das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) implementiert.

Mit den behinderungsspezifischen Klassifikationen der WHO kann Ausmaß und Häufigkeit von Behinderung weltweit erfasst und für unterschiedliche Belange handhabbar gemacht werden, z. B. um Daten über Behinderung für den (inter-)nationalen Vergleich zu erheben und so das Ausmaß von Behinderung zu erfassen. Diese Statistiken dienen dazu, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu entwickeln. Die ICF bildet die Basis für rehabilitationsbezogene Maßnahmen, weswegen sie gesundheitspolitisch bedeutsam ist (Greving 2002). So stellt sie u.a. in den Hilfsmittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses die Grundlage für Entscheidungen darüber dar, welche Hilfsmittel als Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden (GBA-Richtlinie 2008).

Gesellschaftliche Bedeutung von Klassifikationen

Klassifikationen sind Instrumente der Sozial- und Gesundheitspolitik. Mit ihrer Hilfe werden individuelle Beeinträchtigungen sowie Einschränkungen der Teilhabe festgestellt, um den Anspruch auf Leistungen (sächliche und personelle Unterstützungen) zu begründen. Gleichzeitig können sie jedoch Stigmatisierungen Vorschub leisten, da die Behinderung eines Menschen von medizinischer Seite als defizitär beurteilt wird.

Gesundheits- und sozialpolitisch relevante Klassifikationen konstituieren somit ein Spannungsfeld zwischen sozialer Teilhabe und sozialer Ausgrenzung. Die Problematik dieses Spannungsfeldes lässt sich anhand der ICF verdeutlichen.

Konzeption der ICF

Der Kern der ICF ist ihr Behinderungsbegriff. Dieser zeigt, welche Vorstellung die WHO von Behinderung hat und wie sie Behinderung konstruiert. Während im medizinischen Modell davon ausgegangen wird, dass Behinderung ausschließlich ein individuelles Problem ist, führt das soziale Modell eine Behinderung auf die gesellschaftlichen Hindernisse für Menschen mit Beeinträchtigungen zurück (Barnes/Mercer/Shakespeare 2003). Die WHO hat den Anspruch, diese beiden Modelle in einem biopsychosozialen Ansatz zu vereinen (WHO 2001: 20). Dieser Ansatz bleibt jedoch ein erster Versuch, weil das medizinische Modell weiterhin stärkeres Gewicht hat als das soziale Modell (Hirschberg 2009).

Im Gegensatz zur ICIDH ist die ICF an alle Menschen adressiert (WHO 2001: 7). Dennoch ist sie primär für behinderte Menschen relevant, da deren Behinderung beurteilt und daraufhin Unterstützungsleistungen zugewiesen werden. Es wird jedoch jeweils nur die Behinderung und nicht ebenfalls die besondere Fähigkeit eines Menschen klassifiziert – also ausschließlich negativ und nicht auch positiv.

Die WHO konstruiert Behinderung als Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Komponenten: Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität, Teilhabe, Umweltfaktoren und Personbezogene Faktoren eines Menschen. Letztere werden aufgrund ihrer großen sozialen und kulturellen Vielfalt allerdings noch nicht klassifiziert (WHO 2001: 8).

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung

Die ICF beurteilt Behinderung umfassend. Nicht nur die körperlichen, individuellen und gesellschaftliche Komponenten von Behinderung, sondern auch das private Umfeld und die persönlichen Lebenserfahrungen sowie die für einen Menschen spezifischen Barrieren und Unterstützungsfaktoren werden klassifiziert. Hierdurch werden nicht nur die Schwierigkeiten, mit einer Behinderung zu leben, sondern auch die individuellen Ausgleichsmöglichkeiten erfasst und in die Klassifizierung einbezogen. Diese umfassende Klassifizierung ist ambivalent; während einerseits eine ausführliche Beurteilung der Lebenssituation den Menschen nicht auf seine Schädigung reduziert, werden andererseits viele persönliche Informationen erfasst. Persönliche Erfahrungen lassen sich jedoch nicht objektiv vergleichen, da sie einzigartig sind.

In der Sekundärliteratur zur ICF wird darauf verwiesen, dass die Personbezogenen Faktoren auch die genetischen Faktoren eines Menschen umfassen (Schuntermann 2005). Wegen der generellen Brisanz ihrer zukünftigen Beurteilung entwickelt derzeit eine deutsche WHO-Arbeitsgruppe ethische Richtlinien zur Klassifizierung und Kategorisierung dieser Komponente (Geyh et al. 2007). Wenn jedoch die individuelle genetische Konstitution eines Menschen beurteilt würde, könnte dies diskriminierende Implikationen haben.

Da bisher nur eine gemeinsame Kategorienliste für Aktivität und Teilhabe besteht, lassen sich die Teilhabeeinschränkungen eines Menschen zwar kategorisieren, jedoch noch nicht fundiert operationalisieren. Auch wenn Aktivität und Teilhabe separat klassifiziert werden können, gibt es keine auf die jeweilige Komponente bezogenen Kategorien. Ein weiteres Problem liegt darin, dass beispielsweise der individuelle Bedarf eines Fortbewegungsmittels nicht hinreichend spezifiziert wird, da ein Rollstuhl, ein Skooter oder eine Gehhilfe unter der gleichen Unterkategorie (e1201) aufgeführt sind (WHO 2001: 174). Im Gegensatz zu den Kategorien von Aktivität, Teilhabe und den Umweltfaktoren sind die Körperfunktionen und -strukturen stärker unterkategorisiert. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die ICF weiterentwickelt werden sollte, um in der Praxis besser zur Teilhabeförderung eingesetzt werden zu können.

Resümee: Das innovative Potenzial der ICF nutzen

Die ICF ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie Vorstellungen beider Modelle, des medizinischen und des sozialen Modells, aufgreift. Sie bildet mit ihrem biopsychosozialen Ansatz eine entscheidende Grundlage zur Umsetzung des SGB IX zur Rehabilitation und Teilhabe. Es ist empfehlenswert, die gesellschaftliche Perspektive von Behinderung weiter auszubauen, damit diese nicht länger hinter der individuellen Perspektive zurücksteht. Hierzu gehört zum einen eine Ausdifferenzierung der Umweltfaktoren, des Weiteren eine eigenständige Klassifizierung der Teilhabekomponente, weil dadurch die gesellschaftliche Benachteiligung von behinderten Menschen beurteilt werden kann. Es wäre wünschenswert, dass behinderte Menschen verstärkt an der Entwicklung der Klassifikation beteiligt werden und zwar nicht nur in der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der Umweltfaktoren, sondern darüber hinaus auch grundlegend. Sie sollten nicht nur als ,von der Klassifizierung ihrer Behinderung Betroffene‘ beteiligt werden, sondern auch als fachliche Expertinnen und Experten.

Die ICF als Behinderungsklassifikation ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu dem Ziel, das im SGB IX und BGG benannt ist: Die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zu verwirklichen.

Marianne Hirschberg

Literatur

  • Ackerknecht, Erwin (1992): Geschichte der Medizin, 7. Überarbeitete und ergänzte Auflage von Axel Murken, Thieme, Stuttgart.
  • Barnes, Colin/Mercer, Geof/Shakespeare, Tom (Hg.) (2002): Exploring Disability. A Sociological Introduction. 3. Auflage, Polity Press, Cambridge.
  • Gemeinsamer Bundesausschuss: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rehabilitations-Richtlinie) vom 16. März 2004, zuletzt geändert am 20. Dezember 2007, in Kraft getreten am 20. März 2008. Unter: http://www.g-ba.de/downloads/62-492-249/RL-Reha-2007-12-20.pdf, 14.04.09
  • Geyh, Szilvia/Cieza, Alarcos/Kostanjsek, Nenad/Üstün, Bedirhan/Bickenbach, Jerome/Stucki, Gerold (2007): Developing the ICF Classification of Personal Factors, D057/D057p, paper presented at the Meeting of the WHO Collaborating Centres for the Family of International Classification, 28 Oct-3 Nov 2007, Trieste Italy. Unter: http://www.who.int/classifications/network/meeting2007/en/index.html, 14.04.09
  • Greving, Heinrich (2002): Das heilpädagogische ,Feld‘ – Ein Entwurf nach Pierre Bourdieu. In: Greving, Heinrich/Gröschke, Dieter (Hg.): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik, Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 107-112.
  • Hirschberg, Marianne (2003): Die Klassifikationen von Behinderung der WHO. IMEW-Expertise 1, Berlin.
  • Hirschberg, Marianne (2009): Behinderung im internationalen Diskurs. Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Campus, Frankfurt/Main. (im Erscheinen)
  • Hunt, Paul (Hg.) (1966): Stigma. The Experience of Disability. Geoffrey Chapman, London.
  • Nutton, Vivian (1993): Humoralism. In: Bynum, William/Porter, Roy (Hg.): Companion Encyclopaedia of the History of Medicine. Routledge, London, S. 281-291.
  • Sander, Alfred (1978): Neue Ansätze für die Klassifikation Behinderter. Bericht über ein Expertentreffen im Centre for educational research and Innovation der OECD. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 29, 12, S. 766-768.
  • Schuntermann, Michael (2005): Einführung in die ICF. Grundkurs Übungen offene Fragen. ecomed Medizin, Landsberg/Lech.
  • World Health Organization (WHO) (1980): International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH), Genf.
  • World Health Organization (WHO) (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), Genf.
  • World Health Organization (WHO) (2005): International Statistical Classification of Diseases And Related Health Problems: Tenth Revision (ICD-10), Genf.
  • Zaiß, Albrecht/Graubner, Bernd/Ingenerf, Josef/Leiner, Florian/Lochmann, Ulrich/Schopen, Michael/Schrader, Ulrich/Schulz, Stefan (2002): Medizinische Dokumentation, Terminologie und Linguistik. In: Leymann, Thomas/Meyer zu Bexten, Erdmuthe: Handbuch der Medizinischen Informatik. Hanser, München, S. 45-102.

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