Bericht zum Friedrichshainer Kolloquium vom 11.6.13:
Mittlerweile fand das „Friedrichshainer Kolloquium“ zum achten Mal in der Villa Donnersmarck statt. Es drehte sich diesmal um „Berufsausbildung und Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung“ und dazu wurden – wie bisher in bewährter Weise praktiziert – wieder zwei sehr kompetente Referentinnen eingeladen: Prof. Dr. Lisa Pfahl als Vertretungsprofessorin für Inklusive Pädagogik aus Bremen und Prof. Dr. Uta Klein von der Universität Kiel für „Gender und Studies“.
Prof. Dr. Pfahl referierte zum Thema „Berufsausbildung und Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung“. Die Referentin prüfte als Einstieg in das Thema den letzten Behindertenbericht (2009) auf seine Aussagen zum Arbeitsmarkt, da der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung noch nicht veröffentlicht worden war. Faktisch habe sich die Situation im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich verschlechtert, z.B. Ansteigen der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten im Vergleich zu arbeitsfähigen Erwerbslosen – daran könnten auch die überwiegend positiven Aussagen im Behindertenbericht nichts ändern. Die Situation auf dem Ersten Arbeitsmarkt bleibe für Menschen mit Behinderung prekär.
Die Referentin nannte 3 mögliche Gründe für diese Entwicklung:
1) Es sei belegt, dass Ausbildungswege der Sonderschule zu einem Mangel an qualifizierten Abschlüssen führen. Sonderschulen seien auch deshalb nicht mit dem Menschenrecht auf diskriminierungsfreien Bildungszugang vereinbar, sie stehen laut der Referentin einer langfristigen gesellschaftlichen Teilhabe entgegen. Das Durchlaufen von Institutionen der Rehabilitation fördere die Marginalisierung der Menschen auf dem Arbeitsmarkt.
2) Der Anteil von „lernbehinderten“ und „emotional-sozial-auffälligen“ Personen liegt - nach Aussagen der Referentin - bei ca. 50% im Vergleich zu körperlich Schwerbehinderten. Jedoch sei die Datenlage dazu extrem dürftig. So könne man die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe nicht berücksichtigen.
Integration in die Arbeitswelt nach SGB IX und UN-BRK bzw. Inklusion in die Erwerbstätigkeit erfordere geeignete Schritte. Doch müsse man den Bedarf an angemessenen Vorkehrungen erfassen. Neben den technischen Hilfen müsse ebenfalls Arbeitsassistenz, Arbeitszeiten und Arbeitsteilung als angemessene Vorkehrungen in den Fokus rücken.
3) Es gibt nur selten einen Übergang von den Werkstätten für behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt (laut Behindertenbericht gibt es nur bei 20% der WfMB überhaupt einen Übergang von einem Mitarbeitenden in allgemeine Erwerbsarbeit pro Jahr). Hingegen wachse die Zahl der Menschen in Werkstätten jährlich beständig um ca. 6.000 bis 8.000 Personen. Wenn diese Menschen in die Sondereinrichtung WfMB ausgelagert würden, käme keine Integration in die Betriebe zustande. Die stigmatisierende Praxis der WfMB müsse aufgebrochen werden.
Die Referentin formulierte abschließend: Es muss ein diskriminierungsfreier Zugang zu Bildung für alle geschaffen werden! Gerade in Krisenzeiten ist existenzerhaltende Erwerbstätigkeit ein hohes Gut für alle. Und speziell für Menschen mit Behinderung bedeute dies u.a. den Ausbau von persönlicher Assistenz im Arbeitsleben.
Die anschließende Diskussion berührte unterschiedliche Fragestellungen, z.B. wie die Referentin den Teilhabebegriff definiere? Teilhabe lasse sich nur messen, wenn man eine Vorstellung „vom guten Leben“ als Maßstab habe. Nur dann könne mangelnde Teilhabe erfasst werden. Der Begriff bezieht sich für sie auf alle gesellschaftlichen Bereiche, also auf Schule, Arbeit, Freizeit. Oder die Frage, wieso sich viele Schulabgänger trotz (oder wegen) Unterstützung sehr passiv verhalten? Sicherlich habe dies mit der Sozialisierung in eine abhängige Objektposition innerhalb der Einrichtungen zu tun. Ein anderer Punkt: die aktuellen Datengrundlagen (Mikrozensus und Nationales Bildungspanel enthalten zu wenige Fälle) sind mangelhaft für eine gezielte Förderung, sie müssen noch viel stärker ausgebaut werden, um tatsächlich repräsentative Daten zu haben. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Migrationshintergrund? – so eine andere Teilnehmerin. Der Trend ist eindeutig: es gibt auf jeden Fall eine „Überbelegung von Menschen mit Migrationshintergrund in Sonderschulen“. Eine Frau aus einer Beratungsstelle schilderte, dass sie es „bisher immer geschafft habe“, ihre Ratsuchenden an interessierte Betriebe zu vermitteln. Es gäbe durchaus Interesse auf Firmenseite, aber auch viele Ängste und Unsicherheiten, wie eine konkrete Unterstützung im Betrieb aussehen könnte. Das sei ein hoher Beratungsbedarf bei Firmen.
Prof. Dr. Uta Klein referierte zum Thema „Diversity und Hochschule“
Nachdem die Referentin Bildung grundsätzlich als „kulturelles Kapital“ (Bourdieux) definierte, mit dem sich „Bildung bezahlt macht“, gab sie einen Überblick über heutiges Diversity-Management an deutschen Hochschulen und kam zu dem Ergebnis, dass die gesellschaftliche Vielfalt an den Hochschulen noch längst nicht abgebildet sei. Der Begriff Diversity sei zwar in aller Munde und es gebe viele unterschiedliche – meist nebeneinander her arbeitende – Projekte, aber von 415 deutschen Hochschulen seien gerademal ca. 12 Hochschulen ernsthaft mit dieser Thematik beschäftigt. Der Begriff Diversity werde meist „schön bunt“ ausgelegt, Antidiskriminierung bzw. gesellschaftliche Ausschließungsprozesse jedoch kaum in den Fokus gerückt. Auch sei die Datenlage unzureichend. Gehe es um „Studieren mit Handicap“, und das sei selten genug, so drehe es sich meist um räumliche Barrierefreiheit, zu Fragen sozialer Diskriminierung wie z.B. Beschimpfungen, Beleidigungen und tätliche Übergriffe gäbe es keine ausreichende Datenlage. In Amerika oder England dagegen existieren „haargenaue Prozentanteile“ von benachteiligten bzw. unterrepräsentierten Gruppen schon seit den 60er Jahren. Aus diesen Daten werden Zielquoten zur Erhöhung der unterrepräsentierten Gruppen abgeleitet, die es verbindlich zu erreichen gilt.
„Soziale Selektivität“ müsse in das Blickfeld genommen werden. Bekannt seien in Deutschland Zusammenhänge von sozialer Auswahl und Migrationshintergrund: z.B. haben 12 % der Studierenden einen Migrationshintergrund (im Vergleich zur Bevölkerung von 21%). Oder die Frage der Bildungssozialisation: 75% der Akademikerkinder studieren, von Nicht-Akademikern sind es 24% - das sei kein Ausdruck von Begabungsunterschieden.
Wie wichtig das Thema Menschen mit Behinderung an den Hochschulen ist, belegte die Referentin mit 2 Untersuchungen von 2007 und 2011 (Deutsches Studentenwerk). 19 % aller Studenten sind von Behinderung bzw. chronischer Erkrankung betroffen, 8 % berichten von einer Beeinträchtigung des Studierens, davon sind psychische Beeinträchtigungen mit 91% der Betroffenen hochrelevant. Die umfangreiche Studie des Deutschen Studentenwerks „beeinträchtigt studieren“ von 2011 untersuchte 16000 Studenten. Dabei dominieren die psychischen Beeinträchtigungen bei dieser Gruppe mit 45%, 4% fallen auf die Gruppe der „Bewegungsbeeinträchtigungen“. Lediglich 27 % stellten einen Antrag auf Nachteilsausgleich, z.B. längere Schreibezeit. Und 44% wollten sich nicht „outen“ mit ihren Beeinträchtigungen. Als hauptsächliche Probleme nannten z.B. 70% Schwierigkeiten beim Einhalten der zeitlichen Vorgaben (Prüfungsdauer, Studiendauer). Außerdem wurden genannt: räumliche Barrieren (Zugänglichkeit), Nutzbarkeit der Räume, Belichtung, Sicht- und Hörverhältnisse, Bereitstellung von Ruheräumen, sowie das Problem mangelnder Beratung bei Interessensvertretung für Studierende.
Die Referentin konstatierte einen hohen Bedarf an speziellen Begleitangeboten wie z.B. bei Internet, Benutzung von Bibliotheken, Studienassistenz, Campusverpflegung. Sie forderte, dass Behinderung als Forschungsfeld stärker verankert werden müsse. Behinderung müsse von Anfang an bei allem an der Hochschule mitgedacht werden (disability mainstreaming). Diversity- und Antidiskriminierungsstrategien müssten an den Hochschulen stärker verankert und Anlaufstellen geschaffen werden, um Maßnahmen systematisch zu integrieren, der Bereich Diversity Studies solle in Curricula gestärkt werden. Hoch problematisch fand die Referentin die Kopplung von Diversity-Orientierung und Exzellenzdiskurs, da der Exzellenzdiskurs sich von Chancengleichheit abwende; sie plädierte als Alternative für ein Anknüpfen an Fragen der Bildungsgerechtigkeit.
Diskussion: In Deutschland gäbe es eigentlich keine Universität, an der wirklich Diversity verankert sei – im Gegensatz zu den US-amerikanischen Hochschulen, wo schon seit den 60ern Förderung von Minderheiten stattfindet. Dort sei es eine große Selbstverständlichkeit, auf Minderheiten zu reagieren. Da sei Deutschland „ziemlich hinterher“. Diversity sei ein schwammiger Begriff, der durch die direkte Übersetzung „Vielfalt“ nicht wirklich an Bedeutung gewinnt. Die Perspektive der Referentin sind „Schließungsprozesse“. Wo findet soziale Selektion in der tertiären Bildung statt? Wer wird exkludiert, über welche Mechanismen? Diversity lässt sich nach der Referentin nicht ohne Maßnahmen der Antidiskriminierung konzipieren!
In Deutschland gibt es viele einzelne Projekte, die sich mit Diskriminierung beschäftigen, meist gehe es dabei jedoch um Jugendliche und Frauen, Menschen mit Behinderung stehen weniger im Fokus. Diese Projekte seien auch kaum miteinander vernetzt. Als zwei positive Beispiele wurden in der Diskussion die „Hörsensible Universität“ (Oldenburg) und „Flexible Studienformate“ (Baden-Württemberg) genannt. Andere Fragestellung: Trotz der in den 70ern vollzogenen Vergesellschaftung der Universität sei es nicht gelungen, die verschiedenen Gesellschaftsteile repräsentativ an die Universität zu bringen. Was nach Meinung der ersten Referentin mit der Universität selbst zu tun hat, da sie auf Diskriminierung von Leistung und Lernen aufbaue. An den Universitäten gäbe es keinen Trend, sich wirklich zu öffnen.
Dies sei bei den Fachhochschulen anders. Dort seien auch mehr Frauen als an den Universitäten. Zweiklassenbildung an den Hochschulen sei ein Fakt, so Prof. Klein, was jedoch nicht nur negativ sei, denn durch Fachhochschulabschluss können durchaus bessere Chancen für den Arbeitsmarkt bestehen.
Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt drehte sich um die Frage der Klassifizierung von Menschen mit Behinderungen – das Etikett Schwerbehinderung sei stigmatisierend, die Selbsteinschätzung von Betroffenen ließe sich wahrscheinlich nicht umsetzen. Der Vorteil des Kriteriums „Schwerbehinderung“: man könnte zeigen, wie viele Studenten welche Unterstützungsbedarfe hätten. Das Plenum plädierte für die kritische Beibehaltung der Kategorie Schwerbehinderung: Solange wir keine inklusive Gesellschaft haben, so lange brauchen wir die Kategorien Behinderung, um Diskriminierung abbilden zu können. Menschen mit Behinderung brauchen noch Nachteilsausgleiche. Die Tatsache, dass manche Studenten mit ihrem Studium aufgrund einer Behinderung länger brauchen, benötigt strukturelle Unterstützung und neue Lernformen. Mit dem allein menschenfreundlichen Argument „Behinderung bereichert die Gesellschaft“ wird man nur sehr wenige Menschen ansprechen und überzeugen.
Es gab noch mehr Aspekte, die engagiert im Plenum diskutiert wurden, wie z.B. die Frage der Anerkennungspraxis von beruflichen Abschlüssen als Zugang zum Hochschulbereich, Quotierungen, Datengrundlagen und vieles mehr – auch diesmal war die Diskussion wieder lohnenswert und interessant. K.B.