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Disability Mainstreaming in Berlin – Behinderung geht alle an

Im Mai 2010 beauftragten die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung – vertreten durch den Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung – das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft mit der Studie Disability Mainstreaming in Berlin - Behinderung geht alle an.

Bereits im Landesgleichberechtigungsgesetz (LGBG) von 1999 ist das Ziel formuliert, dass alle Behörden verantwortlich für die

Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sind. Ziele des Gesetzes sind die Umsetzung des Benachteiligungs- und Diskriminierungsverbotes von Menschen mit Behinderungen (§2) und das Gleichberechtigungsgebot, d.h. die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderungen gemäß Art. 11 der Verfassung von Berlin (§1). Damit wird die Politik für Menschen mit Behinderung zur Querschnittsaufgabe. Genau dies ist mit Disability Mainstreaming gemeint – auch wenn es bisher in Berlin so nicht genannt wurde.


Der Begriff Disability Mainstreaming lehnt sich implizit und explizit an Gender Mainstreaming an. Das Wort Mainstreaming bedeutet, dass ein Thema bzw. eine Aufgabe vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gerückt und überall verankert werden soll. Disability

Mainstreaming heißt also, dass das Anliegen von Menschen mit Behinderung zum wichtigen Bestandteil von Prozessen in Politik, Verwaltung, Gesellschaft und Wissenschaft wird – von Beginn an und nicht erst, nachdem die Entscheidungen gefallen sind. Deshalb ist

Disability Mainstreaming einerseits ein Instrument zur Umsetzung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und andererseits ein Konzept, weil es eine andere Vorgehensweise und ein grundlegendes Umdenken bzw. einen Perspektivenwechsel erfordert.


Seit Juni 2011 liegt die Studie vor. Ihr Ausgangspunkt waren folgende Fragen:

• Geht Behinderung wirklich alle an, so wie es im Titel der Veröffentlichung steht und womit der Begriff Disability Mainstreaming umschrieben werden kann – oder wird sie vor allem als ein Thema gesehen, das bei der Senatsverwaltung für Soziales gut aufgehoben ist?
• Wie kann die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in jedes Verwaltungshandeln integriert werden, auch jenseits „offensichtlicher“ Felder wie der barrierefreien Stadtentwicklung?
• Wie kann eine Sensibilisierung der Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter für die Belange von Menschen mit

Behinderungen erreicht werden?

Ausgangspunkt und Schwerpunkt für die Beantwortung dieser Fragen waren die bei den verschiedenen Senatsverwaltungen angesiedelten Arbeitsgruppen „Menschen mit Behinderung“. mit einem besonderen Augenmerk  auf die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.


Ergebnisse

Die Verankerung des Themas Behinderung

Trotz der gesetzlichen Grundlage wird die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Berlin nach wie vor nicht in allen Senatsverwaltungen als selbstverständliches Thema gesehen. Gleichstellungspolitik für Menschen mit Behinderungen ist noch zu sehr von der Initiative einzelner engagierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhängig.

Derzeit ist das Thema nur bei zwei Senatsverwaltungen strukturell verankert, bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die 2000 die Koordinierungsstelle „Barrierefreies Bauen“ eingerichtet hat.

Die unterschiedliche Gewichtung zeigt sich unter anderem auch am Stellenwert, den die Senatsverwaltungen dem Thema Behinderung bei ihrem Internetauftritt einräumen. Bei der Recherche zeigte sich eine deutlich Konzentration bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, gefolgt von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung an zweiter Stelle.

Insbesondere in Verwaltungen jenseits der „offensichtlichen“ Felder wie der barrierefreien Stadtentwicklung fehlt häufig ein Bewusstsein dafür, dass ein geplantes Projekt, ein Gesetzentwurf oder eine Verordnung Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen haben kann. In anderen Fällen fehlt auch der Wille, was manchmal auch an einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung liegt, wodurch Gleichstellungspolitik für Menschen mit Behinderungen nur als zusätzliche Aufgabe wahrgenommen wird.


Arbeitsgruppen
Die Arbeitsgruppen „Menschen mit Behinderung“ sind unter anderem eine Schnittstelle zwischen der Verwaltung und dem Landesbeirat für Menschen mit Behinderung. Es nehmen daran teil: Vertreter und Vertreterinnen der jeweiligen Verwaltung, der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung und sein Büro, eine Vertreterin, ein Vertreter der für die Umsetzung des LGBG federführenden Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Mitglieder des Landesbeirates für Menschen mit Behinderung bzw. von ihm delegierte Behindertenvertretungen, mindestens ein  Bezirksbeauftragter oder ein Bezirksbeauftragte sowie – themenbezogen – Vertreterinnen und Vertreter von Anstalten des öffentlichen Rechts bzw. sonstiger Einrichtungen, die die Interessen von Menschen mit Behinderung tangieren.

Die Arbeitsgruppen können als ein Instrument zum Erreichen von Partizipation und Disability Mainstreaming gesehen werden. Bisher gibt es diesen Zuschnitt nur in Berlin.

Die Bandbreite der behandelten Themen ist sehr groß. Es werden Bundes- und Landesgesetze (z.B. GKV-Modernisierungsgesetze, Pflegeweiterentwicklungsgesetz, Wohnteilhabegesetz) thematisiert, aber auch nicht abgesenkte Bordsteine an konkreten Stellen in Berlin bzw. die Erreichung der Barrierefreiheit bei Behörden und öffentlich zugänglichen Bauten (z.B. Grimm-Bibliothek, Humboldt-Forum). Andere Themen sind: die Rettung von Menschen mit Behinderungen im Brandfall aus Wohnungen, ein Konzept für den barrierefreien Tourismus, die Einrichtung des Gebärdensprachstudiengangs an der Humboldt-Universität.

Die Arbeitsgruppen sind nur ein Instrument unter mehreren. Insbesondere bei wichtigen Vorgängen sind sie nicht der entscheidende Ort der Kommunikation. In solchen Fällen findet diese direkt zwischen dem Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung und seinem Büro und der jeweiligen Senatsverwaltung oder über die Öffentlichkeit statt.

Die Arbeitsgruppen haben aber einen besonderen Vorteil: Sie ermöglichen einen direkten Austausch, z.B. über konkrete Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen, der über andere Wege deutlich schwerer zu erreichen ist. Auf diese Weise tragen sie unter anderem zur Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung und anderer Akteure bei.

Diese Erfahrungen können wiederum in Konzepte einfließen. Im Verkehrsbereich und bei der Stadtentwicklung ist dies immer wieder der

Fall, ob bei der Entwicklung eines neuen Straßenbahntyps oder bei Umrüstungen von Kleinbussen für den Nachtverkehr. Umgekehrt sind die Arbeitsgruppen für die Mitglieder des Landesbeirates für Menschen mit Behinderung eine gute Erkenntnisquelle. Es kann festgestellt werden: Die Arbeitsgruppen haben sich grundsätzlich bewährt. Sie haben Potenzial und es ist sinnvoll, sie weiterzuentwickeln, damit sie – so, wie es im Koalitionsvertrag des Senats von 2006 vorgesehen war und wie es in dessen Zwischenbericht zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2010 formuliert wurde – zu einem Mitwirkungs- bzw. Konsultationsinstrument werden.

Empfehlungen
Um die Gleichstellungspolitik von Menschen mit Behinderung in Berlin zu befördern, gibt es viele Möglichkeiten. Dazu gehören beispielsweise Schulungen, damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltungen mehr über die Belange von Menschen mit Behinderungen erfahren – insbesondere jenseits der offensichtlichen Felder Soziales und Stadt Stadtentwicklung. Auch das zur Verfügung stellen von Werkzeugen kann hilfreich sein, z.B. eine Checkliste Disability Mainstreaming analog der Checkliste Gender Mainstreaming, insbesondere für Gesetzesvorhaben. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Disability Mainstreaming zu operationalisieren, insbesondere für Bereiche, in denen es nicht schon Normen gibt (wie im Bau- und Kommunikationsbereich). Nicht zuletzt ist eine bessere personelle Ausstattung notwendig, um dem Ziel der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung näher zu kommen.


Dieser Text basiert auf einer Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung – Berlin, vertreten durch den Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung

Projektleitung: Dr. Katrin Grüber
Projektmitarbeiterin: Stefanie Ackermann
Externer Berater: Dr. Michael Spörke

 

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