Das Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention
Vortrag von Dr. Valentin Aichele, LL.M.
Wissenschaftlicher Referent am Deutschen Institut für Menschenrechte
(nachträglich überarbeitetes Manuskript)
Tagung "Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zwischen Alltag und Vision", 16. April 2008 in Berlin
Eine Veranstaltung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, organisiert vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen des Deutschen Instituts für Menschenrechte (das „Institut“) möchte ich den Veranstaltern und Organisatoren der Veranstaltung für die Einladung herzlich danken. Ich freue mich, über das Innovationspotential des neuen UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen („Behindertenrechtskonvention“)1 sprechen zu können.
Vorstellung des DIMR
Der Deutsche Bundestag hat mit fraktionsübergreifenden Beschluss vom 7. Dezember 2000 die Gründung des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin eingeleitet.2
Seinem Mandat nach soll das Institut die internationalen Menschenrechte fördern und schützen. Es soll dabei eigeninitiativ und unabhängig von jedweden Vorgaben und Weisungen der Bundesregierung und anderen öffentlichen und privaten Stellen handeln. So greift es in seiner Arbeit aus eigener Initiative menschenrechtliche Themen und Fragestellungen in der deutschen Innen- und Außenpolitik auf.
Das Institut wird im Wesentlichen von dem Bundesministerium für Justiz, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Das Institut ist die „Nationale Menschenrechtsinstitution“ in Deutschland.3 Sie wurde von Seiten der Vereinten Nationen als solche anerkannt. Maßstab für die Anerkennung sind die „Grundsätze betreffend die Stellung von nationalen Institutionen“ (die „Pariser Prinzipien“).4
Nationale Menschenrechtsinstitutionen sind ein neuer Typ Organisation. Von Nichtregierungsorganisationen unterscheidet ihn der staatliche Gründungsakt und die staatliche Finanzierung; von den staatlichen Behörden die funktionale und personelle Unabhängigkeit. In ungefähr sechzig Ländern der Welt gibt es eine solche unabhängige Einrichtungen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte.
Seit seiner Gründung begleitet das Institut die Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen, an die sich Deutschland durch Ratifikation gebunden hat. Dazu gehören auf der Ebene der Vereinten Nationen die beiden umfassenden Menschenrechtspakte – der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – aber auch andere Verträge wie das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau.
Mit dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention und der anstehenden Ratifikation durch die Bundesregierung käme ein neues Übereinkommen hinzu.
Innovationspotential
Die Behindertenrechtskonvention birgt unbestritten ein großes Innovationspotential. Dieses Potential soll schlaglichtartig kurz ausgeleuchtet werden.
Die Behindertenrechtskonvention steht zunächst für das “Empowerment” der in dieser und von dieser Gesellschaft behinderten Menschen. Die Konvention bekräftigt die allgemeinen Menschenrechte, die alle Menschen statusunabhängig haben. Sie konkretisiert diese Rechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen und formuliert menschenrechtliche Verpflichtungen und zahlreiche staatliche Handlungsmöglichkeiten, wie diese Rechte geschützt werden können.
Das „Bewusstsein der Menschenwürde“ – die Voraussetzung jedes menschenrechtlichen „Empowerments“ – wird in der Behindertenrechtskonvention noch deutlicher hervorgehoben als in anderen menschenrechtlichen Übereinkommen. Die Konvention fordert entsprechend die Menschenwürde als „Gegenstand notwendiger Bewusstseinsbildung“ ein.
Außerdem steht die neue Konvention für die Überwindung des Defizitansatzes und für die Forderung nach sozialer Inklusion aller Menschen in die Gesellschaft. Nicht zuletzt bringt sie selbst eine gesellschaftliche Wertschätzung von Menschen mit Behinderung und ihren Beitrag zum Ausdruck. Diese Wertschätzung gegenüber Menschen mit Behinderungen fordert die Behindertenrechtskonvention aber auch von Staat und Gesellschaft ein („Diversity-Ansatz“).
Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, hat in seinem Essay “Zum Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention” die innovative Ausrichtung des neuen menschenrechtlichen Instruments bereits entsprechend gewürdigt.5
Bedeutung der Ratifikation
Die Behindertenrechtskonvention wird am 3. Mai 2008 auf der universellen Ebene in Kraft treten. Die Bundesregierung selbst hat die Behindertenrechtskonvention noch nicht ratifiziert, sie hat die Konvention aber im März 2007 gezeichnet.
Die Ratifikation durch Deutschland zu erreichen, wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das die Federführung inne hat, noch in der 16. Legislaturperiode angestrebt. Der Begriff „Ratifikation“ ist ein völkerrechtlicher Fachbegriff. Seine Bedeutung ist in der Alltagssprache wenig bekannt. In der derzeitigen Diskussion wird insbesondere die Frage gestellt, welche Konsequenzen sich aus der Ratifikation ergeben. Auf diese Fragen möchte ich im Folgenden kurz eingehen.
Ratifikation heißt die entsprechend bezeichnete Handlung, durch die Deutschland im internationalen Bereich seine Zustimmung bekundet, durch die Behindertenrechtskonvention gebunden zu sein.6 Innerstaatlich geht der Ratifikation ein parlamentarisches Vertragsgesetz des Deutschen Bundestages voraus. Diesem Gesetz muss der Bundesrat zustimmen.7 Erst auf dieser Grundlage erklärt die Bundesregierung im Außenverhältnis die Ratifikation. Die Erklärung wird beim UNGeneralsekretär in Form einer Urkunde hinterlegt.8
In Bezug auf Ratifikation und Umsetzung wird derzeit diskutiert, in welchem Verhältnis beides zueinander steht. Mit aller Deutlichkeit: Die Umsetzung muss spätestens mit der Ratifikation beginnen.9 Umsetzungsmaßnahmen können mit der Ratifikation eingeleitet, aber auch schon vor Ratifikation ergriffen werden. Im internationalen Vergleich lassen sich durchaus unterschiedliche Herangehensweisen beobachten. Politisch mag es unterschiedliche Auffassungen über das richtige Vorgehen geben. Rechtlich denkbar sind die oben aufgezeigten Wege. Wesentlich ist, dass die Umsetzung tatsächlich mit der Ratifikation beginnt.
Staatliche Verpflichtungen
Die Ratifikation hat für Deutschland rechtliche Bedeutung nach außen und nach innen. Deutschland bindet sich im Außenverhältnis an die Behindertenrechtskonvention. Deutschland verpflichtet sich damit gegenüber der internationalen Gemeinschaft, aber mittelbar auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürger, die Behindertenrechtskonvention einzuhalten und umzusetzen, das heißt insbesondere die dort dargelegten Rechte zu achten, zu schützen und ihre volle Verwirklichung zügig und unter Einsatz verfügbarer Ressourcen anzustrengen.
Verpflichtungen, die aus der Behindertenrechtskonvention erwachsen, richten sich primär an die Träger staatlicher Gewalt. Die Adressaten sind in Deutschland die Parlamente auf der Ebene von Bund und Ländern, aber auch die Verwaltungsbehörden und Gerichte. Die Länder sind unmittelbar verpflichtet, die Konvention im Rahmen ihrer Zuständigkeiten umzusetzen.10
Die Schlüsselbestimmung der Behindertenrechtskonvention, mit der Deutschland sich zur Umsetzung verpflichtet, ist in Artikel 4 der Konvention zu finden. Man spricht diesbezüglich von der „Implementierungsklausel“ menschenrechtlicher Übereinkommen. Diese richtet sich vornehmlich an die Gesetzgeber von Bund und Länder und deren Regierungen.
Die Implementierungsklausel verpflichtet Deutschland ausdrücklich dazu, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu
gewährleisten und zu fördern, in dem es alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken trifft.11
Insbesondere in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet sich Deutschland, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Ressourcen, nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen.12
Hierin steckt ein erheblicher Arbeitsauftrag. In dieser zentralen Bestimmung kommt zum Ausdruck, dass die Behindertenrechtskonvention nicht mit einem Schlage umgesetzt werden kann. Die Umsetzung erfolgt nicht mit der Ratifikation, sondern kann auch im Sinne der Konvention nur als längerfristiger Prozess verstanden werden.
Nach innen ist rechtlich das Vertragsgesetz des Bundestages entscheidend. Durch die Verabschiedung des Vertragsgesetzes wird zunächst der Inhalt des
Übereinkommens in die deutsche Rechtsordnung überführt. Die in der
Behindertenrechtskonvention verankerten Normen erhalten demzufolge die Stellung im Rang einfachen Bundesrechts.13
Die Normen der Behindertenrechtskonvention sind damit geltendes Bundesrecht. Die Annahme des Vertragsgesetzes verbindet der Gesetzgeber mit einem „Rechtsanwendungsbefehl“.14 Das heißt, dass die Behindertenrechtskonvention für alle Gerichte und die Behörden rechtsverbindlich ist.15 Sie sind damit verpflichtet, die unmittelbare Anwendbarkeit einer konkreten Konventionsbestimmung, insbesondere aber Bedeutung und Tragweite im Einzelfall zu prüfen.
Auch für nichtstaatliche Akteure wie die behindertenpolitischen Verbände und
nichtstaatlichen Trägerorganisationen ist die Konvention relevant, wenngleich sie rechtlich unverbindlich ist. Die Ratifikation erhebt sie zur Leitlinie und zum Maßstab gesellschaftlichen und politischen Handelns. Die Konvention bietet deshalb positive Ansätze der Orientierung auch für ihre Arbeit. Es sind vielfältige Ansätze denkbar, wie die Konvention in die Programme und die Arbeit nichtstaatlicher Organisationen integriert werden kann.
Gesellschaftsprojekt “Umsetzung”
Nicht die Ratifikation der Behindertenrechtskonvention ist entscheidend, sondern ihre Umsetzung.
Dass die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention nur als längerfristiges
gesamtgesellschaftliches Anliegen verstanden werden kann, soll hier mit einigen Aspekten verdeutlicht werden.
Ein Grund liegt im dynamisch angelegten Verständnis von „Behinderung“ selbst.
Danach entsteht Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen, die
langfristige Beeinträchtigungen haben oder denen solche zugeschrieben werden, mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren.16 „Behinderung“ wird damit nicht in einer Definition festgeschrieben. Behinderung nach der Behindertenrechtskonvention ist als offenes Konzept angelegt.
Es ist zu erwarten, dass „Behinderungen“ im Sinne der Konvention erst im Rahmen zukünftiger gesellschaftlicher Sensibilisierungs- und Lernprozesse erkennbar werden, beispielsweise im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die seelische Beeinträchtigungen haben.
Offen ist das Konzept von Behinderung außerdem, weil die Konvention auch solche Behinderungen erfasst, die dem technischen Fortschritt geschuldet sind.
Beispielsweise bringen neue Kommunikationstechnologien in der Regel im Zuge der Anwendung neue Behinderungen mit sich, weil mögliche Barrieren im Planungs- und Produktionsprozess nicht vorweggenommen beziehungsweise vermieden werden.
Die Abschaffung von diesen zukünftigen Behinderungen, die Menschen an der
vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern, ist dann die zentrale Aufgabe, die die Konvention stellt.
Andere Gründe sprechen noch dafür, die Umsetzung als längerfristiges Anliegen zu begreifen. Die Behindertenrechtskonvention ist rechtlich gesehen ein komplexes Vertragswerk. Es wird einige Zeit brauchen, bis die Bedeutung und Tragweite der Konvention für die Gesellschaft in Deutschland klar sein wird.
Auch der internationale Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der auf der Grundlage der Behindertenrechtskonvention gegründet werden soll, wird einige Zeit benötigen, um die wesentlichen Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention in Form von Kommentierungen („Allgemeinen Bemerkungen“) darzulegen.
Prinzipien
Im Rahmen der Vereinten Nationen haben sich über die Jahrzehnte Gestaltungsprinzipien herausgebildet, die bei der Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen beachtet werden sollten. Die Erfahrung weltweit hat gezeigt, dass Umsetzungsprozesse in den Gesellschaften eher gelingen und positive Ergebnisse zeigen, wenn diese Gestaltungsprinzipien im Prozess eine Rolle spielen.
Zu diesen Prinzipien gehören beispielsweise die Rechenschaftspflichtigkeit
(„accountability“), Transparenz, Partizipation, Nichtdiskriminierung, Kooperation und Überwachung („monitoring“). Diese Grundsätze finden in den Menschenrechten ihre Grundlage. In die Behindertenrechtskonvention sind sie unterschiedlich deutlich eingeschrieben.
Hervorgehoben werden soll hier beispielhaft der Grundsatz der Partizipation. An
mehreren Stellen stellt die Konvention heraus, dass die Einbeziehung und Mitwirkung von Betroffenen und gegebenenfalls von repräsentativen Organisationen von entscheidender Bedeutung ist.17 Beispielsweise sieht die Konvention verbindlich vor, dass Menschen mit Behinderungen einschließlich Kindern mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, aktiv in die Beratungen mit einbezogen werden sollen.
Diese Prinzipien sind für alle Umsetzungsprozesse in Deutschland relevant. Bei den laufenden Umsetzungsprozessen spielen sie mit unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle. In Bezug auf die Behindertenrechtskonvention stellt sich nun die Aufgabe, sie aktiv zur Geltung zu bringen. Hierfür sind gegebenenfalls neue Handlungsformen zu erproben, um ihnen – vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen – hinreichend Rechnung zu tragen.
Voraussetzungen
Die Umsetzung von Übereinkommen wird begünstigt, wenn bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen gegeben sind. Ganz wichtig ist der politische
(staatliche) Wille, das Potential zur vollen Entfaltung zu bringen.
In Deutschland ist der notwendige staatliche Wille auf Bundesebene klar erkennbar.
Zunächst hat Deutschland sehr konstruktiv an den internationalen
Vertragsverhandlungen in New York mitgewirkt. Deutschland war außerdem mit
anderen Staaten unter den Ersten, die die Behindertenrechtskonvention gezeichnet haben. Die internationale Gemeinschaft hat dieses Engagement Deutschlands für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur Kenntnis genommen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat nunmehr in Vertretung für die Bundesregierung mitgeteilt, dass es die baldige Ratifikation anstrebt.
Das alles sind staatliche Akte, denen weitaus mehr als nur Symbolwert zukommt. Hier gibt es also gute Gründe für die legitime Erwartung, dass die Bundesregierung das Projekt der Behindertenrechtskonvention zügig bis zur Ratifikation bringt und sich anschließend der engagierten Umsetzung zuwendet.
Neben dem staatlichen Willen ist ein menschenrechtsfreundliches Klima zentral.
In vielen anderen Ländern besteht diesbezüglich ein nicht zu überschätzendes
Hindernis, das einer wirksamen Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen entgegensteht. Hierzulande ist das nicht der Fall. Menschenrechte nehmen einen ganz hohen Stellenwert ein.
Darüber hinaus sind die tatsächliche Partizipation von Betroffenen sowie eine aktive Zivilgesellschaft über die sozialen Milieus für die erfolgreiche Umsetzung ebenfalls wichtig. Nur eine breite gesellschaftliche Unterstützung sichert die nachhaltige Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen.
Strukturen zur Umsetzung und Überwachung
Mit diesem Punkt „Strukturen zur Umsetzung und Überwachung“ sind
Entwicklungsmöglichkeiten ausgehend von der Behindertenrechtskonvention
angesprochen, über die bislang bestenfalls in Fachkreisen gesprochen worden ist.
Dass die internationalen und nationalen Strukturen in den völkerrechtlichen
Verträgen mitgeregelt werden, entspricht der Tendenz der jüngeren
Menschenrechtsentwicklungen.
Analog zu den anderen Menschenrechtsverträgen bestimmt die Konvention, dass auf der Ebene der Vereinten Nationen ein Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gebildet werden soll.18 Der Ausschuss soll die nationalen Umsetzungsprozesse von der internationalen Warte her befördern und überwachen.
Seine Arbeitsweise wird sich aller Wahrscheinlichkeit an der Praxis der anderen
internationalen Fachausschüsse zu den anderen menschenrechtlichen
Übereinkommen orientieren. Von seiner Seite her sind Anregungen zu erwarten, die für den Umsetzungsprozess in Deutschland wichtig sind.
In Bezug auf die nationalen Strukturen der Umsetzung enthält die Konvention
interessante Anregungen, die mit der Umsetzung auch Neuerungen bedeuten
können.19
Ein Vertragsstaat hat zunächst nach Maßgabe seiner staatlichen Organisation eine oder mehrere Anlaufstellen („Focal Points“) „innerhalb der Regierung“ („within government“) dieses Übereinkommen zu bestimmen.20 Unter einem „Focal Point“ versteht die Behindertenrechtskonvention entweder Abteilungen oder Einzelpersonen eines Ministeriums oder mehrerer Ministerien.21 Gemeint sind nicht unbedingt „Stellen“, die von außen erreichbar sind, wie es der deutsche Übersetzungstext „Anlaufstellen“ nahe legt. Sondern primär sollen die in der Regierung angesiedelten Stellen die Verantwortung dafür tragen, die Umsetzung in einem Land anzuleiten.
In Deutschland als föderales Land liegt es nahe, dass auch auf der Länderebene Stellen bestimmt werden und eine Stelle die Kommunikation zwischen Bund und Ländern übernimmt und koordiniert. Die Stellen sollten auf Dauer eingerichtet, hinreichend ausgestattet und innerhalb der Regierung möglichst hoch angesiedelt sein. Sie sollten auch sichtbar oder zumindest bekannt sein.
Weiter beauftragt die Konvention den Staat, die Schaffung oder Bestimmung eines staatlichen Koordinationsmechanismus prüfen, der das Ziel hat, die Durchführung der Maßnahmen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen zu befördern. Ein solcher „interministerieller Koordinationsmechanismus“ dient dazu, die Kommunikation und Prozesse zwischen den Ministerien zu koordinieren und abzustimmen.22 Denkbar ist das in Form einer Plattform, die auf einer dauerhaften institutionellen Basis steht.
Eine wichtige Funktion eines solchen Mechanismus bestünde darüber hinaus darin, Transparenz nach außen herzustellen und auch ein Forum für Austausch und Diskussion mit der Zivilgesellschaft zu schaffen. Die Einrichtung eines solchen Mechanismus wäre in Deutschland – im Vergleich zu den bestehenden eher losen Strukturen – in dieser Form ein Novum.
Die Konvention sieht außerdem vor, einen unabhängigen Mechanismus zu
unterhalten, der nicht nur die konventionseigenen Rechte fördert und schützt,
sondern die Durchführung der Behindertenrechtskonvention insgesamt überwacht („Monitoring-Stelle“).23 Bei der Entscheidung über eine solche Stelle soll die jeweilige Regierung die Pariser Prinzipien berücksichtigen. Die Konvention bezieht sich in diesem Punkt unmittelbar auf das Konzept der nationalen Menschenrechtsinstitutionen wie es in Deutschland mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte bereits existiert.
Die Konvention bietet also auch auf dieser Ebene Chancen zu institutionellen
Fortentwicklungen. Deutschland täte gut daran, sich vor der Ratifikation diesen
Fragen zu stellen. Starke Strukturen würden die anstehende Umsetzung der
Konvention unterstützen. Gegebenenfalls könnte auch die Umsetzung der anderen Menschenrechtsverträge von neuen oder gestärkten Strukturen profitieren.
Monitoring
Die neue Behindertenrechtskonvention setzt einen Akzent auf die Überwachung der Umsetzungsprozesse („monitoring“). Die Konvention versteht „monitoring“ als einen notwendigen und selbstverständlichen Prozess, in dessen Zuge die Umsetzung der Konvention – mithilfe einer unabhängigen Stelle – gemeinschaftlich gesteuert und überwacht wird.24
In diesem Zusammenhang spricht die Konvention der Zivilgesellschaft, insbesondere Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisation eine wichtige Rolle zu. Die Zivilgesellschaft und Betroffene sind danach zentrale Akteure in diesem gesellschaftlichen Prozess. Dies geht über aktive Partizipation hinaus, sondern erweitert die Perspektive auf die Rolle der Zivilgesellschaft, die gemeinschaftlich mit anderen die Umsetzung überwacht.
Doch was heißt „monitoring“? Das „monitoring“ kennzeichnet zunächst den
unabhängigen Blick auf soziale Sachverhalte und gesellschaftliche Prozesse. Der
Umsetzungsprozess, der durch die staatlichen Organe angeleitet, von Bund und
Ländern betrieben und auch von gesellschaftlichen Akteuren mit geleistet werden muss, ist grundsätzlich der Beschreibung und Bewertung zugänglich. In diesem Zusammenhang heißt „monitoring“, die Umsetzungsleistungen zu erkennen und anzuerkennen, aber eben auch die Umsetzungsschwächen in allen Bereichen zu benennen und konkrete Maßnahmen einzufordern.
Mit einem „monitoring“ verbindet sich der Anspruch, dass alle Gruppen von
Menschen mit Behinderung gleichberechtigt von der Umsetzung profitieren. Es ist zu verhindern, dass etwa bestimmte Gruppen von behinderten Menschen im Prozess weniger Beachtung finden oder im Verlauf wie im Ergebnis etwa gänzlich außen vor bleiben. Dies könnte beispielsweise Gruppen und Einzelpersonen in Deutschland treffen, deren Interessen nicht oder nicht hinreichend von repräsentativen Organisationen vertreten sind.
„monitoring“ im menschenrechtlichen Bereich bedeutete außerdem, den Wissens- und Erkenntnistransfer von der internationalen Ebene in den nationalen Bereich zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit mit internationalen Fachgremien, insbesondere mit dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, ist hierbei von großer Wichtigkeit. Insbesondere ist dafür zu sorgen, dass seine Empfehlungen in den laufenden Umsetzungsprozess einbezogen werden.
Aber nicht nur die Empfehlungen des Ausschusses sollten für die
Umsetzungsprozesse fruchtbar gemacht werden. Auch andere internationale Akteure geben wichtige Impulse für die innerstaatlichen Entwicklungen im
behindertenpolitischen Bereich.
Dazu gehören beispielsweise die Empfehlungen des Europarates. Jüngst hat der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, Thomas Hammarberg, in seinem Abschlussbericht sehr relevante Empfehlungen gegenüber Deutschland
ausgesprochen, die in Deutschland weitestgehend unbeachtet geblieben sind.25
Oder auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
gegenüber Drittstaaten können der Sache nach auch für Deutschland relevant sein.
Diese Dokumente gilt es sachbezogen aufzuarbeiten, zu bündeln, gegebenenfalls zu konkretisieren und in den Umsetzungsprozess einzubeziehen. Die Übertragung dieser Erkenntnisse in den nationalen Kontext, dieser Brückenschlag von der internationalen zur nationalen Ebene, ist meines Erachtens eine zentrale Aufgabe, die im Rahmen eines „monitoring“ erfüllt werden muss.
In dieser Aufzählung der letzte, aber der Sache nach sehr wichtige Aspekt für den Bereich „monitoring“ ist, politische Verantwortlichkeit zu aktualisieren. Der Staat mit seinen Organen steht in der Verantwortung für die Umsetzung der Konvention. Die Verantwortung findet in der Behindertenrechtskonvention eine rechtliche Grundlage.
„monitoring“ bedeutet deshalb, aus gegebenem Anlass die Entscheidungs- und
Handlungsträger an ihre rechtliche Verpflichtung oder ihre politische Verantwortung zu erinnern.
Zusammenfassung
Die Behindertenrechtskonvention birgt in inhaltlicher und in institutioneller Hinsicht große Chancen. Der thematische Umsetzungsprozess der Konvention sollte spätestens mit der Ratifikation beginnen. Hierzu ergeben sich aus der Konvention entsprechende Verpflichtungen, die im Bundesstaat Bund und Länder tragen.
In Bezug auf die institutionelle Komponente sieht die Konvention verbindlich vor, die nationalen Strukturen zur Umsetzung der Konvention zu prüfen und zu stärken. Um die Umsetzung nach der Ratifikation sofort beginnen zu können, ist es sinnvoll, die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Fortentwicklung schon jetzt einzuleiten.
Die Konvention wird nach der Ratifikation durch Deutschland zur Leitlinie und zum Maßstab für Politik und gesellschaftliche Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten. Die faktische Lebenslage von Menschen mit Behinderungen ist mit dem Anspruch der Konvention in Übereinstimmung zu bringen. Darin liegt die große Herausforderung.
Meiner Einschätzung nach werden die Aufgaben erst im Zuge eines Umsetzungsprozesses erst richtig deutlich werden. Dieser Prozess wird ein gesellschaftlicher Lernprozess sein. Erkennbar werden aber dann auch, das sei auch gesagt, nicht nur die Möglichkeiten der Konvention, sondern auch ihre Grenzen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Konvention konkrete Antworten auf alle praktischen Fragestellungen von Menschen mit Behinderung bietet. Es wird Fragen geben, die vor dem Hintergrund der Konvention nicht oder zumindest nicht eindeutig zu beantworten sind. Die Herausforderung für die am Umsetzungsprozess beteiligten Personen wird deshalb auch sein, ein Verständnis von der rechtlichen Reichweite zu entwickeln, aber auch von den Grenzen der Konvention.
Diese Grenzen, denen eine menschenrechtliche Konvention unterliegt, sind kein
„Hemmschuh“ für politisches Handeln – im Gegenteil. Eine weitereichende politische Umsetzung ist immer denkbar. Dies wird im Übrigen auch von der Konvention selbst vorgesehen und geschützt.26
Die Umsetzung ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das mit einem
längerfristigen Anliegen verbunden ist. Das Ziel der Konvention, den vollen und
gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte durch alle Menschen mit
Behinderungen zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnende Würde zu fördern, kann nicht auf einen Schlag erreicht werden. Diejenigen in Deutschland, die hoffen, mit der Ratifikation sei das Ziel der Behindertenrechtskonvention erreicht, liegen daher nicht richtig. Aber auch diejenigen, die befürchten, dass mit erfolgter Ratifikation der Druck zu gesellschaftlichen Veränderungen zugunsten der Menschenrechte von Menschen mit Behinderung nachlassen wird, gehen ebenfalls fehl.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
1 Siehe Convention on the Rights of Persons with Disabilities, UN Doc. A/RES/61/106 vom 24. Januar 2007, Annex I (im Folgenden abgekürzt mit „Behindertenrechtskonvention“).
2 Bundestagsdrucksache 14/4801 vom 28.11.2000.
3 Siehe hierzu Valentin Aichele (2003): Nationale Menschenrechtsinstitutionen: Ein Beitrag zur nationalen Implementierung von Menschenrechten, Frankfurt am Main: Lang.
4 Siehe dazu www.nhri.net.
5 Siehe Heiner Bielefeldt (2006): Zum Innovationspotential der UN-Behindertenkonvention, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
6 Vgl. Artikel 2 (b) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969.
7 Siehe Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz.
8 Vgl. Artikel 41 und 45 Behindertenrechtskonvention.
9 Schon kurze Zeit nach dem Inkrafttreten für Deutschland sind konkrete, zielgerichtete und effektive Schritte einzuleiten, um die vorgegebene Zielstellung zu erreichen. Vgl. dazu UNAusschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1990): General Comment Nr. 3, UN Doc. CESCR E/1991/23 vom 14. Dezember 1990, Ziffer 2.
10 Das Übereinkommen ist nach dem völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben einzuhalten (vgl. 26 WVR). Es ist dabei aus völkerrechtlicher Sicht ist völlig unbedeutend, dass die Bundesrepublik Deutschland ein föderal aufgebauter Staat ist. Vgl. auch Artikel 4 Absatz 5 Behindertenrechtskonvention.
11 Artikel 4 Absatz 1 Behindertenrechtskonvention „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderung ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, a) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem
Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen; b) alle geeigneten Maßnahmen
einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung darstellen (…).“
12 Siehe Artikel 4 Absatz 2 Behindertenrechtskonvention. Diese Verpflichtung steht neben denjenigen aus der Behindertenrechtskonvention, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind, Artikel 4 Absatz 2 letzter Hs. Behindertenrechtskonvention. Nach dem UNAusschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte gehören zu den unmittelbar anwendbaren Vertragsverpflichten neben den Schritten zur progressiven
Realisierung dazu das Diskriminierungsverbot und die Kernverpflichtungen der jeweiligen Rechte. Siehe dazu UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1990):
General Comment Nr. 3; UN Doc. CESCR E/1991/23 vom 14. Dezember 1990.
13 So ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 1 (369) 410; 29 (248) 358; 99 (145) 158.
14 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BverfGE 90 (286) 364; 104 (151) 209.
15 Vgl. Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz.
16 Vgl. Präambel e) und Artikel 1 Absatz 2 Behindertenrechtskonvention.
17 Siehe Artikel 4 Absatz 3. Vgl. auch Artikel 33 Absatz 2 Behindertenrechtskonvention und die Präambel (o).
18 Siehe Artikel 34 Behindertenrechtskonvention.
19 Siehe Artikel 33 Behindertenrechtskonvention.
20 In diesen Punkten ist die vorliegende deutsche Übersetzung zu Artikel 33
Behindertenrechtskonvention nicht ganz genau. Zunächst ist die Übersetzung
„Anlaufstellen“ fraglich, weil sie einen anderen Sinn nahe legt. Darüber hinaus geht im Zuge der Übersetzung verloren, dass diese Stelle(n) innerhalb der Regierung („within government“) benannt werden soll(en).
21 Siehe dazu United Nations (2007): From exclusion to equality. Realizing the rights of persons with disabilities. Handbook for Parliamentarians on the Convention on the Rights of Persons with Disabilities and its Optional Protocol, Geneva, S. 94.
22 Ibid., S. 96.
23 Ibid., S. 96 ff. Vgl. auch Artikel 33 Absatz 2 Behindertenrechtskonvention.
24 Vgl. hierzu Artikel 33 Absatz 3 Behindertenrechtskonvention.
25 Siehe dazu Bericht des Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg. Über seinen Besuch in Deutschland; CommDH (2007)14 vom 11. Juli 2007.
26 Siehe dazu Artikel 4 Absatz 4 UN-BRK.