Laudatio auf Prof. Dr. Michael Seidel
Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust
Lieber Professor Seidel,
sehr geehrte Damen und Herren,
heute hier ein wenig Ihren Werdegang zu schildern und zu begründen, warum Sie genau der richtige Preisträger für den IMEW Preis sind, ist mir eine große Freude, die ich mit Herrn Wunder teile. Seit 2001 kenne ich Sie persönlich und erlebe Ihr Engagement für die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung aus der Nähe.
Aber vielleicht fange ich lieber mal am Anfang an: Sie sind geboren am 11. Mai 1950, haben nach dem Schulbesuch von 1957 bis 1969 das Abitur gemacht.
Von 1971 bis 1976 haben Sie in Berlin Medizin studiert und von 1977 bis 1982 in der Charité ihre Facharztweiterbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie absolviert.
1978 haben Sie Ihre Promotion und 1989 Ihre Habilitation abgeschlossen. Ausbildungen in der Gesprächspsychotherapie und in tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie vervollständigten Ihre Ausbildung.
Bis 1991 blieben Sie an der Charité, zunächst als Stations-, später als Oberarzt in der neurologischen und psychiatrischen Klinik der Humboldt-Universität zu Berlin.
Seit 1991 sind Sie als Psychiater in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld tätig, dort in der Geschäftsleitung für den Behindertenbereich Leitender Arzt und zuständig für den Ärztlichen Dienst.
Weiterhin sind Sie als Lehrbeauftragter im Bereich der Psychiatrie an der Universität Bielefeld tätig.
Ehrenamtlich sind Sie seit 1995 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für geistige Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung, sie leiten das Referat Psychische Erkrankungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Sie sind Mitglied des Councils der International Association for the Scientific Studies of Intellectual Disabilities (IASSID) und weiterhin waren Sie von 2003-2007 Präsident der European Association for Mental Health in Intellectual Disability.
Bei den Fachverbänden der Behindertenhilfe leiten Sie den AK Gesundheitspolitik, der Ihr größtes Anliegen im Namen trägt: Gesundheitspolitik so zu gestalten, dass eine gute gesundheitliche Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung gesichert wird.
Als ich Sie 2001 kennenlernte, lagen gerade die beiden Expertisen zur „Gesundheitlichen Versorgung“ vor, die die Lage eindrucksvoll darstellten – noch heute heißen sie das „gelbe Heft“. Immer noch aktuell findet sich dort, was für eine gute gesundheitliche Versorgung von Menschen mit einer geistigen Behinderung nötig ist und wie es sinnvoll gestaltet werden kann. 2001 versuchten Sie, die Finanzierung einer Studie zu erreichen, die als Datenbasis für die unzureichende Versorgung dienen und Grundlage für eine Verbesserung sein sollte. Denn die Bundesgremien der ärztlichen Selbstverwaltung, die Kostenträger und die Politik wollten Zahlen, Daten, Fakten sehen, in einem Bereich, der in Deutschland bisher nur stiefmütterlich bekannt und schon gar nicht wissenschaftlich untersucht war.
Mit großer Zielstrebigkeit, Eindringlichkeit und Hartnäckigkeit bearbeiteten Sie die verschiedenen Verantwortungsträger für das Ziel einer Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und tun dies bis heute. Ihr Anliegen fand Aufmerksamkeit:
Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 wurde ein § 2 a SGB V eingeführt, der festschreibt, dass die besonderen Belange von Menschen mit einer Behinderung und chronischen Krankheiten zu berücksichtigen sind, und auch ein § 119 a SGB V, der die Einrichtung von Erwachsenenambulanzen nach dem Muster der sozialpädiatrischen Zentren ermöglicht.
Doch an diesen Erfolgen, an diesen neuen Paragraphen zeigt sich auch, wie dick die Bretter sind, die gebohrt werden müssen, um zu tatsächlichen Verbesserungen zu gelangen – denn an der Frage, wie sich diese Vorschriften sinnvoll mit Leben füllen lassen, wird heute noch gearbeitet.
Aber Sie lassen sich nicht entmutigen, gelingt die Finanzierung der Studie durchs BMG nicht, initiieren Sie eine Untersuchung in Bethel über die Auswirkungen der Gesundheitsreform auf behinderte / psychiatrieerfahrene und wohnungslose Menschen – die das bestätigt, was Sie in unzähligen Veranstaltungen, Kongressen und politischen Gesprächen immer wieder zum Thema machen: Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist nicht gut genug. Und jetzt auf neuer, stärkerer Grundlage: die gesundheitliche Versorgung genügt nicht den Anforderungen der UN-Konvention.
In einem Vortragstitel aus dem letzten Jahr findet sich eine gute Zusammenfassung Ihres Engagements seit mehr als zehn Jahren: „Der Wandel der Behindertenhilfe als Herausforderung an die gesundheitliche Versorgung“.
In Komplexeinrichtungen waren Behindertenhilfe und medizinische Institutionen oft eng verknüpft. Seit Menschen mit Behinderungen unter pädagogischen Paradigmen betrachtet werden, sind ihre gesundheitlichen Bedarfe aus dem Blick geraten – und Sie sorgen dafür, dass sie wieder wahrgenommen werden und kämpfen engagiert für ein gute gesundheitliche Versorgung. Damit ist Ihr Name inzwischen in ganz Deutschland mit diesem Thema verknüpft. Nach vielen Anläufen ist das Thema auf dem Ärztetag kürzlich Gegenstand ärztlicher Entschließungen geworden. Der Präsident der Bundesärztekammer Professor Hoppe hat sich dem Thema mit einem eigenen Symposium angenommen. Aktuell finden in Aufarbeitung einer Veranstaltung mit den Patienten- und Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, den Herren Zöller und Hüppe im Februar Gespräche mit den Krankenhausgesellschaften statt, um auch die stationäre Versorgung zu verbessern. Es ist viel zu tun und Sie packen es an!
So ist es nur folgerichtig und freut mich sehr, dass Sie den IMEW-Preis des Jahres 2010 für Ihre zahlreichen Verdienste um die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit einer geistigen Behinderung erhalten.
In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Fachverbände basteln wir weiter an gemeindenahen Strukturen der gesundheitlichen Versorgung, wie sie Menschen mit geistiger Behinderung heute brauchen. Ich freue mich darauf und hoffe, dass Ihr Engagement und Ihre Energie Ihnen und uns noch lange erhalten bleiben – denn neben all der fachlichen Wertschätzung, von der ich schon berichtet habe, sind Sie mir auch als Mensch nahe gekommen. Sie sind warmherzig und lachen gerne, Sie sind engagiert und können heftig werden, wenn es um etwas geht, was Ihnen wichtig ist. Man kann sich gut mit Ihnen streiten und dann wieder gemeinsam Schlachtpläne machen, um das gemeinsame Ziel zu verfolgen. Mit einer Datsche in der Nähe von Berlin, genauer gesagt in Bestensee bekommen die Berlintermine für Sitzungen und politische Treffen einen Akzent von Heimat, manchmal auch eine sehr physische Note. Seit Mai bereichert der Nachwuchs Ihrer Tochter Ihr Leben, und Sie probieren frohgemut auch mal das Leben als Opa. So ist unsere Zusammenarbeit in ganz verschiedenen Aspekten eine Bereicherung für mich.
Gut, dass es Sie gibt!
Wer nun gedacht hat, alles sei gesagt, den muss ich enttäuschen: Weil Sie so vielseitig sind, so wichtig in verschiedenen Bereichen, folgt nun Michael Wunder mit dem zweiten Teil der Laudatio.