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Psychiatrie-Patienten: Objekt oder Subjekt der Wissenschaft?

Vortrag von Sibylle Prins
Workshop "LEITBILD WISSENSCHAFT – WISSENSCHAFTLICHE LEITBILDER. Wissenschaft zwischen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft: Historische und aktuelle Perspektiven", 6. Dezember 2004 in Berlin

Workshop, veranstaltet vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Kooperation mit dem Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus"

Inhalt

Vorbemerkung

Erfahrungen eines "Forschungsobjekts"

Lücken und Fehler in wissenschaftlichen Befragungen aus der "Froschperspektive"

Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener an psychiatrischer Forschung

Konkrete Beispiele - nur ein Anfang....

Darf das sein, was sein soll

Vorbemerkung

Im Zusammenhang von Wissenschaft und Psychiatrie ist mir eine Begebenheit sehr nachdrücklich im Gedächtnis geblieben. In einer deutschen Großstadt, in der ich zu Besuch war, gab es eine Ausstellung über die Geschichte der dortigen Psychiatrie. Zu dieser Ausstellung gehörte auch ein Film über diese Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus. Da wurde dann der Chefarzt dieser Psychiatrie in der ersten Hälfte der vierziger Jahre vorgestellt. Neben seiner Chefarzttätigkeit war er noch wissenschaftlich tätig und hatte auf diesem Gebiet den Ruf einer Kapazität. Gleichzeitig arbeitete er aktiv an dem sog. "T-4-Programm" mit und schrieb, ohne die geringsten Skrupel zu haben, für Patienten seiner Klinik Gutachten, mit denen diese zur Tötung ausgesondert wurden. Augenfälliger kann es nicht sein, dass wissenschaftliche Tätigkeit nicht automatisch vor moralischen Verbrechen und ethischen Irrwegen schützt.

Ich will keine gerade Linie ziehen zwischen dem damaligen Geschehen und heutiger psychiatrischer Wissenschaft, obwohl das bei manchen Entwicklungen in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen durchaus möglich wäre - wohl aber meine ich, dass auch heute ethisch fragwürdige Wissenschaft ebenso möglich ist, dass man auch im wissenschaftlichen Alltag gewissermaßen "abstürzen" kann. Manchmal geschieht das auf sehr subtile Weise. Und es gibt noch eine zweite Folgerung: gerade weil Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen damals diesen systematischen und gewollten Morden zum Opfer fielen, ist es m.E. auch mit den Anforderungen der Wissenschaft vereinbar, in diesen Gebieten so etwas wie "Parteilichkeit" denen gegenüber, mit denen man sich wissenschaftlich beschäftigt, aufrecht zu erhalten.

Erfahrungen eines "Forschungsobjekts"

Dazu später mehr, zunächst einige alltägliche Beobachtungen. Ich zitiere ein kleines Stückchen aus einer etwas märchenartigen Kurzgeschichte über einen Bären, von dem erzählt wird, wie er in seiner Höhle dahinlebt. Darin heißt es: "beim Frühstück las er die Artikel über die internationale Bärenforschung, und fragte sich, was das wohl mit ihm zu tun habe". Natürlich geht es mir als Psychose-Erfahrener ganz ähnlich, wenn ich z.B. Studien oder Forschungsergebnisse über psychische Erkrankungen, speziell über Schizophrenie lese. Was hat das denn mit mir zu tun? Diese Art Rezeption, bei der man als Mitglied einer Gruppe, die wissenschaftlich vielfach untersucht wird, Anknüpfungspunkte und Parallelen zur eigenen Geschichte, zum eigenen Erleben sucht, ist erst einmal natürlich und natürlich naiv. Und weil ich diese Naivität dann auch bald erkannte, lernte ich, besser damit umzugehen, d.h. wahrzunehmen, dass natürlich nicht in erster Linie meine eigene Geschichte - oder Geschichten, die so ähnlich waren - schon gar nicht meine eigene Interpretation dieser Geschichte das waren, was Wissenschaftler interessierte. Ich lernte, die Gruppe von Menschen mit psychischer Erkrankung mit einer gewissen Distanz, sozusagen von außen, zu sehen. Dennoch bin ich nicht sicher, ob dass wirklich ein Gewinn für mich ist. Deshalb will ich Folgendes tun: ich will Ihnen ein wenig von meinen persönlichen Erfahrungen als "Studienobjekt", d.h. als Probandin für wissenschaftliche Befragungen erzählen. Danach werde ich darauf eingehen, wie diese Innensicht und auch die soeben erwähnte Parteilichkeit wieder in die Forschung und Wissenschaft eingebracht werden könnten.

Im Folgenden will ich mich auf den Wissenschaftszweig beschränken, den man grob als "qualitative Sozialforschung" bezeichnen könnte. Zum einen bin ich damit mehr in Berührung gekommen als mit anderen Forschungsgebieten, zum anderen liegen dort auch am ehesten meine eigenen Interessen. Deshalb habe ich mich auch zweimal zur Verfügung gestellt für sog. narrative Interviews. Die Interviewer waren daran interessiert, Lebensläufe von Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, unter einer bestimmten Fragestellung zu untersuchen. Wie ist es mir, als der Befragten, dabei ergangen? Zunächst: es hat mir Spaß gemacht. Sein eigenes Leben an einem Stück zu erzählen, ist eine ungewöhnliche Gelegenheit. Dennoch gab es da schon von Anfang an einen Widerhaken: mein Lebenslauf war nur interessant unter dem Gesichtspunkt der schizophrenen Erkrankung. Dass mein Leben noch ganz andere Aspekte hat, ich z.B. trotz der Erkrankung noch viele Jahre berufstätig war, natürlich auch Freundschaften und Beziehungen, Interessen, Pläne und Hoffnungen habe, die mit Schizophrenie erst einmal nicht so ohne Weiteres in einen geradlinigen Zusammenhang zu bringen sind, wurde ausgeblendet. Ich habe an anderer Stelle Auswertungen von ähnlichen Befragungen gelesen, die darauf hinausliefen, jeden Aspekt im Leben der Befragten auf die Erkrankung zu beziehen, als krankheitswertig, krankheitsverursachend oder als Krankheitsfolge zu bewerten. Für mich ist das fragwürdig, aus einem konkreten Menschen mit vielseitigen Facetten nur noch einen eindimensionalen psychisch Kranken zu machen.

Lücken und Fehler in wissenschaftlichen Befragungen aus der "Froschperspektive"

Doch zurück zu meinen eigenen Interviews. Ich war erst mal erstaunt, wie viele Fehler schon bei der Übertragung geschehen können: in einem Fall waren aufgrund von Hörfehlern - die Untersucherin hatte das Band in ein Schreibbüro zur Transkription gegeben - Dinge zu meinem Lebenslauf hinzugefügt, die ich mit größtem Erstaunen wahrnahm. So etwa hieß es, ich sei einige Jahre zur See gefahren oder in ein buddhistisches Mädchenkloster eingetreten. In dem anderen Fall war zwar das Interview korrekt wiedergegeben, in der Zusammenfassung durch den Interviewer waren aber Fakten, die ich nicht erwähnt hatte, einfach hinzu erfunden worden. Seitdem bin ich natürlich skeptisch, wie korrekt überhaupt die Datenerhebung ist.

Was mich aber am meisten störte, war die Tatsache, dass ich erst lange darum kämpfen musste, die Ergebnisse dieser Befragungen dann auch einsehen zu dürfen. Was ist das für eine Forschung, die es nicht verantworten kann, ihre Ergebnisse den Befragten und untersuchten Personen auch mitzuteilen? Natürlich weiß ich, dass gerade bei Untersuchungen über psychische Erkrankungen Ergebnisse entstehen können, die für den Probanden nicht angenehm sind. Aber ist nicht gerade deshalb die gemeinsame Diskussion umso wichtiger? Und ich war zu dem Zeitpunkt ja auch nicht in so einem labilen Zustand, dass die Konfrontation mit etwaig wenig schmeichelhaften Ergebnissen eine neue Krise ausgelöst hätte. In einem Fall wurde mir dann freundlicherweise von dem Untersucher noch ein Nachgespräch angeboten, ich habe dieses Angebot gerne wahrgenommen, das Gespräch verlief auch gut - nur, meine Anmerkungen hatten keinen weiteren Einfluss mehr auf die Studie, konnten nicht einmal als Randbemerkung aufgenommen werden, weil das ganze Projekt bereits vollständig abgeschlossen war.

Weshalb aber bestehe ich so sehr auf Transparenz und Diskussion? Es rührt aus einer anderen, eher rezeptiven Erfahrung: ich habe Studien über Menschen mit Schizophrenie gelesen, bei denen ich mich fragte: ist darin überhaupt noch von Menschen die Rede? Diese Studien waren sprachlich und von der erkennbaren Grundhaltung her so angelegt, dass man eher das Gefühl hatte, dort sei von einer ganz anderen Spezies, vielleicht irgendeiner extraterrestrischen Gattung die Rede. Mir schien es, als ob für die Untersucher/innen durch eine schizophrene Erkrankung der gemeinsame menschliche Boden, das humanum commune, weggefallen sei, und man über Menschen mit einer Schizophrenie urteilen und schreiben könne, als seien sie "Objekte" im wörtlichen Sinne, nämlich keine lebendigen, konkreten, historischen Menschen, sondern eine eigentlich beliebige Art von Gegenstand. Gegenstand im Sinne eines Dinges, einer Sache. Der Respekt vor dem lebendigen Individuum und seiner unverwechselbaren Geschichte war dabei abhanden gekommen. Forschung über psychische Erkrankungen hat es ja nicht nur mit sachlich unbestreitbaren Tatsachen, wie z.B. Alter, Geschlecht, Häufigkeit einer Erkrankung zu tun, sondern auch mit Bewußtseins- und Gefühlszuständen, Verhaltensweisen, Persönlichkeitseigenschaften, Biographien und Brüchen in Biographien. Diese Forschung steht deshalb in der Gefahr, die Würde der von ihr untersuchten und beschriebenen Personen zu verletzen.

Da ich soeben Negativbeispiele erwähnte: ich habe ebenso wissenschaftliche Literatur über Menschen mit psychischer Erkrankung gelesen, in der dieses "Abrutschen" in verfängliche Gebiete gerade nicht passierte, dabei aber auch der akademische Anspruch vollstens gewahrt wurde. Es ist also durchaus möglich, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten, und dabei die Würde der Untersuchten zu wahren.

Ich möchte noch einmal auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen: es gab andere Befragungen mittels standardisierter Fragebögen, an denen ich teilnahm. Oft fiel mir dabei sehr deutlich auf, dass natürlich die von vielen Psychiatrie-Erfahrenen kundgegebenen eigenen Sichtweisen nicht vorkamen. Das ist das eine, aber manches Mal war auch die Perspektive der Fragebogenentwickler in allgemeiner Hinsicht eingeschränkt. Ein etwas banales, aber wie ich hoffe, anschauliches Beispiel: eine Einrichtung, in der ich 6 Monate verbracht hatte, wollte die Wirksamkeit ihrer Arbeit evaluieren. Ein Jahr nach meinem Aufenthalt sandte man mir einen umfangreichen Fragebogen zu. U.a. wurde ich danach gefragt, mit wem ich zum Zeitpunkt der Befragung regelmäßigen persönlichen (Gesichts-)Kontakt hätte. Als Antwortmöglichkeit waren vorgegeben: Verwandte und Familienangehörige; Freunde und Bekannte; andere Psychiatrie-Erfahrene; psychiatrische Mitarbeiter, z.B. Betreuer. Nun war es so, dass ich damals eine Vollzeitstelle auf dem 1. Arbeitsmarkt hatte. Die Menschen, mit denen ich den meisten und täglichen Kontakt hatte, waren natürlich meine Arbeitskollegen. Doch diese Antwortmöglichkeit war nicht vorgesehen. Wieso hatte man diese eigentlich sehr naheliegende Antwortmöglichkeit vergessen? Ging man so selbstverständlich davon aus, dass Menschen mit Psychosen sowieso nicht mehr im Arbeitsleben stünden? Ein anderes Beispiel: ich las eine medizinsoziologische Studie, in der es um Arbeitsrehabilitation ging. Darin wurde ein Fallbeispiel beschrieben. Ein ehemaliger Betriebswirt, der psychisch erkrankt war, und nun in einer Werkstatt für Behinderte einfachste Montage- und Verpackungstätigkeiten ausführte. Die Rehabilitation scheiterte letztlich daran, dass der Klient sich von diesen Arbeiten unterfordert fühlte. Aus Sicht der Untersucherin wurde daraus eine mangelnde Krankheitseinsicht. Liegt da nicht schon eine allzu große Festlegung auf genuin psychiatrische Sichtweise und Vokabular vor?

Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener an psychiatrischer Forschung

Ich denke, Sie haben schon herausgehört, worauf ich zusteuere und auf welche Provokation ich sie schonend vorbereiten möchte. Die Frage, ob wir Psychiatrie-Patienten Objekt oder Subjekt der Wissenschaft sein sollen oder können, geht weit über die Forderung nach mehr subjektorientierter Forschung hinaus. Sie läuft darauf hinaus, dass ich mir vorstelle, dass Psychiatriebetroffene selbst an der Wissenschaft, die sie betrifft, als Handelnde beteiligt werden. Wie komme ich zu dieser Vorstellung?

Da ist zunächst einmal die Geschichte: Psychiatrie-Patienten waren in der Vergangenheit oft nur als Entmündigte sichtbar oder denkbar. Hier hat inzwischen ein Emanzipationsprozess eingesetzt, der sich verständlicherweise nicht nur auf die psychiatrische Praxis, sondern auch auf die Theorie auswirken soll. Zweitens ist es so, dass die Perspektiven, die Fragestellungen, die Interpretationen von Ereignissen oder Daten gerade bei schweren psychischen Problemen sehr verschieden sein können, je nachdem, um welchen Beteiligten es sich handelt: Wissenschaftler, Psychiater, Patient oder Angehöriger. Da in vielen Fällen die psychiatrische Wissenschaft von (ehemaligen) Psychiatrie-Praktikern durchgeführt wird, auf jeden Fall aber normalerweise von Menschen, die derartige psychische Krisen nicht selbst erlebt haben, dafür aber eine ganz bestimmte Sozialisation im Hinblick auf das Verständnis von psychischen Erkrankungen haben, ist eine Einseitigkeit sehr naheliegend.

Konkrete Beispiele - nur ein Anfang....

Aber kann das denn gehen, Psychiatrie-Patienten nicht nur als Probanden, Befragte, Untersuchte, sondern als aktiv Beteiligte in die Wissenschaft einzubeziehen? Hierzu möchte ich von zwei kleinen Beispielen berichten, bei denen dies versucht wurde. In Bielefeld wurde die sog. "Behandlungsvereinbarung" entwickelt. Das ist ein siebenseitiges Formular, mit dem ehemalige Patienten der Klinik mit ihrer Klinik individuelle Absprachen für den Fall einer erneuten Behandlung treffen können. Diese Behandlungsvereinbarung gibt es inzwischen auch an etlichen weiteren Kliniken. Nun sollte in Kooperation mit einigen dieser Kliniken eine Untersuchung bzgl. der Auswirkungen dieses Instrumentes durchgeführt werden. Es wurde also ein Untersuchungsdesign erstellt. In die Arbeitsgruppe, die dieses Projekt erarbeitete, wurden von Anfang an auch ein bis zwei Patienten, d.h. Mitglieder des lokalen Betroffenenverbandes einbezogen. Teilweise handelte es sich um Personen mit wissenschaftlicher Vorerfahrung, teilweise nicht. Es ging aber auch nicht darum, dass diese Psychiatrie-Erfahrenen nun federführend das gesamte Projekt gestalten sollten. Vielmehr war es ihre Aufgabe, Gesichtspunkte einzubringen, die auf Patientenerfahrungen beruhten, und von den anderen Teilnehmer/innen - Ärzten, wissenschaftlichen Mitarbeitern der Klinik vielleicht übersehen oder anders gesehen würden. Das Projekt konnte bisher dann aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt werden, die erwähnte Zusammenarbeit aber klappte gut.

Das zweite Beispiel ist ein derzeit noch nicht abgeschlossenes kleines Experiment, nämlich der Versuch einer trialogischen Forschung. Trialog ist eine Bezeichnung für die gleichberechtigte Zusammenarbeit außerhalb einer aktuellen Behandlung auf politischer Ebene zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, den organisierten Angehörigen psychisch erkrankter Menschen und psychiatrischen Mitarbeitern. Beteiligt sind bei diesem Projekt als Mitglieder der Arbeitsgruppe neben einer Soziologie-Studentin ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der psychiatrischen Klinik, Vertreter der Angehörigen und ich als Vertreterin der Psychiatrie-Erfahrenen. In beiden genannten Projekten war es übrigens so, dass die jeweiligen Betroffenenvertreter/innen nicht selbst als Probanden an der Untersuchung teilnehmen sollten. Bei diesem jetzigen Projekt ist es auch so, dass alle Laienvertreter einen Hochschulabschluss haben, und so zumindest in der Vergangenheit einmal mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun hatten. Da wir auf diesem Gebiet aber doch Laien sind, hat sich eine Arbeitsteilung herauskristallisiert, bei der die beiden wissenschaftlich versierten Gruppenteilnehmer für die methodische und definitorische Tiefe und Genauigkeit sowie die theoretischen Grundlagen verantwortlich waren. Wir anderen wurden aber auch sehr aktiv in die Arbeit einbezogen, waren u.a. an der Themenfindung, der Datenerhebung und Auswertung beteiligt. Außerdem wurden alle Zwischenergebnisse intensiv diskutiert. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, so dass ich noch kein gültiges Fazit ziehen kann, auch keine abschließende Bewertung dieser Form der Zusammenarbeit. Vorläufig aber möchte ich vermuten, dass die Beteiligung von denjenigen, die zur untersuchten Personengruppe gehören, und die gemeinsamen Diskussionen das Spektrum der Fragestellung, der Durchführung der Befragung und der Interpretation um wichtige Aspekte erweitert haben werden.

Einige von Ihnen haben bei der Vorstellung dieser beiden Projekte, bei denen Psychiatrie-Patienten Mitglied eines Forschungsteams in Sachen Psychiatrie sind, vielleicht Gänsehaut bekommen. Ist so etwas noch seriös? Nun, ich will Ihnen noch mehr Stoff zum Gruseln geben und einen Schritt weiter gehen. In den beiden Modellen, die ich soeben vorstellte, waren Psychiatrie-Erfahrene an wissenschaftlichen Untersuchungen sozusagen als Beisitzer, als Meinungsergänzer beteiligt. Jedoch gibt es natürlich immer mal wieder Psychiatrie-Erfahrene, die aufgrund ihrer Vorbildung und Vorerfahrungen durchaus in der Lage sind, selbständig wissenschaftlich zu arbeiten. Eine hier in Berlin ansässige Betroffenenorgansiation, der Verein "Für alle Fälle", strebt sogar eine betroffenenkontrollierte Forschung an, und wird im Zusammenhang einer größeren Untersuchung zur Qualität ambulanter Psychiatrie den Teil "Nutzerzufriedenheit" selbständig erarbeiten und durchführen. Man darf sehr gespannt sein auf die Ergebnisse!

Darf das sein, was sein soll?

Ich kann mir einige Ihrer Einwände gegen ein solches Vorgehen vorstellen. Da ist z.B. die Frage nach der Objektivität, zu der Wissenschaft verpflichtet ist und der intersubjektiven Überprüfbarkeit von Ergebnissen. Hierzu einige Anmerkungen: im ersten Teil meines Referats habe ich schon versucht, darauf hinzuweisen: wenn es darum geht, konkrete, lebendige Menschen, deren Geschichte, deren Psyche und Persönlichkeit zu untersuchen, muss man auf der Hut sein, die Forderung nach Objektivität nicht so misszuverstehen und so zu überziehen, dass man bei einem blanken Zynismus landet. Wohin dieser Zynismus unter dem Deckmantel der Objektivität letztendlich führen kann, habe ich anfangs erwähnt: zu der Rede vom "lebensunwerten Leben".

Zum Zweiten: bei psychischen Krisen und psychischer Erkrankung sind die Sichtweisen derjenigen, die sich damit befassen, manchmal sehr divergierend. Wenn diese unterschiedlichen Sichtweisen zusammengebracht und diskutiert werden, egal, ob ein Konsens erreicht wird oder nicht - würde das nicht eigentlich die geforderte Objektivität noch vergrößern statt zu schmälern? Ferner: Wissenschaft ist bekanntlich immer interessengeleitet. Neben sachlichen oder akademischen Interessen kommen auch solche ins Spiel, über die man nicht so gerne spricht: politische oder finanzielle Interessen - im Bereich Psychiatrie gut erkennbar dort, wo es um die Erforschung und Entwicklung der Psychopharmaka geht - aber auch solche, wie z.B. die Reputation einer Person, einer Institution, einer Nation. Womit wir als Psychiatrie-Erfahrene oft zu kämpfen haben, ist, dass psychiatrische Wissenschaft häufig unter dem Stern agiert, man wolle dazu beitragen, unsere Situation zu verbessern, bessere Therapiemöglichkeiten finden, usw. Da diese Therapie aber mitunter sehr massiv in unsere Persönlichkeit und unsere Lebensumstände eingreift, ist es sehr verständlich, wenn wir uns auch da Mitbestimmungs- und Beteiligungsmöglichkeiten wünschen.

Die kleinen Beispiele von Betroffenenbeteiligung oder betroffenenkontrollierter Forschung - sie sind erste Anfänge. Wenn neue Entwicklungen noch in den frühesten Kinderschuhen stecken, ergeben sich auch Kinderkrankheiten, Fehlerquellen, Misserfolge. Dennoch möchte ich sehr appellieren, über solche Möglichkeiten der Mitwirkung in der Wissenschaft nachzudenken, sie aufzuspüren und umzusetzen. Ich erhoffe mir davon, dass neue Fragestellungen, die bisher vernachlässigt wurden, gefunden werden, dass für die Praxis weiterführende Ergebnisse erzielt werden, dass ein nicht stigmatisierendes Verständnis von psychischer Erkrankung Verbreitung findet - denn leider trägt auch die Wissenschaft oft zur weiteren Stigmatisierung bei, und sei es allein durch die verwendete Sprache - und dass, last but not least, durch Betroffenenbeteiligung ethische Fragwürdigkeiten in der psychiatrischen Wissenschaft vermieden werden können. Ich denke, dieses Vorgehen ist inhaltlich spannend und bereichernd, politisch gefordert und, wie ich hoffe, auch Erfolg versprechend.

© Copyright: Sibylle Prins
Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung

Die Deutsche Bibliothek hat die Netzpublikation "Psychiatrie-Patienten: Objekt oder Subjekt der Wissenschaft?" archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar.

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