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Sterben wie im Märchen

Beitrag von Dr. Ilja Seifert, MdB
Tagung "Das Sterben in die Mitte holen", 11. November 2005 in Köln

Gemeinsame Tagung des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft, der Heinrich-Böll-Stiftung und des Deutschen Behindertenrates

Als ein Naher
Heut'
mir starb, brach
Durch dichte Wolken sich
Scharf gebündelt
ein Strahl aus der Sonne.
Mancher mochte
sehen
Eine Himmelsleiter
für ihn.
Mir ist es
ein Frühlingsgruß.
Und beides
ist tröstlich.

(2005)

Es war einmal ein Müller. Als er sein Ende nahen fühlte, rief er seine Familie zusammen und sprach: "Du, Ältester, bekommst die Mühle. Dir, Mittlerer, hinterlasse ich den Esel. Und Du, Jüngster, sollst mit dem Kater Dein Glück machen." Als er so alles geregelt sah, starb er friedlich im Kreise seiner Lieben.

Wie das Märchen weitergeht, ist allgemein bekannt.

Seltener steht dieser Anfang im Mittelpunkt einer Betrachtung. Liegt das an der ruhigen Gelassenheit, die diese Szene ausstrahlt? Oder an ihrer Märchenhaftigkeit?

Sterben im Kreise der Familie! Ringsum Wärme. In Ruhe seine Angelegenheiten ein letztes Mal ordnen. Die Lieben um sich haben. Ohne Pathos, ohne sentimentale Rührseeligkeit. Sich von ihnen verabschieden können. Die Würde des Augenblicks genießen.

Traumhaft! Märchenhaft.

Wer wöllte das nicht? Sterben wie im Märchen.

Wir aber leben in der Wirklichkeit. Und wir sterben auch wirklich. Eine ernste Angelegenheit. Aber wir verdrängen sie. Reden kaum darüber. Wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen, wenn es soweit ist. Weder beim eigenen Sterben - das kann man nun mal nicht "üben" -, noch, wenn die Liebsten von uns gehen.

Wo und wie wird heutzutage also gestorben? Was wird dabei von wem getan? Was wird gesagt? Oder wie laut wird geschwiegen?

Wer wagt denn auszusprechen, dass es zu Ende geht? Ärzte versuchen - oft in verzweifelter Hilflosigkeit - noch Heilungschancen auszuloten. Oder spiegeln sie sie den Betroffenen, den Angehörigen und sich selbst nur vor? Ist es für sie zu schwer, diese Wahrheit zu sagen? Dürfen sie es womöglich gar nicht? Jedenfalls sterben viele Menschen im Krankenhaus. Als Letzten sehen sie ihre Ärztin oder den Arzt. Manchmal ist es auch eine Schwester, die ihnen die Hand hält.

Wenn sie dazu Zeit finden! Kosteneinsparprogramme im Gesundheitswesen verhindern das immer häufiger.

Also bleibt gläubigen Menschen der Priester. Vielleicht spendet seine Anwesenheit dieser oder jenem Trost? Die Liebe der Angehörigen kann er nicht ersetzen.

Und ihnen das Abschied-Nehmen auch nicht.

Manche finden Sterbebegleitung im Hospiz. Hier ist das "Tabu" allgegenwärtig. Ein bewusster Umgang mit dem letzten Lebensabschnitt. Fast könnte man meinen, hier seien wir dem Märchentraum am nächsten.

Aber Hospize sind rar. Und alles andere als billig.

Und so manche/mancher hat weder im Leben noch beim Sterben das Problem, ihr/sein Vermögen zu ordnen, sondern irgendwie das Da-Sein zu fristen. Oft ohne Ver-Bindung zur Familie. Missverstanden von der Umgebung, nicht selten geächtet. Sei es wegen mangelhafter Hygiene, sei es wegen ungewöhnlicher Eigenarten, sei es wegen körperlicher Merkmale, die dem werbeträchtigen Schönheitsideal wenig entgegen kommen, sei es wegen anderer "Auffälligkeiten". Wenn diese Menschen sterben, gibt es nichts zu erben. Jedenfalls nichts materiell Wertvolles. Es ginge also "nur" um Anwesenheit. Darum, sie/ihn nicht einsam sterben, womöglich qualvoll hinter einer Parkbank verrecken zu lassen.

Es geht um die Würde jedes einzelnen Menschen. Sie reicht über das Leben hinaus. Unsere Beisetzungsrituale bezeugen das. Aber im Moment des Sterbens wissen wir oft nicht, wie damit umzugehen sei.

Ich weiß von vielen Menschen - darunter solche mit sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen -, die ihre Familie praktisch nicht kennen. Sie leben in Einrichtungen. Ihr Alltag wird von Hausordnungen reguliert. Ihre Kommunikation unterliegt den Zwängen des Dienstplans der Angestellten. "Freunde" werden ihnen per Zimmerbelegung zugeteilt. Auch hier sind es bestenfalls der Pfarrer oder eine Diakonin, die sich von Berufs wegen mal nach dem Seelenheil der/des Betreffenden erkundigen.

Im Zeitregime des Heims ist Sterbebegleitung kein abrechenbarer Faktor. Manchmal gibt es - ähnlich wie in etlichen Krankenhäusern - separate Räume, in die die Betten derjenigen geschoben werden, bei denen zu vermuten ist, dass sie nicht mehr lange leben. Nicht wenige verbrachten schon mehrfach etliche Tage, manchmal Wochen in diesen Séparées. Sie überlebten einfach verschiedene Krankheiten.

Warum versammeln sich nicht Mitbewohner/ innen - ähnlich der Familie im Märchen - um Sterbende? Warum wagen Betroffene es kaum, sie - analog zum Vater, der sein Ende nahen fühlt - zu sich zu rufen? Wird ihnen diese Möglichkeit überhaupt irgendwann im Leben eröffnet? Oder "lohnt" es sich nicht, weil eh keine Angelegenheiten zu ordnen - sprich: kein Vermögen zu vererben - ist?

Und da bin ich wieder bei der Familie. Es soll ja auch die noch geben. Warum wagt selbst in solchen Gemeinschaften, die gemeinhin - und auch von den Beteiligten selbst - als gut funktionierend betrachtet werden, kaum jemand, sich ihr/sein Lebensende als gemeinsame Erfahrung vorzustellen? Und diesen Wunsch laut zu äußern?

Merkwürdigerweise fürchten sich nur wenige Menschen vor dem Tod. Aber sehr viele vor dem Sterben.

Niemand möchte von Maschinen künstlich in einem Leben gehalten werden, das man - jedenfalls nicht, wenn man sich im Vollbesitz jeglicher Gesundheit, Schönheit und Energie diese Situation vorstellt - eigentlich nicht mehr als ein solches ansieht. Niemand möchte unter quälenden Schmerzen sehenden Auges und wachen Geistes die eigene Körperlichkeit dahinsiechen erleben.

Und kaum jemand möchte seinen liebsten Angehörigen und besten Freunden zumuten, dem Sterben beizuwohnen. Unsere Kultur, all unsere Erziehung, unsere eigene Angst vor der Begegnung mit dem Tod lassen uns vor derartigen Handlungen zurückscheuen. Ja, wir schämen uns sogar solcher Gedanken-Wünsche, falls sie denn irgendwie aufkeimen sollten.

Warum eigentlich?

Viele Märchen spiegeln sehr reale Gesellschaften wider. Indem sie Wünsche, Sehnsüchte, Träume in Erfüllung gehen lassen, zeigen sie Möglichkeiten auf. Handlungsoptionen. Unsere Wirklichkeit ist nicht unveränderbar.

Lasst uns also das Sterben in die Mitte holen!

Asche
Schwer fällt die Gewöhnung mir,
Daß ich nicht
Mehr bin
Und sein werde
Bei Dir.
(2000)

© Copyright: Ilja Seifert
Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung

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