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Freunde & Förderer

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Testimonial Berghöfer

Jochen Berghöfer
Jochen Berghöfer, Geschäftsführung Haus Mignon – Institut für Heilpädagogik, Pädagogik und Frühförderung, Hamburg
Die Vision, ein Institut zu gründen mit der Aufgabenstellung, "die Perspektive von Menschen mit Behinderung ... (mehr)

Barrierefreie Anerkennung? Zur deutschen Diskussion um Behinderung

Als Zaungast bei der deutschen Tagung „Ethik und Behinderung“ in Berlin

"Im Reisebüro lassen sie uns nicht wegfliegen und eine Wohnung bekommen wir auch nicht. Die meinen, wir würden nicht putzen oder dass wir zu laut sind."

Eindrucksvolle Worte von Ramona Günther zur Eröffnung der eintägigen Veranstaltung "Ethik und Behinderung. Vom Paradigmenwechsel zur Ethik der Anerkennung", die am 12. Mai 2006 in der Katholischen Akademie in Berlin stattgefunden hat. Ramona Günther ist eine kleine gutgelaunte burschikose Frau mit Jeans, Turnschuhen und T-Shirt. Sie sagt von sich selbst, dass sie behindert sei und sie spricht hier heute aus der Perspektive der eigenen Erfahrung zur Diskriminierung. Ihr Habitus ist nicht der einer akademischen Rednerin, nicht das, was man normalerweise an Konferenzen erwartet. Aber gerade darum geht es ja heute, um das 'normalerweise' - oder was man von Normalität erwarten würde.

Ramona Günther wirkt erfrischend, denn sie erzählt aus ihrem eigenen Leben. Plötzlich schlägt sie ein Rollenspiel vor. Sie bittet Jeanne Nicklas-Faust auf die Bühne, Mitveranstalterin der Tagung und Bundesvorstand der Lebenshilfe Deutschland, dieses Rollenspiel scheint nicht geplant, sie greift Jeanne Nicklas-Faust in die Tasche, schaut in Fausts imaginären Geldbeutel und sagt zu ihr: "Wieso hast Du soviel Geld? Was willst Du Behinderter mit soviel Geld machen?" Dem Publikum wird klar, wie alltägliche Diskriminierungen gegenüber Behinderten aussehen können. Es sind nicht die großen Gesten, die Behinderung schwierig machen, es ist die Summe aus vielen kleinen Bemerkungen und Verhaltensweisen der 'Anderen', die den Betroffenen in die Ausgrenzung stoßen. Ramona Günthers mutiger Auftritt wird mit großem Applaus gewürdigt, dann beginnt die eigentliche Tagung.

Im Mittelpunkt der Tagung stehen die verschiedenen Formen und Deutungen von Diskriminierung. Hauptveranstalter ist das innovative und zukunftsweisende Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW), das sich einer interdisziplinären und unabhängigen Forschung auf den Gebieten Medizin und Ethik verschrieben hat. Das Institut wird von Katrin Grüber geleitet und legt besonderes Augenmerk auf Menschen mit Behinderungen. Dazu wird es von der deutschen 'Aktion Mensch' unterstützt. Die heutige Tagung findet in den Räumen der Katholischen Akademie Berlin statt, die ebenfalls Mitveranstalterin ist.

Im weiteren Verlauf des Morgens folgen Vorträge von Birgit Rommelspacher und Oliver Tolmein. Rommelspacher ist Professorin für Psychologie und Tolmein ist Rechtsanwalt und Journalist. Beide betonen aus ihrer Sicht, dass Diskriminierung abgebaut werden sollte. Beide unterscheiden zwischen den Diskriminierten und den Diskriminierenden, Rommelspacher spricht sogar von Zuschauern und Akteuren, von 'wir' und 'ihr'. Ich frage mich nur, warum ich bei diesem Hang zur Dichotomie ein flaues Gefühl in meinem Magen verspüre. Sitzen wir nicht gerade hier, um genau diese Dichotomie aufzubrechen. Ist es nicht gerade diese Dichotomie, die diskriminierungskonstitutiv ist? Ich mache mir Mut, vielleicht habe ich die Vorträge nur nicht richtig verstanden, schließlich bin ich kein Fachmann in Disability Studies und ich erinnere mich an Ramona Günther und ihre beherzte Einleitung. Die Workshops am Nachmittag werden das Thema der Diskriminierung sicherlich differenzierter aufgreifen.

Die Tagung geht in die Mittagspause. Die katholische Akademie befindet sich in einem anschaulichen Tagungsgebäude in der Hannoverschen Straße, in der Nähe der Charité und des Bundestages, direkt hinter dem Invalidenfriedhof. Während dem Mittagessen frage ich mich, ob es politisch korrekt ist, von 'Invalidenfriedhof' zu sprechen, oder ob in dem Begriff auch schon eine Diskriminierung stecken könnte. Das Essen findet im Parterre statt. Wieder fallen mir die vielen Rollstuhlfahrer und Fahrerinnen auf.

Weiter geht's mit den Workshops im vierten Stock. Im Fahrstuhl bin ich von zwei Rollstühlen umgeben und plötzlich wird mir bewusst, warum mir die Rollstühle auffallen. Es ist mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich laufen kann. Nicht nur das. Ich kann laufen und stehe aus reiner Bequemlichkeit im Fahrstuhl. Ich nehme aus reiner Bequemlichkeit einem anderen Rollstuhlfahrer den Platz im Fahrstuhl weg. Die Rollstuhlfahrerin lächelt mich freundlich an, sie sagt, die Tagung würde ihr viel Freude bereiten und sie käme jetzt zu mir in den Workshop. Und plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen, ein schlechtes Gewissen zu haben.

Die vier Workshops sollen das Thema Diskriminierung weiter auffächern. Ich selbst leite einen Workshop zum Thema "Das Bild vom perfekten Menschen und das imperfekte Glück." Der Workshop soll die zunehmende Pränataldiagnostik aus ethisch-philosophischer Sicht beleuchten. Martin Knechtges, wissenschaftlicher Referent der Katholischen Akademie, steht mir zur Seite, außerdem Susan Binder, Kinderärztin und Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom. Das Arbeitsklima im Workshop ist angenehm, die Diskussionsatmosphäre scheint offen. Sie scheint. Es sind viele Eltern von Behinderten anwesend, die beeindruckende Diskussionsbeiträge liefern. Ich spreche aus der Theorie, die Zuhörer zumeist aus der Praxis. Ich illustriere mit philosophischen Beiträgen, die Zuhörer zehren von ihrer praktischen Erfahrung. Meine Frau hat mich zur Tagung begleitet und sie sitzt in der Runde. Wir werden gefragt: "Haben sie denn schon selbst Kinder?" "Nein, haben wir nicht." "Arbeiten Sie selbst mit Behinderten" "Nein, auch das nicht" - ich spreche nicht aus eigener Erfahrung, wenn ich über Pränataldiagnostik und Behinderung rede. Plötzlich fühle mich unwohl in der Rolle, die mir hier zugesprochen wird. Mir wird vermittelt, dass mir die praktische Erfahrung zur Umgehensweise mit Behinderung fehlt. Gleichzeitig wird mir aber auch deutlich, wie wichtig doch der Diskurs zwischen denjenigen 'mit Erfahrung' und denjenigen 'ohne eigene Erfahrung' ist. Gerade im gemeinsamen Gespräch äußern sich doch die unbewussten Ängste, Vorurteile und Fallstricke. Aber es sind nicht nur meine Ängste und Vorurteile, auch mir als Nicht-Behindertem schlagen Vorurteile entgegen, der ich mir anmaße, mir ein Urteil zu bilden über eine Situation, die ich selbst bislang nicht erfahren habe.

Die Tagung neigt sich dem Ende zu und Sigrid Graumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin im IMEW, hält einen Abschlussvortrag zum Thema Anerkennung. Sie spricht aus Sicht einer feministischen Ethik, thematisiert Vulnerabilität und Abhängigkeiten, ohne sich in unnötigen Dichotomien zu verstricken. Sie unterscheidet unterschiedliche Ebenen der Anerkennung und führt diese folgendermaßen aus: Zunächst sei die Liebe eine Form der Anerkennung, die sich zwischen Subjekten abspielt. Subjekte stünden in einem Verhältnis gegenseitiger Bedürftigkeiten. Dann könnte Anerkennung auch aus juristischer Sicht gesehen werden. In dieser Sichtweise müssten einzelnen Subjekten dann gleiche Rechte zugesprochen werden. Anerkennung könne drittens auch als Wertschätzung verstanden werden. Diese dritte Form der Anerkennung schätzt und betont die individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten der einzelnen Subjekte. Sie folgert aus ihren Ausführungen zur Wertschätzung aber, dass Wertschätzung nicht 'erzwungen', sondern höchstens kulturell 'vermittelt' werden kann. Aber wo soll diese Vermittlung stattfinden? In den Schulen zum Beispiel - so Graumanns unmissverständliche Antwort. Mir fällt der alte Leitsatz ein, der jungen Lehrern an deutschen Gymnasien indoktriniert worden ist (ich war selbst einmal so ein junger Lehrer): Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Das ist genau, was Graumann meint und ich gebe ihr Recht. Ich fühle mich versöhnt, weil es ihr gelungen ist, einen differenzierten Standpunkt zu entwickeln.

Es folgt eine Abschlussdiskussion und einige Vertreter von Behindertenverbänden melden sich zu Wort. Die Diskussion heizt sich auf, politische Maßnahmen werden angesprochen, Zukunftsvisionen, Möglichkeiten und Grenzen. Die Diskussion erreicht eine rein theoretische Ebene. Plötzlich meldet sich wieder Ramona Günther zu Wort: "Wieso fragt ihr uns nicht einfach selbst, was wir wollen? Wir Behinderte wissen es doch am besten?"

Der Ausgang des Tages soll in einem Restaurant stattfinden. Nur eine Handvoll der Teilnehmenden macht sich auf dem Weg. Ein 'barrierefreies' Restaurant soll es sein, weil wir von mehreren Rollstuhlfahrerinnen begleitet werden. Die Diskussion um das geeignete barrierefreie Restaurant verschlingt Minuten und wird mir selbst zur peinlichen Belastungsprobe. Kann denn die Wahl eines barrierefreien Restaurants wirklich eine 'political correctness' ausdrücken - oder führt diese Diskussion nicht zu einer erneuten Diskriminierung? Ich weiß es nicht.

Ramona Günther läuft gutgelaunt an uns vorbei und ich rufe ihr zu, wie sehr mich ihre Worte beeindruckt hätten. Sie winkt mir zu und bedankt sich für meine Rückmeldung. Sie wird weiterhin selbstsicher für die Akzeptanz ihrer eigenen Behinderung einstehen und ich frage mich plötzlich, ob ich als Nicht-Behinderter nicht auch für meine Unsicherheit einstehen sollte. [ 1 ] Ich glaube, ich habe etwas von Ramona gelernt. Mit dem Bekenntnis zur eigenen Haltung wäre eine Diskussionsform geschaffen, die sich nicht nur hinter leeren Worthülsen verstecken muss. Natürlich bin ich für Anerkennung und gegen Diskriminierung - nur was heißt das in meinem Alltag? Wäre ich in einer integrativen Schule sozialisiert worden, dann würde mir der alltägliche Umgang mit Behinderung vielleicht leichter fallen. Die integrative Schulpolitik scheint mir der einzige Ansatz zu sein, der Deutschland wieder zu einem Land machen könnte, indem über Behinderung und Unsicherheiten gesprochen werden kann, ohne dass sich jedes Mal das Damokles-Schwert der deutschen Kriegsvergangenheit und 'Volkssäuberung' über einem nieder senkt. Eine übertrieben verbalisierte 'political correctness' drückt für mich noch keine alltägliche Anerkennung aus. Es ist noch ein weiter Weg zum Paradigmenwechsel - gerade in Deutschland. Deshalb bleibt auch zu hoffen, dass das IMEW noch lange besteht und weiterhin in seinen Bemühungen zur Anerkennung voranschreiten kann. Der Abend geht in einem barrierefreien Restaurant zu Ende.

Zurück in Basel fragt mich meine Kollegin Jackie Leach Scully, wie es mir in Berlin ergangen sei. Jackie Leach Scully hat selbst eine Hörbehinderung und ist vertraut mit den diffizilen Facetten von Behinderung und der Diskussion um Behinderung. Ich sage: "Ich habe mich zwischen den ganzen Behinderten etwas wie ein Außenseiter gefühlt und nicht genau gewusst, wie ich mich verhalten soll." Sie lacht dazu und antwortet: "Dann bist Du ja schon mal einen Schritt weiter. Jetzt weißt Du, wie es sonst immer den Behinderten geht."

Rouven Porz
Universität Basel

© Copyright: Rouven Porz. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Das Original dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift Bioethica Forum, Nummer 52, März 2007, S. 18-20. Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für biomedizinische Ethik. Download im PDF-Format, 698 KB, externer Link


  1. Vgl. hierzu weiterführend: Jan Weisser. Behinderung, Ungleichheit und Bildung. Eine Theorie der Behinderung. Bielefeld: 2005.

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