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Pränataldiagnostik im gesellschaftlichen Kontext

Prof. Dr. Anne Waldschmidt, Universität zu Köln, Dezember 2006

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Inhalt

Vorbemerkung

1. Leid vermeiden

2. Autonomie verwirklichen

3. Risiken reduzieren

4. Normales Leben ermöglichen

Literatur

Vorbemerkung

In dem Lehrbuch der Soziologie arbeitet Hans Joas (2003) fünf Schlüsselbegriffe heraus, die sich auch für eine soziologische Analyse der Pränataldiagnostik (im Folgenden: PND) sehr gut benutzen lassen. Ich nehme sie in diesem Beitrag als Ausgangspunkt, um fünf Fragenkomplexe zu entwickeln:

Sozialstruktur:

  • Welche spezifischen Entscheidungen, getroffen von bestimmten Personengruppen mit eigenen Zielen, an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten (vgl. Wajcman 1994, zit. n. Joas 2003: 17) haben im Ergebnis zu der aktuellen Praxis der PND geführt?
  • Welche Auswirkungen auf Personen und soziale Gruppen haben die individuellen Entscheidungen für oder gegen eine PND?

Soziales Handeln:

  • Welche spezifischen Entscheidungen, getroffen von bestimmten Personengruppen mit eigenen Zielen, an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten (vgl. Wajcman 1994, zit. n. Joas 2003: 17) haben im Ergebnis zu der aktuellen Praxis der PND geführt?
  • Welche Auswirkungen auf Personen und soziale Gruppen haben die individuellen Entscheidungen für oder gegen eine PND?

Kultur:

  • Welche (Wissenschafts-)Geschichte, Traditionen, Wissensbestände, Denkweisen, Deutungsmuster, Werte und Normen beeinflussen die Praxis der PND?
  • Auf welche Weise prägt sie unser aktuelles Verhältnis zu Technik, Körper, Natur und Kultur?
  • Was wissen wir eigentlich, wenn wir erfahren, dass das Ungeborene einen unnormalen Chromosomensatz hat?

Macht:

  • Welche Rolle spielen Institutionen der sozialen Kontrolle wie etwa die Medizin, das Recht und die Politik?
  • Welche Personengruppen und Organisationen üben Macht aus, um die PND zu institutionalisieren bzw. ihren Erhalt zu sichern?
  • Ist Widerstand möglich?
  • Welche ökonomischen Faktoren spielen bei der PND eine Rolle?

Funktionale Integration:

  • Welche gesellschaftlichen Funktionen erfüllt die PND?
  • Auf welche Weise beeinflusst sie den sozialen Zusammenhalt in Familien, Organisationen und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene?
  • Oder erweist sie sich als dysfunktional, weil sie grundlegende Werte wie Solidarität und Gleichheit unterminiert und Ressourcen bündelt, die an anderer Stelle dringender gebraucht werden?

Sicherlich sind noch weitere soziologische Perspektiven denkbar, mit denen man die PND, ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und Auswirkungen beleuchten kann. Aber selbst die von mir entwickelten Fragen werde ich im Rahmen dieses Beitrags nicht umfassend beantworten können. Gleichzeitig ist der sozialwissenschaftliche Forschungsstand immer noch unbefriedigend; es fehlen insbesondere empirische Studien, die nicht nur soziale Interaktionen, also Arzt-Patient-Beziehungen, Beratungssituationen und die Entscheidungsprozesse der betroffenen schwangeren Frauen und ihrer Partner in den Blick nehmen, sondern auch systemische, d.h. auch professionssoziologische, ökonomische, rechtssoziologische, soziostrukturelle, gesundheitspolitische, familien- und geschlechtersoziologische Zusammenhänge betrachten.
Aus diesem Grund werde ich im Folgenden entlang meiner eigenen Forschungsschwerpunkte einen Problemaufriss entwickeln, der aus einer sozialwissenschaftlichen, speziell kultur- und wissenssoziologischen Perspektive vor allem die Frage der Werte und Normen wie auch der Legitimierung akzentuiert.
Wie kommt es, dass trotz einer sehr problematischen Wissenschaftsgeschichte - hier sei an das Stichwort Eugenik erinnert, auf das ich aber im Folgenden nicht näher eingehen werde - sich die PND ab Ende der 1960er, also in den letzten 40 Jahren - im Wesentlichen unangefochten - durchsetzen und zu einer Routinepraxis in der Schwangerenvorsorge werden konnte, die mittlerweile breite soziale Akzeptanz erfährt? [ 1 ]
Auf der Suche nach den gängigen Legitimationsmustern - die nicht nur von Experten formuliert werden, sondern auch im Alltagswissen weit verbreitet sind - trifft man immer wieder auf diese vier Aussagen:

  1. PND hilft Leid vermeiden
  2. PND dient der individuellen Selbstbestimmung der schwangeren Frau
  3. PND trägt dazu bei, Risiken in der Schwangerschaft rechzeitig zu erkennen
  4. PND verhilft zur Geburt eines normalen Kindes

1. Leid vermeiden

Im Kontext biopolitischer Diskurse ist Leidvermeidung zu einem zentralen Argumentationsmuster avanciert (vgl. Waldschmidt 2002). Experten und Politiker verweisen bei der PND auf die angestrebte Leidminderung. Schwangere Frauen und ihre Partner nehmen für sich in Anspruch, Unglück und Leid verhindern zu wollen - entweder, weil sie sich der Geburt eines behinderten Kindes nicht gewachsen fühlen oder um dem Ungeborenen ein leidvolles Leben zu ersparen. Behinderte Menschen und ihre Selbsthilfeorganisationen wiederum kritisieren, dass im Alltagsbewusstsein Behinderung zumeist umstandslos mit Leid gleichgesetzt wird und aus dieser Sicht kaum mehr hinterfragt werden kann, warum es heute als selbstverständlich gilt, die PND in Anspruch zu nehmen.

Das Versprechen, individuelles Leid zu verhindern oder zumindest zu reduzieren, weist offensichtlich suggestive Kraft auf. Leidminderung hat sozusagen - um mit dem Soziologen Ulrich Beck (1988) zu sprechen - ein "Abonnement" auf Akzeptanz. Maßnahmen, die auf die Verringerung von Leid abzielen oder zumindest einigermaßen überzeugend auf diese Zielsetzung verweisen können, können sich ihrer Durchsetzung fast sicher sein. Denn wer will sich schon dem Vorwurf ausgesetzt sehen, er sei verantwortlich für das Leid anderer?

Hört man denjenigen zu, die von ihrem Leid berichten, kann man den Eindruck gewinnen, als sei Leid ein höchst subjektives Phänomen und im Grunde den Nicht-Leidenden gar nicht zu vermitteln. Als leidendes Wesen, als "Patient" im engerem Sinne ist der Mensch offenbar ganz einsam, unerreichbar für helfende Interventionen, unverstanden in seinem Schmerz. "Der Andere", der Mitmensch kann, so sehr er sich auch bemühen mag, im Grunde nicht angemessen reagieren. Er oder sie zeigt entweder (herablassendes) Mitleid oder leidet (empathisch) mit, doch Leid wirklich miteinander zu teilen ist allem Anschein nach nicht möglich.

Aus soziologischer Sicht gibt es aber kein Leid an sich. Leid ist kein äußerer Gegenstand, sondern eine Empfindung, genauso wie der Schmerz. In der (immer auch sozialen) Welt ist Leid nur dann existent, wenn es vermittelt werden kann, sei es über Symptome, äußere Gesten, Zeichen, sei es über Worte und Ausdrücke, die als Leid interpretiert werden können. Kurz, soziologisch betrachtet ist Leid vor allem ein "Deutungsmuster" und insofern nur intersubjektiv herstellbar.

Selbst für physisches Leid gilt, dass es nur über sozial vermittelte Deutungsmuster wahrgenommen werden kann. Auch der körperlich leidende Mensch ist ein soziales Wesen und leidet immer nur in sozialen Bezügen. Und selbst wenn heute der Anschein besteht, als sei ausgerechnet der Körper immun gegen soziale Einflüsse, der letzte Raum, in dem das Ich Authentizität und Selbstvergewisserung erfahren kann, so gilt doch, dass auch der Körper ein Ort ist, dem soziale Strukturen eingeschrieben sind. "Das Elend der Welt" (Bourdieu 1997) äußert sich auch auf der biophysischen Ebene.

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann man "Leid" als Politikfeld betrachten und es macht Sinn zu fragen: Mit welchem Recht können bestimmte Betroffenengruppen - im Falle der PND z.B. schwangere Frauen und ihre Partner - fordern, dass ihr Leid vermindert wird, während Familien mit behinderten Kindern oft genug keine ausreichende Unterstützung erfahren und familienorientierte, ambulante Versorgungssysteme weiter unterentwickelt sind? Wieso eigentlich verbinden wir fast automatisch Behinderung mit Leiderfahrung; warum gilt der Common Sense, dass ein Leben mit Down-Syndrom oder im Rollstuhl nicht erstrebenswert sei?

Und wieso wird das Leid, das durch die PND selbst produziert wird, nicht öffentlich thematisiert? Denn die Erfahrungen vieler Frauen mit der vorgeburtlichen Diagnostik zeigen, dass auch durch die Inanspruchnahme von frühem Ultraschall, Triple-Test, Amniocentese und Chorionzottenbiopsie Ängste und Entscheidungszwänge überhaupt erst hervorgerufen werden können, Belastungen durch die Interventionen selbst entstehen, die eigentlich zu vermeiden gewesen wären (Strachota 2006).

Die Umgang mit individuellem Leid wird also selektiert und gehorcht einer gesellschaftlichen Logik, darüber muss man sich im klaren sein. Längst nicht jedes Leid wird für würdig befunden, behoben oder abgemildert zu werden.

Welches Leid als interventionswürdig anerkannt wird, darüber entscheiden nicht individuelle Bedürftigkeiten und Bedürfnisse, sondern kulturelle und gesellschaftliche Werte und Normen, Machtpositionen und Einflussmöglichkeiten, wissenschaftliche, politische und ökonomische Interessen.

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie wird individuelles Leid vor allem dann wahrgenommen, wenn es marktfähig ist. Es gibt eine Logik der Ökonomie, die mit darüber entscheidet, ob Ressourcen für Diagnostik und Therapie, Heilung und Linderung bereitgestellt werden. Im Kontext des deutschen Gesundheitswesen heißt dies: Die Aufnahme der PND in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung Mitte der 1970er war die entscheidende Bedingung für ihre erfolgreiche Institutionalisierung. Über die Praxen der niedergelassenen Gynäkologen gelang es, Zugang zu einer großen Zahl von Klientinnen zu erhalten; außerdem konnte mit der gesetzlichen Krankenversicherung ein gut etablierter, abgesicherter Finanzrahmen in Anspruch genommen werden.

Die PND ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Leidminderung von der Gesellschaft vor allem dann in Angriff genommen wird, wenn es sich um eine medikalisierbare Problemlage handelt. Das Problem muss in medizinischen Kriterien beschreibbar sein. Es muss das Individuum betreffen und nicht die Gesellschaft, es muss einen so genannten Krankheitswert haben; es muss im Rahmen einer Arzt-Patient-Beziehung diagnostizierbar und therapiefähig sein. Medizin als mächtige, mit hohem Sozialprestige und weitreichender Autonomie ausgestattete Profession und zugleich als eine Institution, die Funktionen sozialer Kontrolle versieht, bietet der PND einen institutionellen Rahmen, der verhindert, dass bestimmte, kritische Fragen gestellt werden, wie z.B. die Frage nach der Legitimität der vorgeburtlichen Selektion, die auf Grund bestimmter kindlicher Merkmale vorgenommen wird. Ist diese Praxis überhaupt vereinbar mit der ärztlichen Ethik und der therapeutischen Zielsetzung, die traditionell den Kern ärztlichen Handelns ausmacht?

Schließlich kann man die PND auch als ein Lehrstück für den allgemeinen "technological fix" betrachten. Ist eine bestimmte Problemlage einer technischen, instrumentellen Problemlösungsstrategie zugänglich, erhalten die Betroffenen eher als andere das Angebot von Hilfe und Unterstützung. Allerdings wird im Rahmen des "technological fix" die Problemlage dann auch nur technokratisch bewältigt. Die Geburt eines behinderten Kindes kann man magisch - positiv als "Wunder" oder negativ als "Wechselbalg" - deuten, religiös - eher neutral als "Prüfung" oder als Strafe Gottes für begangene Sünden - oder fatalistisch, als "Schicksalsschlag"; man kann aber auch technisch-instrumentell damit umgehen, sie als "Betriebsunfall" im Fortpflanzungsgeschehen begreifen, als "Störung", die es mittels medizin-technischer Intervention zu beheben gilt.

Fazit: Die in der Debatte um die PND häufig anzutreffende Legitimationsfigur "Leidvermeidung" muss in den sozialen Kontext gestellt werden. Ihr suggestive Kraft erhält sie erst dann, wenn Aspekte wie Politik, Ökonomie und Technologie ausgeblendet werden, die jedoch immer auch mit ihr verbunden sind.

2. Autonomie verwirklichen

Ähnlich verhält es sich mit der individuellen Selbstbestimmung (vgl. Waldschmidt 2004a). Wie Leid, so hat auch Autonomie eine strategische Funktion in den aktuellen Diskursen und Praktiken im Kontext der PND. Darauf verweist beispielsweise das nichtdirektive Konzept der genetischen Beratung, das ja keine Ratschläge mehr, sondern nur Hilfestellung für eine selbstverantwortliche Entscheidung bieten will. Auch im feministischen Diskurs wird die PND meist mit dem Recht auf weibliche Selbstbestimmung in Verbindung gebracht. Während befürwortend argumentiert wird, PND erweitere die Möglichkeiten reproduktiver Autonomie, weisen die Kritikerinnen darauf hin, dass die individuelle Selbstbestimmung in der Praxis faktisch unterlaufen wird, da die Entscheidungssituation vorstrukturiert ist, so dass in der Mehrheit der Fälle eine Entscheidung für ein behindertes Kind gar nicht in Erwägung gezogen werden kann.

Autonomie - das kann vieles bedeuten: endlich frei zu sein von äußeren Zwängen, möglichst viele Wahlmöglichkeiten zu haben. Autonomie - das kann auch beinhalten die Suche nach Authentizität oder einem sinnvollen Leben. Entsprechend wird der Selbstbestimmungsgedanke keineswegs einheitlich verwendet, sondern begründet oftmals sogar gegensätzliche Praktiken und Forderungen gleichzeitig. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass die PND mit ganz bestimmten Autonomiekonstruktionen verbunden ist, während andere eher für einen widerständigen Umgang benutzt werden können. In meiner Studie zu den Selbstbestimmungskonstruktionen im behindertenpolitischen Diskurs (Waldschmidt 1999) habe ich vier Konzeptionen von Selbstbestimmung unterschieden, die im Rahmen der PND ebenfalls zum Tragen kommen.

Selbstbeherrschung

Die erste Konstruktion, die sich identifizieren lässt, kann "Selbstbeherrschung" genannt werden. Sie hat das Verständnis von Selbstbestimmung bis in die Gegenwart hinein wohl am stärksten geprägt. Konzeptionell vor allem mit dem Namen Immanuel Kants verbunden, kann sie definiert werden als eine Form von Subjektivität, die sich primär als Souveränität wahrnimmt. Diese Autonomiekonstruktion geht von einem menschlichen Willen aus, der sich nicht von Trieben, Begierden und Interessen leiten lässt, sondern allein von der abstrakten Vernunft. Das Individuum macht sich seine eigenen Gesetze und wendet diese auf sich selbst an, so dass sie zu allgemeinen Bestimmungen werden können. Im Grunde wird in diesem Modell die demokratische Gewaltenteilung nach gebildet. Es impliziert den Gedanken, nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das Individuum solle sich als politischer, von Machtinstanzen und Herrschaftsverhältnissen durchdrungener Körper wahrnehmen. Kurz, Selbstbestimmung meint hier im Wesentlichen vernunftgeleitete Selbstregierung.

Selbstinstrumentalisierung

Als eine zweite Konstruktion lässt sich "Selbstinstrumentalisierung" heraus arbeiten. Wesentliche Aspekte der ersten Konzeption wie etwa die zentrale Stellung des Vernunftbegriffs, die Verheißung von Freiheit und persönlicher Souveränität sowie die Vorstellung eines aktiv handelnden Subjekts trifft man hier wieder.

Gleichzeitig sind mit der Selbstinstrumentalisierung neue, entscheidende Wendungen verbunden, die es berechtigt erscheinen lassen, sie als eine spezielle Facette zu begreifen.

Diese Form von Selbstbestimmung ist weniger politisch, sondern eher technisch ausgerichtet. Sie meint ein instrumentelles, verobjektivierendes Verhältnis zu sich selbst. Nunmehr tritt die Ökonomie in den Vordergrund und es geht weniger um Aspekte von Macht und Herrschaft, sondern um Fragen des rationellen Wirtschaftens und des sparsamen Ressourceneinsatzes, um Eigentum und Profit, um Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit.

"Bestimmen" meint nicht mehr herrschen, sondern nutzen; das "Selbst" ist nicht mehr ein Souverän, sondern persönliches Eigentum. Autonomie wird nun zu einer Leistung, einer Tätigkeit, kurz, zur Arbeit am Selbst und an den persönlichen Lebensbedingungen. Die Selbstinstrumentalisierung beinhaltet zugleich die Aufforderung an das "unternehmerische Selbst", die persönlichen Interessen wirksam und rationell zu verfolgen.

Während die beiden genannten Konstruktionen - Selbstbeherrschung und Selbstinstrumentalisierung - sich eher affirmativ zur bürgerlich-liberalen, kapitalistischen Tradition verhalten, speisen sich andere Modelle aus der Kritik gegen die Zwänge der kapitalistischen Konsumgesellschaft.

Selbstthematisierung

Vor allem die dritte Konstruktion, die "Selbstthematisierung" ist mit einem positiven Pathos verbunden. Hier wird Autonomie verstanden als "Selbstverwirklichung", als Aufforderung zur "Selbsterschaffung", als Suche nach der eigenen Identität.

Diese Leitidee- vornehmlich in sozialpsychologischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Kontexten angewandt - meint weniger "Bestimmung" im Sinne von Selbstbeherrschung, sondern beinhaltet vielmehr die Thematisierung des "Selbst" als vermeintlicher Kern des Menschen, den es näher zu erforschen gilt. Selbstbestimmung wird so zur Selbstausdeutung, zu einem "Willen zum Wissen" (Foucault 1983) über sich selbst.

Selbstbestimmung beinhaltet also nicht nur die bereits skizzierten Perspektiven der instrumentellen und der politischen Vernunft, sondern auch einen hermeneutischen Ansatz. Die Aufforderung, nach der eigenen Wahrheit zu suchen, der reflexive Selbstbezug soll ein qualitativ besseres, rational und emotional positiveres Leben ermöglichen.

Selbstgestaltung

Eine vierte Konstruktion, die sich in heutigen Konzepten von Selbstbestimmung finden lässt, kann "Selbstgestaltung" genannt werden. Die Versuche, autonom zu leben, können auch Bemühungen beinhalten, der eigenen Existenz eine gewisse Würde und einen Stil zu verleihen.

Von der Antike bis heute wird im philosophischen Diskurs immer wieder Bezug genommen auf ein einsichtiges und begründendes, entscheidendes und schließlich handelndes Subjekt, das - um richtig handeln können - nicht nur wissen muss, in welcher Lage es sich befindet, sondern auch, wer es selbst ist.

Selbstbestimmung in diesem Sinne beinhaltet eine Reihe von Praktiken, die zu einer bewussten Lebensgestaltung führen sollen, oder in anderen Worten, eine Art von Kunstfertigkeit, die Lust und das Begehren angemessen zu gebrauchen und sich hierfür freiwillig speziellen Vorschriften zu unterwerfen. Das Subjekt gelangt im Kampf mit sich selbst zur Mäßigkeit und strebt nach dem Modell häuslicher oder politischer Herrschaft nach persönlicher Herrschaft über sich. Zielsetzung ist letztlich eine "Ästhetik der Existenz" (Foucault 1989).

Soweit diese vier Konstruktionen. Welche Bedeutung haben sie für die Praxis der PND?

"Selbstbeherrschung" ist uns sicherlich allen wohl vertraut. Ständig exerzieren wir sie am eigenen Leibe. Ob Körpererfahrungen oder Gefühle - wir sind es gewohnt, uns mittels der eigenen Vernunft zu disziplinieren. Zur Anwendung kommt die Selbstregierung auch dort, wo eine Entscheidung für den Abbruch einer eigentlich geplanten Schwangerschaft getroffen wird, weil der genetische Befund auf Auffälligkeiten hinweist, oder wenn eine 35jährige sich der Amniocentese unterzieht, weil sie "auf Nummer sicher" gehen will, obwohl ihr das Gefühl sagt, dass eigentlich alles in Ordnung ist.

Auch die "Selbstinstrumentalisierung" findet man im Kontext von Gen- und Fortpflanzungstechnologien wieder, und zwar über all dort, wo es um die Nutzung und Effektivierung des Lebendigen geht, um die Optimierung von Gesundheit, Lebenskraft und Konstitution. In der Selbstinstrumentalisierung wird der Mensch zum Material für sich und für andere. Besonders augenfällig ist dies bei der Leihmutterschaft, der Eizellspende und der verbrauchenden Embryonenforschung.

Auch die PND macht aus dem menschlichen Leben eine Kosten-Nutzen-Analyse, denn sie zwingt dazu, das Lebensrecht eines behinderten Kindes abzuwägen gegen die potentielle Belastung der künftigen Mutter. Utilitaristische Gesichtpunkte kommen dort zur Geltung, wo es darum geht, ein gesundes und normales Baby zur Welt kommen zu lassen - ein Mensch, von dem erwartet werden kann, dass er der Erfolgsorientierung seiner Umwelt im späteren Leben gerecht werden wird.

Die "Selbstthematisierung" dagegen kann zu einem anderen Umgang mit der PND anregen. Hier werden schwierige Lebenssituationen nicht als Kontrollverlust gedeutet, sondern als sinnstiftendes Moment und Ausdruck einer Dialektik des Lebens, in dem es Leid geben muss, um Glück empfinden zu können, und in dem auch nicht frei gewählte Lebensereignisse zum persönlichen Wachstum beitragen. Im Rahmen dieser Konzeption kann die Geburt eines behinderten Kindes nicht als von außen auferlegter Zwang angesehen werden, sondern als biographische Herausforderung, die es konstruktiv zu meistern gilt.

Auch die vierte Konzeption von Selbstbestimmung, die "Selbstgestaltung" erweist sich als hilfreich für einen anderen, nicht Technologie fixierten Umgang mit Schwangerschaft und Geburt. Aus dieser Sicht lässt sich Selbstbestimmung als ein fürsorgendes Verhältnis zum eigenen Körper und das eigene Leben als schöpferisches Projekt ansehen, in dem z.B. die Geburt eines behinderten Kindes zu produktiven Tätigkeiten und neuen Lebensentwürfen anregen kann.

Fazit: Der mit der PND verbundene Anspruch, individuelle Selbstbestimmung zu verwirklichen, muss kritisch betrachtet werden. Bei genauem Hinsehen erweist sich Autonomie als durchaus widersprüchliches Konzept, das einerseits deutliche Verbindungslinien zu patriarchalen, hegemonialen und technisch-ökonomischen Subjektvorstellungen und Handlungsmustern aufweist, gleichzeitig aber auch holistische, romantische und an der Figur des "Lebenskünstlers" anknüpfende Facetten beinhaltet, die für die Entwicklung kritischer Positionen zur PND genutzt werden können.

3. Risiken reduzieren

Kommen wir zu der dritten Legitimationsfigur, die in der Praxis der PND eine zentrale Rolle spielt: Es geht um die Reduzierung von Risiken (vgl. Waldschmidt 2005). Die Frage, die die PND stellt, lautet: Leben wir nicht bereits in einer "Risikogesellschaft" (Beck 1986), sind wir nicht umgeben von unwägbaren Gefahren (Atomtechnologie, Klimakatastrophe, weltweiter Terrorismus etc.) und macht es dann nicht Sinn, wenigstens bei Schwangerschaft und Geburt "auf Nummer Sicher" zu gehen und Geburtsrisiken tunlichst zu minimieren?

Auch an dieser Stelle kann man auf die Sozialwissenschaften zurück greifen, um heraus zu arbeiten, dass es sich bei dem Risiko nicht um eine vermeintlich objektive, also neutrale und naturgegebene Tatsache handelt, sondern um eine soziale Kategorie, die historisch aus dem Versicherungswesen stammt und erst später, im Zuge der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates allgemeine Geltung erlangt hat. Schaut man sich den Risikobegriff genauer an, so wird man feststellen, dass er eine kalkulierende Rationalität darstellt:

"Im eigentlichen Wortsinn ist ein Risiko ein vorhersehbares Ereignis, das sich auf seine Wahrscheinlichkeit und die voraussichtliche Schadenshöhe hin berechnen lässt. Insofern ist Entschädigung möglich, weil das Risiko vergemeinschaftet werden kann." (Castel 2005: 83f.)

Aus der Sicht von François Ewald (1993: 210) ist nichts ein Risiko an sich, aber alles kann zum Risiko gemacht werden. Allein von der Betrachtungsweise hängt es ab, welches Ereignis zum Versicherungsfall wird. Nicht nur der Arbeitsunfall, sondern auch vermeintliche Zeugungs- und Geburtsunfälle werden heute statistisch ausgezählt, dem Wahrscheinlichkeitskalkül unterworfen und nach der Versicherungslogik gemanagt.

Als eine statistische Kategorie bezeichnet Risiko das Gegenteil von Mehrheitsnormalität. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Normalität und Risiko. Während Normalität die Kalkulation des Durchschnitts meint, beinhaltet Risiko eine weitere Operation, nämlich die Wahrscheinlichkeitsrechnung. In anderen Worten, Normalität ist eine Kategorie, die Vergangenheit und Gegenwart beschreibt; Risiko ist ein Konzept, das darauf gerichtet ist, die Zukunft zu regieren. Sowohl im Versicherungswesen, als auch im klinisch-medizinischen Kontext verändert die Risikokalkulation den Charakter eines Ereignisses in mehrfacher Hinsicht:

Erstens kommt es zur 'Sozialisierung' des Geschehens. Als Risiko wird ein zuvor als willkürlich wahrgenommenes Einzelschicksal zu einem ‚sozialen Übel', das nicht allein eine Person trifft, sondern eine große Anzahl von Individuen. Die Einsicht in den gesellschaftlichen Charakter natürlicher Vorgänge ruft Staat und Gesellschaft auf den Plan, um das ‚Übel' zu verhindern oder zumindest in seinen negativen Auswirkungen abzumildern. Ausdruck dieser Solidarität ist, dass bei einem bestimmten Ereignis - einem Unfall oder Leiden, einer Krankheit oder Behinderung - Versicherungsschutz gewährt wird. So ist - wie bereits erwähnt - bereits seit Mitte der 1970er Jahre auch die PND Bestandteil der kassenärztlichen Versorgung und wird von der Krankenversicherung finanziert.

Zweitens erhält das Ereignis als Folge des Risikokalküls eine Zukunft, die vorhersehbar, damit zugleich entscheidbar und beeinflussbar wird. Indem die statistischen Berechnungen ungeregeltes Naturgeschehen zu kalkulierbaren Kollektivgütern machen, entlasten sie die Individuen einerseits von ihrer Schuld, machen sie aber gleichzeitig verantwortlich, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass ein vorhersehbares Ereignis abgewendet wird und der Versicherungsfall erst gar nicht eintritt. In anderen Worten, das behinderte Kind wird nur dann zum Risiko, wenn man davon ausgeht, dass es mit der richtigen Entscheidung verhindert werden könnte. Risikobegriff und Entscheidungszwang stehen in engem Zusammenhang; darauf hat übrigens auch Niklas Luhmann (1991) aufmerksam gemacht.

Drittens individualisiert der Risikobegriff jedes Ereignis. Besonders in der Gegenwartsgesellschaft werden Risiken zu einem großen Umfang privatisiert, sozusagen ‚de-sozialisiert'. Das Wahrscheinlichkeitskalkül wird dazu benutzt, die Individuen zu differenzieren, und zwar rechnerisch, indem ihre Abweichung von einem Mittelwert, der den gruppenspezifischen Typus bezeichnet, bestimmt wird (Ewald 1993: 192f.). Insbesondere in der klinisch-medizinischen Praxis existiert das Erfordernis, Risikokategorien auf individuelle Körper zu beziehen.

Speziell für epidemiologische bzw. klinische Risiken gilt auch, dass sie oftmals die Aufforderung zu rigider Selbstdisziplinierung zur Folge haben. In anderen Worten, das genetische Risiko hat eine Relaisfunktion: Populationsbasierte Daten werden zum Ausgangspunkt von individuellen Diagnostik-, Therapie- und Behandlungsprogrammen. In der PND wird die einzelne Frau mit populationsstatistischen Angaben konfrontiert, die oftmals weitreichende Konsequenzen haben, etwa wenn das Frühscreening einen auffälligen Wert ergibt, nämlich eine individuelle Abweichung vom Standardwert, und auf Grund dieses Befundes eine weitere, nämlich invasive Diagnostik durchgeführt wird.

Viertens schließlich ist Risiko eine normalisierende Technik. Die Risikokalkulation macht das Ereignis zu einem Durchschnittsphänomen, das manche Menschen häufiger als andere treffen kann. Durch den Vergleich eines individuellen Risikos mit dem normalen, d.h. durchschnittlichen Risiko kann die Position einer Person innerhalb einer Landschaft von Normalität und Abweichung definiert werden. Im klinischen Alltag ist dies die Aufgabe der Experten. Sie müssen die diagnostischen Daten sozusagen an die einzelne Schwangere rückkoppeln, das durchschnittliche Risiko in eine spezielle Risikoziffer umrechnen und der Klientin außerdem dabei helfen, sich in Kenntnis des persönlichen Risikos in dem weiten Feld von Normalität und Abweichung zu positionieren.

4. Normales Leben ermöglichen

Wie bereits angedeutet: Dreht man die Medaille um, wird man als Kehrseite von Risiko die Normalität finden. Ein normales Leben mit einem normalen Kind führen können - das ist die Verheißung der PND, die von allen hier thematisierten Legitimationen wahrscheinlich den suggestivsten Klang hat (Waldschmidt 2003).

Zu diesem Punkt lautet meine Ausgangsthese im Anschluss an Michel Foucault (1983) und Jürgen Link (2006): Wir leben heute in einer flexiblen Normalisierungsgesellschaft, in der wir uns mittels der statistischen Mehrheitsnormalität selbst regieren (Waldschmidt 2004b).

Die Normalisierungsgesellschaft übt keinen im engeren Sinne repressiven Zwang auf uns aus. Sie operiert nicht mit expliziten Ver- und Geboten, sondern hält uns "lediglich" dazu an, unser Verhalten danach auszurichten, was die Mehrheit von uns fordert. Allein auf diese Weise wirkt sie disziplinierend.

Der subtil-disziplinierende Charakter der Normalisierungsgesellschaft fällt uns selbst vielleicht gar nicht mehr auf. Ganz freiwillig, im Zeichen von Autonomie und Selbstbestimmung orientieren wir uns an der Mitte der Gesellschaft, an den Durchschnittsnormen. Wir wollen so leben wie andere auch; wir wollen vor allem "normal" sein. Und wenn wir Lust an der Abweichung verspüren, wollen wir höchstens zeitweise "aus der Reihe tanzen". Keinesfalls wollen wir dauerhaft am negativen Pol verortet werden.

Dass die Normalisierungsgesellschaft diese Überzeugungskraft entfalten konnte, liegt daran, dass es insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelungen ist, den statistischen Normalitätsbegriff als Dispositiv in der Gesellschaft zu verankern, ihn mittels Diskursen, operativen Verfahren und Identitätspolitiken durchzusetzen.

Dass die flexible Normalisierungsgesellschaft mittlerweile alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen hat, lässt sich auch am Beispiel der genetischen Beratung und Diagnostik zeigen. Auch in ihr regieren statistische Normen, kurz: die Verheißung der flexiblen Normalisierung.

In der Schwangerenvorsorge von heute findet man eine Vielzahl von "normalistischen Landschaften", d.h. Diagnostikangebote, die auf Schwankungsbreiten, Übergangszonen und variabel festgelegte Grenzen basieren. Als konkrete Techniken lassen sich an dieser Stelle die Stammbaumanalyse ebenso nennen wie die Alterskurve, der Triple-Test und das so genannte Ersttrimester- oder Frühscreening: All diese Verfahren basieren auf vermeintlich objektiven und wertneutralen, nämlich statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen.

Die Klientinnen der PND bekommen verschiedene "Orientierungskarten" zur normalistischen Verortung angeboten. Sie erhalten Maßstäbe und Meßlatten an die Hand, mit denen sie ihr persönliches Risiko bemessen können. Sie bekommen Orientierungspunkte, um den eigenen Grad an genetischer Abweichung und Normalität einzuschätzen.

Auf der individuellen Ebene hilft der statistische Risikobegriff bei der persönlichen Entlastung. Das "Übel", das der einzelnen Klientin möglicherweise widerfährt, ist kein zufällig erlittenes, unabwendbares Schicksal mehr, sondern ein "Unfall" der Natur, der häufig genug vorkommt, um statistisch berechnet zu werden. Aus der Sicht von Wahrscheinlichkeitsberechnungen sind ja Geburtsfehler eigentlich "ganz normal" (vgl. zu diesem Punkt auch Ewald 1993).

Verbunden mit dem statistischen Wissen ist allerdings die Aufforderung, sich möglichst um eine Risikovermeidung zu bemühen. In anderen Worten: Der direktive Ratschlag - nach dem Motto: "Eine Abtreibung ist ärztlicherseits dringend anzuraten" - ist mittlerweile verpönt, vielmehr gilt die Linie: Die Schwangere hat das Recht selbst zu entscheiden. Jedoch ist, um auf der Basis des statistischen Risikos eine Entscheidung treffen zu können, der Rückgriff auf normative Wertvorstellungen unumgänglich. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die individuelle Risikowahrnehmung mit subjektiver Risikobewertung eng verbunden ist. An dieser Stelle kommt sozusagen die Normativität wieder ins Spiel, soziale Normen, Werte, Erwartungshaltungen, auch Gebote und Imperative. [ 2 ]

In anderen Worten: Bei genauem Hinsehen lugt hinter dem freundlichen Gesicht der statistischen Normalität die Normativität hervor, auf die im Zweifelsfalle zurückgegriffen wird, wenn etwa die Entscheidung darüber ansteht, ob ein bestimmtes Kind geboren werden darf oder abgetrieben werden muss. Dass dabei auch darüber entschieden wird, was in unserer Gesellschaft als normal, was als unnormal zu gelten hat, wird erst auf den zweiten Blick hin sichtbar.

Auch die Orientierung an Wahrscheinlichkeitsberechnungen löst letztendlich die Grundproblematik der PND nicht auf. Im Kern geht es um die Entscheidung für oder gegen ein behindertes Kind, um ein Ungeborenes, das entweder als "gesundes, normales Baby" oder als "mängelbehaftetes Risiko" wahrgenommen wird.

Zukunftsvision: Ohne Angst verschieden sein?

Welche Motive Eltern auch haben mögen, sich gegen ein behindertes Kind zu entscheiden, sei es tatsächlich Angst vor Behinderung oder die Furcht vor eigener Überforderung, eine langfristige Folge der Entscheidungen ist, dass in der Gesellschaft die allgemeine Erwartung wächst, jede Schwangerschaft solle mit einem gesunden, normalen Baby enden. Im Umkehrschluss verbreitet sich die Haltung, dass Babys mit Mängeln nicht mehr sein müssen, schließlich lassen sie sich ja heute vermeiden. Schon gibt es Hinweise darauf, dass seit Einführung der routinemäßigen vorgeburtlichen Diagnostik die Zahl von Kindern, die mit Down-Syndrom geboren werden, deutlich abgenommen hat.

Nicht nur behinderte Menschen machen sich zunehmend Sorgen, dass der Druck auf den einzelnen wächst, möglichst perfekt zu sein, und dass menschliche Vielfalt bald keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft hat. Das vorherrschende kulturelle Projekt scheint nicht die Akzeptanz von Verschiedenheit und menschlicher Unzulänglichkeit zu sein, sondern die biopolitische Normalisierung. Mit dem französischen Sozialphilosophen Michel Foucault kann man formulieren: Es geht darum, dass wir uns alle gleichen.

Angesichts der allgemeinen Tendenz zu Standardisierung und Optimierung stellt sich die bange Frage: Werden behinderte Menschen demnächst als 'Abfallprodukte' oder 'Unfälle' der genetisch durchleuchteten, technisch unterstützten, Krankheit und Leid vorbeugenden Fortpflanzung angesehen? Haben diejenigen, die mit einer Beeinträchtigung auf die Welt kommen oder sie im Laufe des Lebens erwerben, überhaupt noch eine Chance? Was eigentlich ist mit denjenigen, die der pränatalen Diagnostik sozusagen 'entkommen', denen folglich nichts anderes übrig bleibt als ein fehlerhaftes Dasein zu fristen?

Schließlich ist es nicht schwer vorherzusagen, dass es auch künftig behinderte Menschen geben wird. Trotz aller Bemühungen in Schwangerenvorsorge und Fortpflanzungsmedizin wird es weiter Babys geben, die mit einer Beeinträchtigung zur Welt kommen, vielleicht einfach weil sie in der vorgeburtlichen Rasterfahndung übersehen wurden oder weil unerwartete Geburtskomplikationen eintraten. In vielen Fällen haben sogar die Fortpflanzungstechniken selbst kindliche Schädigungen zur Folge. Außerdem können bald nach der Geburt Krankheiten auftreten oder Unfälle geschehen, auch bei denjenigen, denen gerade eben noch Perfektion bescheinigt worden war. Im übrigen steigt im Laufe des Lebens die Wahrscheinlichkeit, einen Unfall zu haben oder chronisch krank zu werden. Nach der amtlichen Behindertenstatistik liegt der Anteil der angeborenen bzw. bei der Geburt vorhandenen Behinderungen seit Jahren ziemlich konstant bei 4-5%. Somit leben etwa 95% aller schwerbehinderten Menschen in Deutschland mit einer im späteren Leben erworbenen Beeinträchtigung.

Schaut man sich die zeitliche Entwicklung der absoluten Zahlen an, so wird man ein allmähliches Ansteigen der Schwerbehindertenzahlen zu konstatieren haben. Schon allein wegen des demographischen Wandels, der uns in den nächsten Jahrzehnten erwartet, steht uns eine weitere Erhöhung bevor. In anderen Worten, trotz aller Perfektionsbemühungen werden in der künftigen Gesellschaft womöglich diejenigen immer mehr, die als 'behindert' gelten.

Aus der Sicht vieler, nicht nur behinderter Menschen kann es nicht darum gehen, weiter neue Selektionsmechanismen zu installieren. Was wir brauchen, ist nicht eine bedingte Akzeptanz, sondern die bedingungslose Anerkennung eines jeden Menschen, unabhängig von seiner körperlichen oder kognitiven Beschaffenheit. An dieser Stelle ist es hilfreich, an den Soziologen Theodor W. Adorno zu erinnern. In seinem Buch "Minima Moralia" hat er die Hoffnung auf einen "besseren Zustand" formuliert, "in dem man ohne Angst verschieden sein kann" (Adorno 1970: 130).

Diese Hoffnung ist es, die auch die Kritikerinnen und Kritiker der PND umtreibt: die Vision, dass ein Zusammenleben möglich ist, in dem Unterschiede nicht nur ausgehalten, sondern anerkannt und wert geschätzt werden, in dem die Imperfektion als etwas Erstrebenswertes gilt, und zwar, weil vor allem sie es ist, welche Spannung erzeugt, Überraschungen bietet, Ereignisse produziert, Neugier hervorruft, kurz, das Leben lebenswert macht. Vielfalt als ein ethischer Wert kombiniert mit Gleichheit und Solidarität als normative Prinzipien, die aus unserem Erbe von Humanismus und Aufklärung resultieren, dazu eine wissenschaftlich-technische Entwicklung, die dazu beiträgt, menschliche Unzulänglichkeit zu akzeptieren anstatt sie zu bekämpfen, die sich in reflektierender Betrachtung übt anstatt übereifrig zu intervenieren - das sind Aspekte einer künftigen Gesellschaft, in der die Praxis der selektiven Schwangerenvorsorge überflüssig geworden wäre.

Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1970): Minima Moralia. Frankfurt am Main
  • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.
  • Beck, Ulrich (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a. M.
  • Bourdieu, Pierre et al. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz
  • Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg
  • Ewald, François (1993): Der Vorsorgestaat. Frankfurt a. M.
  • Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.
  • Foucault, Michel (1989): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt a. M.
  • Joas, Hans (2003): Die soziologische Perspektive, in: Joas, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Soziologie. Frankfurt a. M., S. 11-38.
  • Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen. (3., erg., überarb. u. neu gest. Aufl.)
  • Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin, New York
  • Samerski, Silja (2002): Die verrechnete Hoffnung, Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung. Münster
  • Strachota, Andrea (2006): Zwischen Hoffen und Bangen. Frauen und Männer berichten über Erfahrungen mit pränataler Diagnostik. Frankfurt a. M.
  • Waldschmidt, Anne (1996): Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung - 1945-1990. Münster
  • Waldschmidt, Anne (1999): Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer. Opladen
  • Waldschmidt, Anne (2002): Leid verhindern, Autonomie sichern - Die Verheißungen der Reproduktionsmedizin kritisch betrachtet, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Jg. 25 / Heft 60, S. 105-114.
  • Waldschmidt, Anne (2003): Normierung oder Normalisierung: Behinderte Frauen, der Wille zum "Normkind" und die Debatte um die Pränataldiagnostik, in: Graumann, Sigrid/Schneider, Ingrid (Hrsg.): Verkörperte Technik - Entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht. Frankfurt a. M., New York, S. 95-109.
  • Waldschmidt, Anne (2004a): Individuelle Selbstbestimmung und vorgeburtliche Diagnostik, in: Graumann, Sigrid / Grüber, Katrin / Nicklas-Faust, Jeanne / Schmidt, Susanna/Wagner-Kern, Michael (Hrsg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel. Frankfurt a. M., New York, S. 163-167.
  • Waldschmidt, Anne (2004b): Normalität, in: Bröckling, Ulrich / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas (Hrsg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M., S. 190-196.
  • Waldschmidt, Anne (2005): Who is Normal? Who is Deviant? "Normality" and "Risk" in Genetic Diagnostics and Counseling. In: Tremain, Shelley L. (Hrsg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor, S. 191-207.

  1. Zur Professionsgeschichte der PND, die zunächst mit der Institutionalisierung der Humangenetischen Beratung eng verknüpft war, bevor sie zum Bestandteil der Schwangerenvorsorge wurde, vgl. meine Studie zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945-1990 (Waldschmidt 1996).
  2. Dieser Zusammenhang gilt sowohl für die Beratungsexperten wie auch für die Schwangeren, darauf hat eine ganze Reihe von Studien bereits aufmerksam gemacht (z.B. Samerski 2002).

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