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Freunde & Förderer

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Testimonial Rehmann-Sutter

Christoph Rehmann-Sutter, Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
Christoph Rehmann-Sutter, Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
Das IMEW arbeitet an einer wahrnehmungsfähigen biomedizinischen Ethik ... (mehr)

Gendiagnostik

IMEW konkret Nr. 8, September 2005

Online Version ISSN 1612-9997 © Copyright: IMEW

Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist das größte Projekt in der Geschichte der Wissenschaft. Die vollständige Sequenz liegt mittlerweile vor. Die Hauptarbeit aber, die Identifizierung von Funktionszusammenhängen zwischen Genen und Genprodukten, steht noch bevor.

In der Medizin haben die Erkenntnisse des Humangenomprojekts bisher vor allem zur Erweiterung von diagnostischen, kaum aber von therapeutischen Möglichkeiten geführt. Schon seit den 70er Jahren (vor dem Humangenomprojekt) können Veränderungen der Chromosomen, wie das Down-Syndrom, mikroskopisch untersucht werden. Durch das Humangenomprojekt sind immer mehr Gentests verfügbar, mit denen auch genetische Veränderungen auf molekularer Ebene entdeckt werden können. Damit können klinische Verdachtsdiagnosen bestätigt, aber auch genetische Anlagen für Krankheiten, die erst später im Leben oder nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftreten werden, diagnostiziert werden. Mit der Genchiptechnologie wird es voraussichtlich in absehbarer Zeit möglich sein, eine große Zahl von Krankheitsanlagen gleichzeitig zu bestimmen. Genetisches Wissen kann zu psychischen Belastungen, moralischen Konflikten und Diskriminierung führen. Dies gilt, auch wenn (oder gerade weil) der Zusammenhang zwischen diagnostizierbaren genetischen Veränderungen und tatsächlich auftretenden Krankheiten vielfach komplex und noch wenig verstanden ist. Spezielle gesetzliche Regelungen zum Schutz der Patientenrechte existieren hierzulande bisher nicht. In der vergangenen Legislaturperiode wurde ein Gendiagnostikgesetz diskutiert, das nicht mehr verabschiedet werden konnte und dessen Zukunft ungewiss ist.

Prädiktive Gendiagnostik

Im Namen der Selbstbestimmung hat eine Person das Recht auf Zugang zu genetischen Informationen. Dieses Recht beinhaltet auch ein Recht auf Nichtwissen, wodurch eine strikte Freiwilligkeit von Gentests gefordert ist. Prädiktive Gentests können zudem zu spezifischen Rechtskonflikten führen, weil sie auch Aussagen über genetische Risiken von leiblichen Verwandten ermöglichen. Deshalb wären verbindliche Standards für die Aufklärung notwendig. Humangenetische und psychosoziale Beratung müsste vor und nach einem Test angeboten und dabei die Rechte aller Betroffenen berücksichtigt werden. In der humangenetischen Beratung wird in erster Linie über "genetische Risiken" und Vererbungswahrscheinlichkeiten informiert. In der psychosozialen Beratung stehen der individuelle Umgang mit "genetischen Risiken" und die Vermeidung persönlicher Belastungen im Mittelpunkt. In der Praxis finden die meisten Gentests allerdings ohne hinreichende Aufklärung und ohne spezielle Beratung statt.

Genetische Diskriminierung

Gendiagnostik besitzt ein erhebliches Diskriminierungspotenzial. Sollten Arbeitgeber und Versicherungen genetische Daten nutzen oder gar die Durchführung von Gentests verlangen, könnte der Zugang zu Arbeitsplätzen oder privaten Kranken- und Lebensversicherungen von genetischen Risiken abhängen. Der Entwurf des Gendiagnostikgesetzes sieht vor, die Nutzung von vorhandenen genetischen Informationen durch Arbeitgeber und Versicherungen weitgehend auszuschließen (BMGS 2004); er folgt damit den Empfehlungen der Enquete-Kommission (Deutscher Bundestag 2002). Der Nationale Ethikrat schlägt nun als erstes politisches Gremium vor, dass Arbeitgeber die Durchführung von Gentests verlangen dürfen, wenn auch mit Einschränkungen. Würde sich dieser Vorschlag durchsetzen, wäre der Weg zur genetischen Diskriminierung von Arbeitnehmern beschritten (Nationaler Ethikrat 2005).

Biobanken

In Bezug auf die Forschung über die Beteiligung von genetischen Faktoren insbesondere an Zivilisationskrankheiten stellt die Speicherung von Gewebeproben und genetischen Daten zusammen mit anderen Gesundheitsdaten in Biobanken eine große Herausforderung für den Schutz von Persönlichkeitsrechten dar. Eins der Probleme ist, dass sich viele Forschungsfragen, die mit Biobanken bearbeitet werden sollen, erst in Zukunft ergeben. Dabei ist umstritten, ob von den Testpersonen "General"- oder "Blanko"-Einwilligungen eingeholt werden dürfen, bei denen vorab zukünftigen Forschungen zugestimmt wird. Dies widerspricht dem Konzept des "informed consent", weil eine wirkungsvolle Einwilligung zu einem Forschungsvorhaben die Informiertheit der Versuchsperson voraussetzt. Informationen für zukünftige, mögliche Forschungen können jedoch noch gar nicht vorliegen. Die Forschung drängt international auf die Zulässigkeit von Generaleinwilligungen, weil das Einholen erneuter Zustimmungen zu aufwendig sei. Eine "Rückzugsposition" in der Debatte ist, dass Diskriminierungsgefahren, die insbesondere durch die Weitergabe von Daten und ihre Nutzung für anderweitige Zwecke entstehen können, durch ein gesetzlich verankertes "Forschungsgeheimnis" eingeschränkt werden sollten.

In Bezug auf die Forschung wird außerdem der Einbezug von Minderjährigen und anderen Nichteinwilligungsfähigen kontrovers diskutiert. Sofern die Betroffenen von der Gendiagnostik keinen eigenen Nutzen haben, handelt es sich hierbei um rein fremdnützige Forschung, die ethisch problematisch und in Deutschland verboten ist.

Pränatale Diagnostik

Ein auffälliger Befund einer vorgeburtlichen Gendiagnostik führt mangels Behandlungsmöglichkeiten fast immer zur Entscheidung über den Abbruch der Schwangerschaft. Ethisch stellt ein solcher Schwangerschaftskonflikt ein Dilemma zwischen den Rechten der Frau und dem Schutz des Lebens des Ungeborenen dar. Rechtlich sind Schwangerschaftsabbrüche nach Pränataldiagnostik in Deutschland gemäß der medizinischen Indikation zulässig, wenn die Belastung der Frau durch die Fortsetzung der Schwangerschaft zu groß wäre, was in der Praxis allerdings großzügig interpretiert wird. Dies war immer wieder Gegenstand kontroverser ethischer und politischer Debatten, ohne dass eine einvernehmliche Lösung gefunden wurde. Frauen zum Austragen der Schwangerschaft zu zwingen, würde deren Rechte verletzen; eine psychiatrische Prüfung der Belastung oder eine Zwangsberatung vor dem Abbruch kämen einer Entmündigung gleich.

Kaum diskutiert wurde bislang die ethische Rechtfertigung des Angebots der Diagnostik, die ja schließlich den Schwangerschaftskonflikt herbeiführt. Manche sagen, die Pränataldiagnostik diene der Prävention erblich bedingter Krankheiten und Behinderungen. Dieses Argument ist fragwürdig, weil nicht Krankheiten und Behinderungen als solche, sondern die Existenz ihrer Träger verhindert wird. Andere beziehen sich darauf, viele Frauen würden heute Pränataldiagnostik fordern, womit allerdings das Bedingungsverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage verkürzt dargestellt wird.

Die Pränataldiagnostik hat sich unter der Hand extrem ausgebreitet. Die Suche nach Risikofaktoren und "Fehlbildungen" per Ultraschall und Bluttests wird heute ungefragt jeder Schwangeren angeboten. Wird eine Auffälligkeit beim Kind festgestellt, folgt eine Fruchtwasseruntersuchung zur Abklärung. Dadurch rutschen viele Frauen unreflektiert in existenzielle Entscheidungskonflikte. Um dies zu verhindern, wäre es notwendig, vor jeder Form vorgeburtlicher Diagnostik über die möglichen Konsequenzen umfassend aufzuklären und eine unabhängige psychosoziale Beratung anzubieten. Damit könnte die Dynamik der Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik zumindest gebremst werden.

Die Pränataldiagnostik prägt die Rollenerwartung an werdende Eltern und besonders an Frauen. Das Angebot der Pränataldiagnostik vermittelt die Botschaft, dass verantwortungsvolle Familienplanung bedeutet, kein krankes oder behindertes Kind in die Welt zu setzen. Diesem sozialen Druck können sich Frauen nur schwer entziehen. Außerdem spiegelt sich darin - so ungern das gehört wird - eine tendenzielle Behindertenfeindlichkeit unserer Gesellschaft.

Sigrid Graumann

Literatur

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  • Elstner, Marcus (1997) (Hrsg.): Gentechnik, Ethik und Gesellschaft. Berlin: Springer
  • Emmrich, Michael (1999): Im Zeitalter der Biomacht. Frankfurt am Main: Mabuse-Verl.
  • Ethik-Beirat beim Gesundheitsministerium (2000): Prädiktive Gentests. Eckpunkte für eine ethische und rechtliche Orientierung.
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  • Hennen, Leonard / Petermann, Thomas / Sauter, Arnold (2001): Das genetische Orakel. Prognosen und Diagnosen durch Gentests - eine aktuelle Bilanz. Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Bd. 10. Berlin.
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  • Volz, Sibylle (2003): Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Kontext von Präimplantations- und Pränataldiagnostik.
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