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Testimonial Berghöfer

Jochen Berghöfer
Jochen Berghöfer, Geschäftsführung Haus Mignon – Institut für Heilpädagogik, Pädagogik und Frühförderung, Hamburg
Die Vision, ein Institut zu gründen mit der Aufgabenstellung, "die Perspektive von Menschen mit Behinderung ... (mehr)

Ethik des Grundgesetzes? Zum Verhältnis von (Verfassungs-)Recht und Ethik

IMEW konkret Nr. 6, Mai 2004

Online Version ISSN 1612-9997 © Copyright: IMEW

(Verfassungs-)Recht und Ethik lassen sich unterscheiden, stehen aber in einem engen, spannungsreichen Verhältnis zueinander. Günter Dürig, meinungsprägender Kommentator des deutschen Grundgesetzes (GG), hat von den Grundrechten als der "ethischen Unruhe" des Rechts gesprochen, für Jürgen Habermas sorgen die Grundrechte für die "ethische Imprägnierung des Rechtsstaats".

Recht als ethikoffene Normenordnung

"Recht" als positives (geschriebenes) Recht bezeichnet Normen (Orientierungsmuster sozialen Kontakts), die im Rahmen einer politisch-gesellschaftlichen Ordnung in standardisierten Verfahren gewonnen werden, sei es durch normtextsetzende Instanzen (etwa Parlamente), sei es durch normtextkonkretisierende Institutionen (vor allem Gerichte), die generell-abstrakte Regeln in situationsangemessene Fallnormen überführen. Die Rechtswissenschaft unterstützt mit ihren theoretischen, nicht von aktuellen Entscheidungszwängen bestimmten Diskursen die Prozesse der Gewinnung und Veränderung von Normen. Wichtig sind hierbei vor allem wertende Überlegungen. Wertungen implizieren Werturteile, die sich an Wertungskriterien orientieren. Sie sind in der Regel nur zu gewinnen, wenn man über den Bedeutungshorizont hinausgeht, den der Wortlaut der Gesetzestexte vordergründig nahe zu legen scheint. Bei der Suche nach den ideellen Hintergründen, die den Rechtsnormen Konturen geben, wird die Bezugnahme auf Moral und Ethik unvermeidlich, wobei unter "Moral" die in einer konkreten Gesellschaft (oder Segmenten von ihr) autonom bejahten und real befolgten Maximen richtigen Verhaltens zu verstehen sind und "Ethik" (Moralphilosophie) die primär akademisch-universitär produzierten Reflexionen über das bezeichnet, was als "Moral" gelebt wird oder gelebt werden sollte.

"Remoralisierung" des positiven Rechts im Lichte der Grundrechte

Grundrechte (Menschenrechte) sind moralphilosophische Erfindungen, die über ihre juristische Geltungsform hinausweisen. In der Auslegung von Grundrechten vollzieht sich das, was Habermas in "Faktizität und Geltung" als "Remoralisierung" des positiven Rechts bezeichnet hat: Recht und Ethik sind keine getrennten Sphären. Sie bleiben über die Grundrechte verbunden, die ein Janusgesicht haben, das zum Recht und zur Ethik hin blickt. Positives Verfassungsrecht setzt sich dem Bedeutungspotential des jeweiligen Grundrechts aus, versucht dessen geschichtlich gewordene Leitidee - ethisch informiert - zu ermitteln und gleichsam in die Gegenwart hinein zu Ende zu denken. Dass körperliche Integrität als Grundvoraussetzung personaler Selbstdarstellung schutzwürdig ist, stellt bspw. eine ethisch relativ unproblematische Verbindungslinie zwischen dem Kampf gegen die Polizeiwillkür der Metternich-Zeit und der Abwehr "guter" Folter dar, die in jüngster Zeit auch in Deutschland wieder diskutiert wird. Schwieriger wird es, wenn es um die Verfügung über Frühformen menschlichen Lebens geht:

Recht auf Leben

Die grundgesetzliche Garantie des Rechts auf Leben ist eine bewusste Reaktion auf die monströsen Lebensgefährdungen des staatlich organisierten Totalitarismus. Dahinter stehen Realitätsannahmen, die mit den Biowissenschaften wenig gemein haben. Es mag daher auf den ersten Blick plausibel sein anzunehmen, die Verfassung sei lückenhaft und müsse - den Vorstellungen der moralphilosophischen Avantgarde entsprechend - "zukunftsfähig" gemacht werden. Deren Konzepten zufolge hängt die Schutzwürdigkeit individuellen prä- oder postnatalen menschlichen Lebens von einem bestimmten Niveau intellektueller Reife ("Personalität") ab, bei dessen Unterschreiten zwar menschliches Leben existieren mag, nicht aber schutzwürdiges menschliches Leben. Die damit verbundene Leugnung der traditionellen Identität von Mensch- und Personsein muss die herkömmliche Grundrechtsbetrachtung irritieren. Ein auf Frühformen menschlichen Lebens sich erstreckender Grundrechtsschutz ist schlüssig, wenn die Gleichheit verbürgende Bedeutung des Lebensrechts akzentuiert wird: Wer soll als achtungsfähiges Gegenüber zur Gruppe der Menschen gehören, wer soll als Gleicher, Gleichwürdiger, Gleichschutzwürdiger unter Gleichen, Gleichwürdigen, Gleichschutzwürdigen relevant sein? Die Gruppe der in gleicher Weise Achtungswürdigen ist im Laufe der Geschichte immer größer geworden. Während zunächst nur weiße besitzende Männer Grundrechte beanspruchen konnten, spielten nach und nach Vermögen, Hautfarbe, biologisches Geschlecht und das Kriterium der Lebendgeburt immer weniger eine Rolle. Das Existieren als lebendiges menschliches Individuum wurde zum Ur-Kriterium grundrechtlichen Schutzes. Soll der Ausschluss, die Exklusion von Menschen - ihre Transformierung zu Rechts-Unpersonen - vermieden werden, muss die Qualifizierung als "lebender Mensch" tendenziell großzügig ausfallen. Der gleichheitsrechtlich geprägten Leitidee des Grundrechts auf Leben geht es in diesem Sinne um Inklusionssicherung. Das schließt Einschränkungen der effektiven Garantie des Lebensschutzes nicht aus (vergl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). Allerdings gelten dafür wegen der basalen Funktion des Lebensgrundrechts strenge Rechtfertigungslasten, die diejenigen tragen müssen, die Beschränkungen etablieren wollen.

Der Wille zum Glauben an die "Ethik des Grundgesetzes"

Warum sollte man dieser weiten Interpretation des Lebensrechts folgen? Man kann sie ablehnen, aber wer dies kategorisch tut, mit dem ist das Gespräch vor dessen Beginn schon beendet, weil ihm (oder ihr) der Glaube fehlt, dass es in pluralen Gesellschaften sinnvoll ist, normative Vergewisserung am Leitfaden eines Verfassungstextes und seiner (Wirkungs-)Geschichte zu praktizieren. Das ist durchaus kein "Notbehelf", sondern zwingend in einer Gesellschaft ohne selbstverständliche normative Mitte. Der Wille zur Verfassung - oder genauer: der Wille zum Glauben an die Verfassung - zwingt dazu, sich mit der Entstehungs- und Auslegungstradition der Verfassung auseinander zu setzen und z. B. danach zu fragen, inwieweit der in ihr entwickelte Grundsatz der Inklusion nicht vorteilhafter für die Organisation einer Gesellschaft ist als die Verwerfung vermeintlich alteuropäischer Innovationshemmnisse.

In diesem verfassungszentrierten Diskurs sind auch philosophisch-ethische Überlegungen über mögliche Bedeutungen von Grundrechtsnormen bedeutsam. Gerade sie schaffen einen Raum der Nachdenklichkeit, in dem das irritierende Potential ethischer Reflexion mit dem Vereinfachungsbedürfnis des juristischen Pragmatismus ringen kann. So wird sichergestellt, dass sich die irgendwann einmal erforderlich werdenden Entscheidungen (z. B. des Verfassungsgerichts) auf argumentativ bestelltem Terrain bewegen und die spezifische Moral bzw. (diese reflektierend) die spezifische Ethik des Grundgesetzes klarere Konturen gewinnt.

Stephan Rixen

Die Deutsche Bibliothek hat die Netzpublikation "IMEW konkret" archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar.

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