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Wie wirkt Diskriminierung?

Vortrag von Prof. Dr. Birgit Rommelspacher

Tagung "Ethik und Behinderung - Vom Paradigmenwechsel zur Praxis der Anerkennung", 12. Mai 2006 in Berlin

Kooperationsveranstaltung mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Katholischen Akademie in Berlin

Inhalt

Vorbemerkung

  1. Was ist Diskriminierung?
  2. Wie wirkt Diskriminierung auf behinderte Menschen?
  3. Wie wirkt Diskriminierung auf die Diskriminierenden?

Literatur

Vorbemerkung

Bei Diskriminierungen sind immer mehrere beteiligt, nämlich die, die diskriminiert werden und die die diskriminieren. Oft sind auch noch indirekt Beteiligte davon betroffen. So können etwa unter der Diskriminierung eines bestimmten Behinderten auch enge Vertraute von ihm oder auch andere behinderte Menschen leiden. Mitbeteiligt an der Diskriminierung sind zudem auch die, die Diskriminierungen geschehen lassen und möglich machen und nicht nur diejenigen, die die Diskriminierung unmittelbar ausüben. Das gilt insbesondere auch für institutionalisierte Formen der Diskriminierung, wie bestimmte gesetzliche Regelungen, die Architektur der Städte, der öffentliche Personennahverkehr... daran sind eine Vielzahl von Menschen beteiligt. Ja man könnte sagen, dass in ihnen die Vorstellungen der Mehrheit in eine Struktur gegossen worden sind.

Wenn wir der Wirkung von Diskriminierung nachgehen wollen, müssen wir also nicht nur fragen, was macht das mit denen, auf die die Diskriminierung abzielt, sondern auch mit denen, die sie veranlassen und ausüben. Im Fall der Behindertenfeindlichkeit suggeriert das eine klare Grenze zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, wie wenn es sich dabei um jeweils homogene, klar geschiedene Gruppen handelte. Aber auch innerhalb dieser Gruppen gibt es viele Unterschiede und außerdem ist die Definition von behindert und nicht-behindert keineswegs immer eindeutig. Allerdings setzt diese Unklarheit nicht die Tatsache der Diskriminierung selbst außer Kraft; mehr noch, Behinderung wird ganz wesentlich durch Diskriminierung hergestellt und alltäglich reproduziert. Gleichwohl ist wiederum keineswegs klar, was Diskriminierung ist, sondern auch das ist - und das soll im Folgenden das Thema sein - ein umstrittenes Feld.

1. Was ist Diskriminierung?

Die soziologische Definition besagt, dass Diskriminierung dann vorliegt, wenn Menschen, die einer Minderheit angehören, im Vergleich zu Mitgliedern der Mehrheit weniger Lebenschancen, das heißt weniger Zugang zu Ressourcen und weniger Chancen zur Teilhabe an der Gesellschaft haben. Das trifft in vielfältiger Weise auf behinderte Menschen zu, und die Barrieren, die ihnen den gleichberechtigten Zugang zur Gesellschaft verstellen, sind unschwer zu erkennen. Weniger offensichtlich ist die Verweigerung von symbolischer Macht, die bei behinderten Menschen ganz besonders greift. Symbolische Macht bezieht sich auf das Prestige, das den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft zugeschrieben wird: Wer hat das Sagen, wer wird gehört, wer wichtig genommen oder sogar bewundert.

Symbolische Diskriminierung verweigert gesellschaftliches Ansehen: Die Anderen werden unwichtig gemacht, man hat kein Interesse an ihnen und weiß nichts von ihnen. Entsprechende Themen finden keine Beachtung, weder in der Öffentlichkeit noch in Form individuellen Interesses. So haben z.B. Studierende einer Projektgruppe an der Alice Salomon-Fachhochschule (ASFH) in Berlin im Wintersemester 2005/2006 eine Befragung zum Thema Behinderung an der Hochschule durchgeführt. Dabei haben die meisten behinderten Studierenden die Fragebögen zurückgeschickt und ausführlich beantwortet, während von mehreren hundert Fragebögen, die an die nicht-behinderten Studierenden verteilt wurden, gerade mal ein Dutzend zurück kamen. Das Thema geht sie scheinbar nichts an.

Was bedeutet nun Diskriminierung aus Sicht der Betroffenen? Sie zeigt sich in allem, was sie einschränkt, herabsetzt und verletzt aufgrund ihres Behindert-Seins. Dabei gibt es natürlich individuelle Unterschiede: Der eine kann durch eine Bemerkung verletzt werden, die dem anderen wenig ausmacht. Auch spielen die Umstände eine Rolle. So kann etwas z.B. in einer ungeschützten Situation sehr viel bedrohlicher sein als in einer, wo sich der Betreffende sicher fühlt.

Aus Sicht des Diskriminierenden liegt dann Diskriminierung vor, wenn er jemand verletzen und herabsetzen will. Das heißt für ihn ist die Absicht entscheidend. Die Folgen einer Handlung müssen jedoch nicht mit ihrer Intention zusammen fallen. So kann auch wohlmeinendes Verhalten diskriminieren, z.B. mit Fragen wie: "Wie kommen Sie denn mit Ihrer Behinderung zurecht?" Häufig ergänzt durch ein aufmunterndes: "Das machen Sie ja prima!" Viele Behinderte empfinden diese Fragen und Aufmunterungen als übergriffig. Sie zielen ihrer Erfahrung nach meist nicht auf ein tatsächliches Gespräch ab, sondern sind eher Floskeln, die die Begegnung ritualisieren - auf Kosten der Behinderten, die wieder einmal ohne Umschweife auf ihr Behindert-Sein angesprochen und darauf reduziert werden.

Was gut gemeint ist, kann nicht diskriminierend sein, so jedoch die Ansicht des Diskriminierenden. Beharrt er auf dieser Position, nimmt er dem anderen das Recht seine Sichtweise einzubringen. Ihm wird gewissermaßen nicht erlaubt, eine solche Frage als Diskriminierung zu empfinden: Was Diskriminierung ist bestimme ich! Nach diesem Motto wird der Streit um die Definition von Diskriminierung selbst zu einer Quelle von Diskriminierung. Über das bewusste und aktuelle Geschehen hinaus geht es dabei also unterschwellig auch um einen Kampf um Anerkennung.

Diskriminierung ist ein komplexer sozialer Prozess, in den unterschiedliche Perspektiven einfließen. Dabei können sich sowohl die subjektiven Interpretationen der Beteiligten wie auch deren "objektive" Wirkung unterscheiden, denn Diskriminierung lässt sich weder mit der individuellen Absicht noch mit der subjektiven Betroffenheit alleine hinreichend beschreiben. Je mehr zudem die Sichtweise der Diskriminierenden von der der Diskriminierten abweicht, desto mehr kann der Kampf um die Definition von Diskriminierung selbst zum Anlass von Diskriminierung werden.

2. Wie wirkt Diskriminierung auf behinderte Menschen

Eine Grundannahme über die Wirkung von Diskriminierung im Alltagsverständnis wie auch in der Sozialpsychologie ist die, dass Diskriminierungen sich vor allem in einem geringen Selbstbewusstsein der Betroffenen niederschlagen. Je geringer die Achtung der Umwelt, desto geringer die Selbstachtung, so die These. Dieser Annahme liegt die so genannte Spiegel-Theorie zu Grunde, nach der das Subjekt sich im Spiegel der anderen erkennt, und die Wertschätzung der anderen sich auch in einem entsprechenden Selbstwertempfinden widerspiegelt.

Die empirische Forschung zeigt jedoch, dass dies keineswegs so der Fall ist. So haben etwa Lernbehinderte und Sprachbehinderte nicht unbedingt ein negatives Selbstwertgefühl, obwohl sie vielfachen negativen Reaktionen aus der Umwelt ausgesetzt sind (Cloerkes 1997). Untersuchungen aus den USA zeigen, dass auch ethnische Minderheiten trotz ihrer Diskriminierungen kein negatives Selbstbewusstsein haben müssen. Beispielsweise haben AfroamerikanerInnen kein geringeres Selbstbewusstsein im Vergleich zu weißen US-AmerikanerInnen (Crocker & Quinn 1998). Die Erklärung dafür ist, dass es entscheidend darauf ankommt, wie die Betroffenen die Diskriminierung interpretieren: Wird sie als berechtigt akzeptiert oder als unzulässig zurückgewiesen. Wird dem anderen zugestanden, ein Urteil über einen selbst zu fällen oder wird ihm das Recht und die Kompetenz dafür abgesprochen und etwa abwertende Äußerungen als Ressentiments erkannt.

Wie sehr die Wirkung von Diskriminierung von der Interpretation der Betroffenen abhängt, zeigt die Schilderung von Ulrike Gottschalk (1999), in der sie beschreibt, welche Änderungen in ihr vorgingen, nachdem sie von der US-amerikanischen independent living Bewegung gehört hatte:

"Alle Identifikationsfiguren in den Büchern und Filmen seit meiner Kindheit waren nicht behindert. Auf die Behinderten, die dort vorkamen, war stets ein Blick voll Mitleid, Bedauern, Abscheu, Entsetzen oder aber Bewunderung, der ebenfalls Gleichheit ausschließende Distanzierung enthielt, gerichtet. … Wie viele Jahre hörte ich die Stimme, die mich zu jemandem erklärte, der hätte verhütet werden müssen? Wie tief drang dieses Bild, diese Stimme in mich ein? Die Stimme sagte, dass ich schuld sei. Schuld, wenn ich all die Treppen nicht hoch komme, schuld, wenn mein Rollstuhl wieder einmal nicht durch eine Toilettentüre passt, schuld, wenn ich nicht in den Bus hineinkomme, schuld, dass mir der Zugang zu tausend Lebensbereichen verbaut ist. Schuld, weil ich bin, wie ich bin, denn wie ich hat einen Mensch nicht zu sein.

Und da gab es nun welche, die alles umdrehten, die sagten, ich bin da, ich habe ein Existenzrecht, ich bin ein Mensch, und ich bin ein Bürger, ich habe Menschenrechte, ich habe Bürgerrechte. Wenn ich in ein Gebäude nicht hineinkomme, sind die schuld, die versäumten, einen Fahrstuhl zu bauen. Nicht mein Rollstuhl ist zu breit, sondern die Tür ist zu schmal. Die Verkehrsmittel, die ich nicht benutzen kann, nehmen mir das Recht auf Mobilität.

Eine Instanz, die sagte: Du bist richtig, die Umwelt ist falsch. Ich ging zu Demonstrationen, beteiligte mich an Straßenblockaden und Besetzungen von Senatsgebäuden, um für mich und andere mehr Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erzwingen." (S.104 f.).

Aufgrund der neuen Sichtweise konnte sie nun Diskriminierungen als solche erkennen und zurückzuweisen. Dazu bedurfte sie des Anstosses durch andere. Zuvor war sie ihrer Umwelt und den hier herrschenden Realitätsdeutungen alleine ausgeliefert gewesen. Sie übernahm die Sichtweise der übergroßen Mehrheit, die nicht nur ihr reales soziales Umfeld bestimmte, sondern auch das symbolische Universum ihrer Helden seit ihren Kindertagen. Dies zeigt nicht nur, wie viel Kraft es kostet, sich aus den herrschenden Normalitätsdefinitionen zu lösen, sondern wie umfassend die Mehrheit ihr Selbst- und Weltbild absichert.

Werden Diskriminierungen als solche erkannt, besteht jedoch auch die Gefahr, alle negativen Bewertungen als Diskriminierung zu interpretieren. Denn für einen Behinderten ist es keineswegs einfach zu erkennen, ob beispielsweise eine unfreundliche Reaktion auf die Tatsache seines Behindert-Seins abzielt oder dies eine ganz "normale" Umgangsform der betreffenden Person darstellt. Diese Ungewissheit wird in der Fachsprache mit dem Begriff der "Attribuierungs-Ambivalenz" bezeichnet, also der Ambivalenz ein Verhalten einer bestimmten Ursache zuzuschreiben (zu attribuieren). Mit einiger Erfahrung können die Betreffenden zwar lernen das Verhalten der anderen immer besser einzuschätzen, aber sicher können sie sich nie sein. Insofern muss gewissermaßen auch das Behinderten-Sein erlernt werden.

Diskriminierungen sind nicht nur schwer zu erkennen wenn der Kontext unklar ist, sondern auch wenn sie sich in alltäglichen Umgangformen verbergen. Der mitleidsvolle Blick, das automatische Übergehen, die ständige Nicht-Thematisierung sind so "normal", dass sie auch den Betroffenen kaum mehr auffallen. Sie haben sich daran gewöhnt. Diese Diskriminierungen, die sich in Alltagsroutinen verbergen, scheinen einer großartigen Zurückweisung gar nicht wert zu sein. Ihre Beiläufigkeit katapultiert auch jeden, der sich dagegenstellt, aus dem Konsens der "Normalen" heraus und stigmatisiert ihn als Störer und Spielverderber. Gleichwohl lösen sie unterschwelligen Stress aus. Infolgedessen kann sich die angesammelte Frustration auch bei einem nichtigen Anlass entladen. Die anderen verstehen diese Reaktion dann nicht und halten den Betreffenden für übersensibel. Insofern kann die Kumulation von Diskriminierung selbst wiederum Auslöser für erneute Ausgrenzung sein.

Der Umgang mit Diskriminierung wird besonders auch dann erschwert, wenn der Widerstand dagegen direkt selbst unterdrückt wird ("victim oppression" Jean Harvey 1999), etwa wenn die Diskriminierten in die Komplizenschaft gezwungen werden und ihnen suggeriert wird, dass sie es selbst ja so wollen; etwa wenn das Meiden von Behinderten durch Nicht-Behinderte ihnen damit erklärt wird, dass sie doch gerne selbst "unter sich" bleiben wollen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Diskriminierung immer auch der Interpretation durch die Diskriminierten bedarf. Erkennen sie Diskriminierung nicht als eine solche, ist die Gefahr groß, dass sie diese als "normal" oder gar als "gerechtfertigt" akzeptieren. Diskriminierungen können aber auch zurückgewiesen werden. Voraussetzung dafür ist allerdings,

  • dass die Diskriminierung identifiziert und erkannt wird
  • dass ihr die richtigen Ursachen zugeordnet werden und
  • dass es Unterstützungsmöglichkeiten gibt, um sich dagegen zu wehren.

Gerade letzteres ist angesichts der symbolischen Diskriminierung, d.h. dem Unwichtig-machen, dem Des-Interesse und der De-Thematisierung, der Behinderte vielfach ausgesetzt sind, von ganz entscheidender Bedeutung.

Diskriminierung kann aber auch eine Herausforderung sein, die bei den Diskriminierten besondere Fähigkeiten entwickeln lassen. So wurden behinderte Frauen in Leitungspositionen in einer Untersuchung in den USA über die Bedeutung der Behinderung für ihre Karriere befragt (Kasnitz 2001). Bei den meisten spielte sie eine wichtige Rolle. Eine der Befragten meinte zum Beispiel, dass sie ohne Behinderung wohl zu Hause gesessen, auf einen Mann gewartet und Kinder bekommen hätte. Ihr war die weibliche Normalbiografie versperrt. Deshalb suchte sie einen neuen Weg für sich. Das gilt auch für eine andere, die sagte, sie wäre mit ihrer Behinderung ohnehin immer aufgefallen. "Dann kann ich auch gleich den Mund aufmachen", sagte sie sich, "verstecken kann ich mich sowieso nicht". Die Anonymität war für sie keine Option. Die Normalität der anderen galt für sie nicht und so schaffte sie sich eine eigene. So kann der Ausschluss aus der Normalität neue Freiräume erschließen.

Dabei soll keinesfalls die destruktive Kraft von Diskriminierung relativiert werden. Aber unter günstigen Bedingungen kann die Verweigerung von Normalität soviel Kräfte mobilisieren, dass neue Wege erschlossen werden, um der Normalitätsdefinition der anderen eine eigene entgegenzusetzen.

3. Wie wirkt Diskriminierung auf die Diskriminierenden?

Wenn Behinderte diskriminiert werden, sind Nichtbehinderte privilegiert. Das ist die logische Folge, denn der Gegenbegriff zu Diskriminierung ist Privilegierung. Wie sieht nun die Privilegierung in dem Zusammenhang aus? Analog der oben angeführten soziologischen Definition von Diskriminierung ist Privilegierung aus gesellschaftlicher Sicht der Zugang zu mehr Chancen, Wahlmöglichkeiten und mehr Macht im Vergleich zu anderen auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.

Aus Sicht der Behinderten ist die Privilegierung der Nichtbehinderten unschwer zu erkennen: Sie besteht darin in der Norm zu leben und nicht aus der Rolle zu fallen. Ihre Privilegierung besteht im leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildungssystem. Soziale Beziehungen können leichter aufgenommen werden, man hat mehr Chancen einen Partner/eine Partnerin zu finden. Das praktische Leben ist einfacher. Die Nichtbehinderten leben in einer Welt, die für sie gemacht ist und in der sie sich repräsentiert fühlen. Sie begegnen einem in Filmen, Medien und den Schulbüchern - sie repräsentieren Normalität.

Aus Sicht der Nichtbehinderten ist das alles kein Privileg. Die Normalität ist so normal, dass sie eben nicht etwas Besonderes ist. Deshalb können Nicht-Behinderte in der Regel zwar Diskriminierungen von Behinderten erkennen, selten aber ihre eigene Privilegierung. Allerdings ist dennoch davon auszugehen, dass sie davon Kenntnis haben, denn nicht anders ist zu erklären, dass sie ihre Privilegien in der Regel entschieden verteidigen, wenn sie in Frage gestellt werden. Dazu einige Beispiele:

Bestätigen von Hierarchien: Sobald Behinderte selbstbewusst oder gar fordernd auftreten, löst das bei Nichtbehinderten oft Irritationen, zuweilen sogar Aggressionen aus. So z.B. wenn eine Behinderte eine angebotene Hilfe ablehnt. Das wird vielfach als Empfindlichkeit, wenn nicht gar als Bösartigkeit interpretiert. So berichtet eine Frau in einem Interview mit Dietke Sanders von einem solchen Vorfall. Ihre Reaktion auf die Zurückweisung durch die Behinderte schildert sie folgendermaßen:

"Ich habe keine Lust, mich anmachen zu lassen. Was ich anders gemeint hatte, kommt bei denen ganz anderes an, nämlich, als stelle ich mich über sie... Das ist vielleicht auch, die soll Dankbarkeit zeigen, die steht ja unter mir, die soll demütiges Verhalten haben. Und wenn die auf einmal mir eins drüber gibt, dass ich dann auch merke, und jetzt geht der Kampf los" (1999: S. 83 f.).

Der Spaß hört also ganz schnell auf, wenn die Beteiligten nicht die für sie vorgesehenen Rollen einnehmen und nicht die Hierarchie zwischen der Hilfe-gebenden und der Hilfe-bedürftigen bestätigen.

Funktionalisierungen: Hierarchien drücken sich auch darin aus, wer wen für sich funktionalisiert. Verweigern sich die Betreffenden solchen Funktionalisierungen, wird dies wiederum oft als Aggression interpretiert. Zum Beispiel werden im direkten Umgang miteinander oft Unsicherheiten und Ängste auf die jeweils Schwächeren übertragen. So erzählte eine blinde Frau, dass sie sehr häufig von allen möglichen fremden Menschen angefasst wird:

"Sie fassen dich ständig an und sagen dann 'keine Angst!' Eigentlich müssten sie sagen: 'Ich habe Angst.' Ihnen müsste klar werden, dass sie selbst Angst haben und die auf mich projizieren. Und wenn ich dann direkt darauf reagiere, sagen viele, ich soll nicht so rumschnauzen." (Rütter 1999: S.170).

Eine besonders starke Form der Absicherung von Hierarchien ist die Machtumkehr. Hier wird die Macht denen zugeschrieben die keine Macht haben. Zum Beispiel wird den Behinderten unterstellt, sie nutzten ihren Opferstatus aus. So wird etwa ihre moralische Macht, die ihnen auf Grund ihrer besonderen Verletzlichkeit zugeschrieben wird, und die sich in Verunsicherungen oder auch einem schlechten Gewissen auf Seiten der Nichtbehinderten äußern kann, vielfach in eine soziale Macht umgemünzt und ihnen unterstellt, sie nutzten sie dafür, andere unter Druck zu setzen. Oder es wird behauptet, sie würden bevorzugt behandelt. Der Nachteilsausgleich, der Behinderten in manchen Zusammenhängen zugesprochen wird, wird dabei in eine Vorteilnahme umgedeutet.

Diese Machtumkehr wird auch in jeder direkten Begegnung deutlich, in der die Behinderten mehr oder weniger unterschwellig dafür verantwortlich gemacht werden, dass sich die Nichtbehinderten unwohl fühlen. Sie müssen dann dafür sorgen, dass bloß keine Peinlichkeiten entstehen. Ihnen wird die Verantwortung für die Situation zugeschoben. In diesem Sinn ist auch das berüchtigte Flensburger Urteil vom September 1992 zu verstehen, das einer Familie, die in einem Hotel mit Behinderten Urlaub gemacht hatte, Schadensersatz wegen Genussminderung zusprach. "Solche Erlebnisse gehören nicht zu einem typischen Urlaubsverlauf", so wörtlich die Entscheidungsbegründung.

Die Machtumkehr kann sich soweit steigern, dass die Existenz des anderen in seiner Andersheit nicht nur als anstößig, sondern als bedrohlich empfunden wird. Bedrohlich für die Integrität des Selbst bzw. des gesamten "Volkskörpers" wie dies im Rechtsextremismus offen behauptet wird. Allein das eigene "gesunde" Kollektiv hat hier ein Lebensrecht. Jede Andersartigkeit wird als Angriff empfunden. Dabei wird der eigene Anspruch auf unumschränkte Selbstbehauptung in der "Bedrohlichkeit" der anderen verschleiert, so wie auch in der angeblichen "Bevorzugung" der Behinderten die Privilegierung der Nichtbehinderten verschleiert wird.

D.h. den Nichtbehinderten ist ihre Privilegierung zwar oft nicht bewusst, zugleich wird sie aber vielfach aktiv geleugnet oder auch ins Gegenteil verkehrt. Dabei geht es zentral um die Frage, welche Wirklichkeitsdeutung sich durchsetzt. Das bezieht sich sowohl auf die Situation in der persönlichen Begegnung wie auch in den gesellschaftlichen Diskursen, wo darüber bestimmt wird, welche Ansprüche an Respekt und Anerkennung den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft zustehen und was überhaupt als Diskriminierung zu verstehen ist. So wirkt Diskriminierung nicht nur über intendierte oder auch unbeabsichtigte Herabsetzungen und Ausgrenzungen, sondern auch darüber, wer bestimmt ob es sich dabei überhaupt um eine Diskriminierung handelt.

Literatur

  • Barnes, Colin / Mercer, Geof (2004). Disability. Cambridge: Polity Press.
  • Cloerkes, Günther (1997). Soziologie der Behinderten. Heidelberg: Edition Schindele.
  • Crocker, Jennifer / Quinne, Diane (1998). Racism and Self-Esteem. In: Eberhardt, Jennifer L. & Fiske, Susan T.: Confronting Racism. The Problem and the Reponse. London: Sage.
  • Gottschalk, Ulrike (1999). "Sie haben Probleme mit Macht" - Therapieerfahrung aus 40 Jahren. In: Birgit Rommelspacher (Hrsg.), Behindertenfeindlichkeit. Ausgrenzungen und Vereinnahmungen. Göttingen: Lamuv, S. 97-122
  • Harvey, Jean (1999). Civilized Oppression. Lanham, Oxford & New York: Rowman & Littlefield.
  • Kasnitz, Devva (2001). Life event histories and the US independent living movement. In: Priestley, Mark. Disability and the Life Course. Cambridge: University Press.
  • Rommelspacher, Birgit (1999). Behindernde und Behinderte - Politische, kulturelle und psychologische Aspekte der Behindertenfeindlichkeit. In: Birgit Rommelspacher (Hrsg.), Behindertenfeindlichkeit. Ausgrenzungen und Vereinnahmungen, Göttingen: Lamuv, S. 7-35
  • Rütter, Jutta / Kogigei, Marianne (1999). Gleichberechtigung unter erschwerten Bedingungen - Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. In: Birgit Rommelspacher (Hrsg.) a.a.O., S. 161-178
  • Sanders, Dietke (1999). Ich seh ja nie welche - Über das Verhältnis von nichtbehinderten zu behinderten Frauen. In: Birgit Rommelspacher (Hrsg.) a.a.O., S. 67-96

© Copyright: Birgit Rommelspacher
Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung

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