Kasseler Dokument
Diese Grundsatzaussagen sind das Fundament des von den unterzeichnenden sechs Verbänden der Behindertenhilfe und Selbsthilfe vom 26. - 28. März 1998 in Kassel veranstalteten Kongresses "Die Würde des Menschen ist unantastbar" Gegen den Zugriff der Bioethik auf das Leben.
1. Präambel
Die Bedrohung menschlichen Lebens durch medizintechnische und gesellschaftliche Entwicklung hat einen neuen Namen: Bioethik oder die Anmaßung, durch Menschen bestimmen zu lassen, wer Mensch ist oder sein darf. Wir wenden uns gegen alle Versuche, Menschen aus philosophischen, ökonomischen oder technologischen Überlegungen heraus zu klassifizieren und als Objekte fremder Interessen zu selektieren.
Jeder Mensch ist Person und als solche einzigartig und unverwechselbar. Aus christlicher Perspektive ist jeder Mensch ein Geschöpf Gottes, und sein Dasein hat Zukunft über das Leben hinaus. Menschliches Leben ist niemals nur biologisches Leben, sondern von Anfang an im biographischen Sinn als individuelles Leben zu verstehen. Kein anderer hat Grund und Recht, über die Lebensqualität und das Lebensrecht anderer zu befinden, ihn als Person oder Nicht-Person zu definieren, geschweige denn Kosten-Nutzen-Überlegungen über ihn anzustellen.
Jeder Mensch hat das Recht dazu, sich selbst und in Gemeinschaft mit anderen Menschen entwickeln zu können. Dies gibt ihm als Individuum die Möglichkeit, seine Lebensaufgabe für sich selbst und für andere zu erfüllen. Hier gibt es keinen Unterschied darin, ob ein Mensch behindert ist oder nicht.
Nahezu jeden Tag wird wie eine Heilsbotschaft versprochen, was nicht versprochen werden kann: eine immer leid- und krankheitsfreie Welt. Sie gilt als Rechtfertigung einer Eugenik, die ohne Einschränkung forschen möchte, Experimente an werdenden Menschen durchführen und Menschen aus Nützlichkeitserwägungen bis ins Erbgut manipulierbar machen will. Was wir hingegen brauchen und unterstützen möchten, ist soziale, therapeutische und sozialmedizinische Forschung und Entwicklung.
2. Recht auf Leben
Menschenwürde verwirklicht sich im gelebten Leben. Dieses Leben genießt höchste Achtung und höchsten Schutz. Das sollte in einem Gemeinwesen selbstverständlich sein, dessen erster Verfassungsartikel die Würde des Menschen als das höchste, unantastbare Gut bezeichnet. Entsprechend gewährleistet Artikel 2 Absatz 2 unseres Grundgesetzes das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Ohne Einschränkung ist die physische Existenz jedes Menschen geschützt, Urteile über ihren Lebenswert sind verboten, ebenso Unterscheidungen zwischen vorgeburtlichem und nachgeburtlichem Leben, Krankheit und Alter. Der Staat ist auf allen Handlungsebenen - Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung - verpflichtet, lebensfördernde und lebensfreundliche Bedingungen für alle Menschen zu garantieren. Ihm ist die Bestimmung darüber entzogen, wer Mensch ist. Gegen diesen Verfassungsauftrag wird heute vermehrt verstoßen.
Unsere Rechtsordnung soll das Lebensrecht nicht nur gegen staatliche Eingriffe absichern, sie soll sich auch schützend vor Menschen stellen, wenn andere sie rechtswidrig angreifen. Überall und immer, wo eine auch nur potentielle Gefährdung vorliegt, hat der Staat darauf hinzuwirken, dass diese nicht konkret wird. Auch dieser Auftrag wird heute nicht mehr überall ernst genommen.
Gleichwohl ist das Vertrauen in die Stabilität dieser Grundprinzipien des Rechtsstaates noch ungebrochen. Die gesellschaftlichen Kräfte in unserem Lande halten immer noch einen Mindestbestand von Forderungen, Grundsätzen und Wertmaßstäben für gesichert, der die unüberschreitbaren Grenzen festlegt, die für alle Menschen ein Leben in Würde schützen.
Dieses Vertrauen in die Unantastbarkeit des Lebens von seiner Entstehung bis zu seinem Ende ist durch den Zugriff der Biologie, Biomedizin und Biotechnologie nicht mehr gewährleistet. Verfassung und Verfassungswirklichkeit stimmen nicht mehr überein.
2.1. Lebensbeginn
Die technischen Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik, die Angebote der Pränataldiagnostik und die Möglichkeiten der perinatalen Intensivmedizin schaffen eine Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten, ob und welche Kinder geboren werden und am Leben bleiben. Was wie ein Zuwachs an Unabhängigkeit und Selbstbestimmung erscheint, wird zum Entscheidungszwang für Eltern und Ärztinnen und Ärzte, wird zur Verantwortung für ein "Kind nach Maß" und endet als soziale Pflicht. Scheinbar fließende Grenzen am Beginn des Lebens machen es besonders disponibel und fordern zu seiner Bewertung heraus.
Vorgeburtliche Untersuchungen haben sich routinemäßig und häufig unreflektiert in den Alltag der Schwangerenvorsorge etabliert. Was wie die Sorge um die Gesundheit des werdenden Kindes erscheint, wird angesichts fehlender Therapiemöglichkeiten zur selektiven Diagnostik, bei der nicht Krankheiten "bekämpft" werden, sondern verdächtige Krankheitsträger. Werdende Eltern fürchten, ein behindertes Kind könne ihnen persönlich als Versäumnis angerechnet werden. Die Konsequenz ist eine Entsolidarisierung der Gesellschaft, in der Behinderung und Anderssein immer weniger akzeptiert werden.
Die frühere embryopathische Indikation ist in der medizinischen aufgegangen. Wird z. B. bei einer Fruchtwasseruntersuchung die Behinderung eines Kindes festgestellt, kommt es in der Regel zu einem späten Abbruch der Schwangerschaft, u. U. auch zur Tötung des Kindes im Mutterleib. In der konsequenten Fortsetzung der selektiven Diagnostik wird die Freigabe der Tötung Neugeborener mit einer schweren Behinderung wieder ins Gespräch gebracht. Das Recht auf Leben und individuelle Entwicklung des Menschen wird damit abhängig von der Bewertung und Einschätzung durch fremde Interessen, und der sich entwickelnde Mensch wird zum Objekt. Damit wird an der Frage der Euthanasie eine Herausforderung an unser Verständnis vom Menschen selbst sichtbar.
Forderungen:
- Vorgeburtliche Untersuchungen, die nach Fehlbildungen oder genetischen Abweichungen beim Ungeborenen suchen, gehören nicht in die obligatorische Schwangerenvorsorge.
- Vor der Inanspruchnahme dieser Untersuchungen sind eine umfassende ärztliche Aufklärungspflicht und eine Zustimmungspflicht der Frau nach einer Bedenkzeit zwingend geboten.
- Ratsuchenden Frauen und Paaren muss ein niederschwelliges, psychosoziales Beratungsangebot zugänglich sein, das vom Medizinbetrieb unabhängig ist.
- Auch für Neugeborene mit einer schweren Schädigung gilt eine Pflicht zur Behandlung, die aus dem grundgesetzlich verankerten Rechtsgut der Menschenwürde resultiert. Für sie gelten die gleichen Grundsätze, die bei der Entscheidung über die Aufnahme oder Fortsetzung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen herangezogen werden, wie bei allen Menschen.
- Werdende Eltern und Eltern behinderter Kinder müssen die Gewissheit haben, dass sie und ihr Kind die umfassenden und nichtaussondernden Hilfen erhalten, die für ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft erforderlich sind.
2.2. Lebensmitte
Wenn Würde und Wert des Lebens gleichermaßen allen Menschen garantiert sind, können Menschen mit Behinderung zeitlebens auch in kritischen Situationen ihres Lebens sicher sein. Sie müssen nicht befürchten, von Organtransplantationen ausgeschlossen zu sein oder als willenlose Organspender missbraucht zu werden, weil bioethische Prinzipien ihnen ein nachrangiges Lebensrecht zugestehen. Wer aus welchem Grund auch immer in einem sogenannten Wachkoma lebt, wird alle medizinische und menschliche Fürsorge erfahren, die jedem Menschen zusteht. Niemand darf es unternehmen, mit und an ihnen fremdnützige Forschung zu betreiben, nur weil sie ihren Willen nicht äußern können. Kriterien eines notwendigen sorgsamen Umgangs mit kostenintensiven medizinischen Leistungen werden nicht von Vorstellungen einer durch Behinderung geminderten Lebensqualität ausgerichtet.
Bioethische Vorstellungen basieren auf einem Persönlichkeitsbegriff, den Menschen über den Menschen gebildet haben. Sie haben dabei Qualitätsstandards entwickelt, die anderen Menschen ihren Wert nach dem Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Eigenschaften zuweisen. Sogenannte Defekte entscheiden über Menschsein, Fähigkeiten werden nicht wahrgenommen. Am Ende ist ein so entwürdigter Mensch aller Menschenrechte entkleidet. Er ist verfügbar geworden. Man muss ihn nicht mehr medizinisch versorgen. Er wird für Organspenden verfügbar. An ihm kann fremdnützig geforscht werden. Es ist geboten, ihn verhungern und verdursten zu lassen.
Forderungen:
Vor dem Hintergrund der ethischen Grundaussagen und der schon eingetretenen sowie potentiellen Gefahren wird gefordert:
- Menschen mit einer Behinderung muss gleichwertige medizinische Hilfe zuteil werden wie allen anderen Menschen. Dazu gehört auch die Transplantation von Organen.
- Nicht einwilligungsfähige Menschen müssen vor Organentnahmen geschützt werden.
- Fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen darf nicht zulässig sein.
- Menschen im Wachkoma leben ihr besonderes Leben in einer zur Antwort bereiten Aufmerksamkeit, die sie sogar in unsere Gegenwart zurückführen kann. Uneingeschränkter Schutz ihres Lebensrechts und ihrer Würde durch Hilfe und Förderung ist unabdingbar.
2.3. Lebensende
Das irreversible Versagen des gesamten Gehirns ist nicht mit dem vollendeten Tod des Menschen gleichzusetzen.
Sterben ist ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Dem Sterbenden ist ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Zu einem Sterben in Würde gehören u. a. das Angebot einer individuellen Begleitung und Pflege, wie es etwa in Gestalt der Hospize und Palliativstationen existiert.
Jegliche Ethik, welche allgemein die Lebensberechtigung oder den Lebenswert von unheilbar kranken und sterbenden Menschen wegen hoher Kosten für die Volkswirtschaft und/oder angeblicher Sinnlosigkeit ihres Lebens anzweifelt, ist als nicht haftbar abzulehnen. Niemand in der Gesellschaft hat das Recht und die Legitimation, die Lebensberechtigung oder den Lebenswert von Individuen anzufragen oder anzuzweifeln.
Die grauenvollen Erfahrungen in Deutschland mit der Euthanasie und aktuelle Entwicklungen in anderen Ländern verlangen eindeutige Maßnahmen des Staates zur Verhinderung von aktiver und passiver Tötung u. a. sterbender Menschen. Der Staat kann es nicht Verbänden und Standesorganisationen überlassen, mittels Richtlinien die Kriterien für die Berechtigung zum Bezug von lebenserhaltenden oder lebensverlängernden Behandlungen und Medikamenten verbindlich aufzustellen.
Aktive Maßnahmen mit dem Ziel der vorzeitigen Beendigung des Lebens und Hilfen bei Suizid sind unzulässig, auch wenn diese Maßnahmen von dem Betroffenen gefordert werden. Aus diesem Tötungsverbot folgt jedoch nicht eine Lebens- und Leidensverlängerung um jeden Preis.
Forderungen:
- Sterbenden sind kontinuierlich Angebote der Begleitung (Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Geistliche etc.) zu machen, welche ihre Wünsche und Bedürfnisse achten. Für diese Begleitung sind die angemessenen finanziellen Rahmenbedingungen durch die Leistungsgesetze sicherzustellen. Kriterien für die Berechtigung zum Bezug von lebenserhaltenden oder lebensverlängernden Behandlungen und Medikamenten sind öffentlich, nachvollziehbar, transparent und mit den Betroffenen, mit Angehörigen sowie mit Verbänden fair zu diskutieren. Lebenserhaltende Maßnahmen dürfen bei Sterbenden nur abgebrochen oder unterlassen werden, wenn dies dem erklärten Willen des Sterbenden entspricht. Bei Vorliegen des erklärten Willens sind leidensmindernde Maßnahmen, vor allem angemessene Schmerztherapien durchzuführen, selbst wenn dies zu einer Lebensverkürzung führen könnte. Bei der Feststellung des erklärten Willens muss darauf geachtet werden, dass der Wille frei von manipulierender Einflussnahme geäußert worden ist. Der mutmaßliche Wille kann wegen seiner hohen Missbrauchsgefahr nicht herangezogen werden. Der Abbruch oder die Unterlassung von Maßnahmen (Körperpflege, das Freihalten der Atemwege, die Flüssigkeitszufuhr und die jeweils notwendige Ernährung), welcher bzw. welche auch bei nicht Sterbenden zum Tod führen könnte, sind unzulässig.
- Selbst wenn Maßnahmen mit der Zielsetzung der vorzeitigen Beendigung des Lebens bzw. Hilfen bei der Selbsttötung von Betroffenen verlangt werden, sind diese nicht zulässig.
- Die Verknappung der Mittel im Gesundheitssektor darf nicht zu einer heimlichen Selektion führen. Bei der Entscheidung über Behandlungen oder Medikamentengaben ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung nicht zulässig. Auch Sterbende haben einen Anspruch auf optimale medizinische Versorgung.
3. Appell
Die in diesem Dokument aufgezeichneten Gefährdungen und Defizite erfordern ein Tätigwerden der Betroffenen. Sie wenden sich mit einem Appell an die Öffentlichkeit, gemeint sind die öffentliche Gewalt und alle gesellschaftlichen Kräfte, solange noch Zeit zum Appellieren und Protestieren ist. Immerhin geben sie sich Berufs- und Standesregeln und formen mit an der öffentlichen Meinung. Am Ende aber und wesentlich ist der Einzelne angerufen, der sich nie mit dem Hinweis auf "die anderen" entschuldigen oder entlasten kann.
Der Gesetzgeber hat nicht nur alles zu unterlassen, was die hier aufgezeigten Forderungen in Frage stellen könnte. Er hat darüber hinaus sein Mandat ernst zu nehmen, aktiv handelnd Menschen in Schutz zu nehmen, wo immer sie durch andere gefährdet sein könnten. Dasselbe gilt für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Gesetze sind lebensfreundlich anzuwenden und auszulegen, Verwaltungshandeln und richterliche Verantwortung haben dem Leitsatz zu folgen: "Im Zweifel für das Leben!"
Forderungen reichen nicht aus, wenn es darum geht, die Probleme zu lösen, die der Lösung durch Staat und Verbände entzogen sind, wo der Gesetzgeber versagt, wo der Einzelne gefordert ist. Hier gilt der Auftrag, in einer Welt von Egoismus und Scheinsolidarität die Gewissen zu schärfen und Bewusstsein dafür zu wecken, dass Widerstand gefordert ist, der sich auch nicht vor widerständigem Handeln scheuen darf.
Kassel, 28. März 1998
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e. V.
Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V.
Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.
Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben" e. V.
Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und Soziale Arbeit e. V.
Verband Katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte e. V.
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