„Wenn das alles so freier ist, da kannst du dein Leben selber verstalten.“
Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung in einer Einrichtung
„Inklusion und Exklusion“ Friedrichshainer Kolloquium 2012
des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft
21. Februar 2012, 16.00 Uhr bis 19.00 Uhr
von Ulrike Winkler
Nachfolgend möchte Ihnen von meinem Interviewprojekt in der Stiftung kreuznacher diakonie berichten und mich dabei vor allem auf die Erlebnisse einer Gesprächspartnerin konzentrieren. Zu Ihrer Orientierung zunächst eine kurze Beschreibung der Einrichtung.
Die Stiftung kreuznacher diakonie, heute das zehntgrößte diakonische Unternehmen in der Bundesrepublik, wurde 1889 als II. Rheinisches Diakonissen-Mutterhaus in Sobernheim, einem kleinen Ort an der Nahe, gegründet. Fortan engagierte sich auf nahezu allen klassisischen diakonischen Hilfefeldern. Dabei nahmen die Pflege, Erziehung, Beschulung und Beheimatung von Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung nahm rasch einen prominenten Platz ein. Dies schlug sich u. a. in der Verlagerung dieses Arbeitszweiges nach Bad Kreuznach, 30 Kilometer südwestlich der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz gelegen, wo 1899 das Haus „Bethanien“ für – wie es zeitgenössisch hieß – „Schwachbegabte weiblichen Geschlechts“ entstanden war. Dass die kreuznacher diakonie sich auf Mädchen und Frauen konzentrierte und nur hin und wieder kleine Jungen aufnahm, war einer Absprache mit der Anstalt Hephata in Mönchen-Gladbach geschuldet, die ihrerseits ausschließlich Männer mit geistiger Behinderung aufnahm.
Frau A. meldet sich
Im Frühjahr 2011 meldete sich eine Dame, ich nenne sie Jenny A., bei der Stiftung kreuznacher diakonie, die ihre Kindheit und Jugend in Bethanien verbracht hatte. Als Frau A. 1969, nach 15 Jahren Anstalt, entlassen wurde, war sie felsenfest davon überzeugt, wie sie sagte, „schwachsinnig“ zu sein.
Frau A. ist nicht geistig behindert und ihr Schicksal ist kein Einzelfall.
Immer wieder begegnen uns in unserer Arbeit Menschen, die mit dem Etikett der „geistigen Behinderung“ in eine Anstalt eingewiesen worden waren, manchmal bis zu ihrem Tod dort verblieben, gelegentlich auch ihr Grab auf dem Anstaltsgelände fanden.
Wenn wir, dem Forschungs- und Interpretationsansatz der dis/ability studies folgend, davon ausgehen, dass „geistige Behinderung“ eine soziokulturelle Konstruktion ist, so soll am Beispiel von Jenny A. einmal die Herstellung des Phänomens der „geistigen Behinderung“ nachvollzogen werden. Wer war beteiligt? Welche Methoden, welche sozialen Praxen – Sprache, Beschulung, Ausbildung – wurden wirksam?
Frau A. hat den Prozess des „zu jemanden“ oder besser: des „zu etwas“ gemacht Werdens während ihrer Heimzeit sehr genau wahrgenommen und reflektiert. Meine nachfolgenden Ausführungen stützen sich daher maßgeblich auf ihre Erinnerungen und Einschätzungen. Manches von dem, was ich nachfolgend von Frau A. zitiere, wird in Ihren Ohren merkwürdig, fremd, gelegentlich vielleicht auch herabsetzend klingen. Ich bitte Sie, zu beachten, dass es nachfolgend um die Konstruktion von geistiger Behinderung gehen soll, die nicht nur auf Frau A. Anwendung fand, sondern auch auf die Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung, die in Bethanien lebten. So wurde nicht nur Frau A. als „geistig behindert“ beschimpft, sondern auch die anderen Bewohnerinnen wurden ständig darauf hingewiesen, dass mit ihnen etwas stimme, dass sie „nichts“ wert sind, dass sie eigentlich nicht gewollt sind.
Herkunft
Jenny A. wurde 1947 in Düsseldorf geboren. Ihre Eltern, eine junge Frau von achtzehn Jahren und ein amerikanischer Soldat, waren nicht miteinander verheiratet. Jenny kam sehr krank zur Welt und wurde deshalb in aller Eile getauft. Von ihrer Taufpatin, die sie nie kennenlernen sollte, erhielt sie ihren ungeliebten Vornamen „Erika“. Ihr weiterer Vorname „Jenny“, ein Zugeständnis an die amerikanische Herkunft ihres Vaters, war der eigentliche Rufname von Frau A. Aber weder auf den Ämtern noch später in den Heimen, auch in der Kreuznacher Diakonie, wurde dies berücksichtigt. Nachfolgend soll aber, außer bei Quellenzitaten, Frau A.‘s Vorname „Jenny“ verwandt werden, nicht zuletzt aus Respekt ihrer späteren Entscheidung, den ungeliebten Vornamen abzulegen.
Frühe Kindheit
Das Düsseldorfer Jugendamt übernahm die Vormundschaft für Jenny, die in das dortige „Kinder- und Säuglingsheim St. Anna-Kloster“ kam. In diesem Heim lebten rund 170 Jungen und Mädchen im Alter von 0 bis 14 Jahren, betreut von 45 Nonnen und etwa zehn weiteren Erziehungskräften.
Jenny war anfällig, oft krank, musste zu verschiedenen Kuraufenthalten, kehrte wieder in das Heim zurück, wechselte die Gruppen und damit ihre unmittelbaren Bezugspersonen, von denen es zu wenige gab. Rund sechs Jahre blieb Jenny im Kinderheim, bis ihre Mutter sie zur Adoption freigab. Die zaghafte Hoffnung des Kindes, dauerhaften Halt und ein Zuhause in einer Pflegefamilie zu finden, zerbrach, als es von dem Sohn dieser Familie so brutal vergewaltigt wurde, dass es zur Behandlung in ein Krankenhaus musste.
„Diagnose“
Das natürliche und geradezu überlebensnotwendige Bedürfnis Jennys nach Nähe und Zärtlichkeit, nach zugewandter und verlässlicher Ansprache wurde seit ihrer frühesten Kindheit nicht erfüllt. Verängstigt, misstrauisch und enttäuscht entwickelte Jenny ein auffälliges und von ihrer Umwelt als störend empfundenes Verhalten: Jenny war unruhig, nervös und, wie es in ihren Akten heißt, „höchst umtriebig“, sie redete laut und viel, schlug um sich und war kaum zu bändigen, sie zankte mit den anderen Kindern, war unkonzentriert und fahrig, zugleich aber war Jenny – bekam sie ein gutes Wort, einen freundlichen Blick – sehr anhänglich bis hin zur Aufdringlichkeit.
Jennys normabweichendes Verhalten, dann noch einmal verstärkt durch die Vergewaltigung, wurde zeitgenössisch nicht als zwangsläufige und im Grunde normale Reaktion auf zutiefst verstörende Lebensbedingungen gewertet, sondern verwies auf die in der frühen Bundesrepublik immer noch weit verbreitete gesellschaftliche Praxis, die Ursachen von Verhaltensstörungen kurzerhand in den Anlagen eines Menschen zu suchen.
Diese Zuschreibung traf vor allem die Kinder von ledigen und minderjährigen Frauen, die sich, ein weiterer Makel, mit einem Besatzungssoldaten, Abgesandter des ehemaligen „Feindes“, eingelassen hatten. Diagnosen wie „Psychopathie“ oder „moralischer Schwachsinn“, wie Jenny unterstellt, pathologisierten auffälliges Verhalten und rückten es in den Grenzbereich von Erziehungsschwierigkeiten, psychischer Erkrankung und geistiger Behinderung. Nicht selten hing es vom Zufall ab, ob ein verhaltensauffälliges Kind in den 1950er/1960er in einem Heim der Kinder- und Jugendhilfe, in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung oder in einem Haus der Behindertenhilfe untergebracht wurde.
Ankunft
Als die achtjährige Jenny im Juli 1955 an der Hand einer Fürsorgerin Bethanien betrat, betrat sie eine „totale Institution“.
Der Zweck einer „totalen Institution“ im Sinne Erving Goffmans besteht – ungeachtet der offiziellen Organisationsziele, im Falle der Kreuznacher Diakonie also Beschulung, Erziehung und Rehabilitation – vor allem darin, den Tagesablauf einer großen Zahl von Menschen in einem geschlossenen System, auf beschränktem Raum, mit möglichst geringen materiellen und personellen Ressourcen zu steuern und zu verwalten. Um diesen versteckten Zweck umzusetzen, werden die „Insassen“, wie Goffman die Bewohnerinnen und Bewohner nennt, von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten und einer einzigen zentralen Autorität – dem Anstaltsvorsteher, dem Gruppenleiter oder der Hausmutter – unterworfen.
Dem gewünschten reibungslosen Funktionieren des Betriebsablaufs stehen die Insassen mit ihren sehr unterschiedlichen Bedürfnissen, ihrem Eigenwillen und ihrem Eigensinn aber im Wege. Sie sind Störfaktoren. In der Binnenlogik einer „totalen Institution“ liegt es daher, die Menschen in den Betriebsablauf einzupassen, alles Widerständige in ihm zu brechen, ihn seiner Individualität zu entkleiden. Wie funktioniert dies?
Die Ordnung der Institution – wecken, aufstehen, Betten machen, waschen, ankleiden, frühstücken, arbeiten, lernen, ausruhen, schlafen usw. – wird durch Drill, physische Gewalt, ihre Androhung, manchmal durch Privilegien in die Körper und die Psyche der „Insassen“ eingeschrieben, vielfach für diese unverlierbar.
Besonders wirkungsvoll sind subtile Formen psychischer Gewalt, welche die Persönlichkeit eines Menschen nachhaltig auflösen oder – bei Kindern – gar nicht erst zur Entfaltung kommen lassen, bzw. diese zu etwas formen, was sie gar nicht sind.
Jenny sollte im Laufe der fast 15 Jahre, die sie in der Kreuznacher Diakonie verbrachte, an die Bedürfnisse der Institution an- und eingepasst werden. Hierüber nun mehr.
In der Aufnahmestation
Zunächst kam Jenny in die Aufnahmestation von Bethanien.
In Bethanien, ursprünglich für 120 Menschen ausgelegt, lebten in den 1950er und 1960er Jahren bis zu dreihundert Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen. Erst 1954 war das dreistöckige, aus Backsteinen errichtete Gebäude mit ausgebautem Dach und großen, durchgängigen Veranden als letztes Gebäude auf dem Anstaltsgelände renoviert worden. Im Zuge dieser Arbeiten waren nicht nur endlich die Schäden des Zweiten Weltkrieges beseitigt und die verwohnten Räume – Bethanien hatte als Lazarett gedient – erneuert, sondern auch eine „bessere Stationsaufteilung“ vorgenommen worden. Aber angesichts der vielen, von der Kreuznacher Diakonie positiv beschiedenen Aufnahmegesuche war das Gebäude sofort und dann chronisch überbelegt.
Die im Erdgeschoss von Bethanien gelegene Aufnahmestation galt und gilt der damaligen Psychiaterin, mit der ich auch sprechen konnte, als elementarer Fortschritt. Früher seien die Kinder im Zimmer des Anstaltsleiters kurz begutachtet und sogleich auf die einzelnen Stationen verteilt worden. Nun, in der Aufnahmestation, hätten sich die Neuankömmlinge schon einmal an die Abläufe und die Ordnungen gewöhnen können, und die Schwestern und Ärzte hätten mehr Zeit gehabt, die Mädchen zu beobachten und ihre Fähigkeiten einzuschätzen.
Für Jenny war das Betreten der Aufnahmestation ein regelrechter Schock. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte das Mädchen so viele Menschen mit unterschiedlichen geistigen Behinderungen und sie verstörenden Verhaltensweisen gesehen:
„Ja, da waren ganz viele andere. Waren auch schon kranke Kinder […] mit dabei gewesen. Geistig Behinderte, Mongoloide und die sich vorn Kopf gehauen haben. Oder den Kopf gegen die Wand. Die haben dann so einen Schutzhelm oder irgendwas aufgehabt, weil die sich selbst verletzt haben und so. Oder sich in die Arme gebissen haben.“
Zudem hatte die Fürsorgerin Jenny über den Charakter der Einrichtung getäuscht:
„Sie hat zu mir gesagt gehabt: ‚Du wirst jetzt in ein Kinderheim reinkommen, da sind die Gruppen klein und das ist eine Familie.‘ Die hat mich total angelogen […], das fand ich gar nicht schön. […] Da waren so viele Kinder auf der Station.“
Nach einigen Tagen kam Jenny in „ihre“ Gruppe in den 3. Stock, wo nicht nur Mädchen und weibliche Jugendliche mit tatsächlichen oder vermeintlichen geistigen Behinderungen lebten, sondern auch alte und hinfällige Frauen, die zusätzlich zu ihrer geistigen Behinderung nicht selten noch an einer Demenz erkrankt waren und einen hohen Betreuungsaufwand hatten. Von einer konsequenten Differenzierung der Bewohnerinnen nach Alter, körperlichem und geistigem Zustand sowie individuellem Förderbedarf war man in Bethanien zu dieser Zeit noch weit entfernt. Angesichts der vielen Mädchen und Frauen in ihrem Schlafsaal war Jenny erneut regelrecht überwältigt.
Im Speisesaal
Gegessen wurde in einem im Keller gelegenen, kaum vom Tageslicht erhellten Speisesaal. Dieser war weiß gestrichen, hatte während des Zweiten Weltkrieges als Luftschutzkeller gedient und bot Platz für 270 Personen. An langen Tischreihen saßen die Bewohnerinnen von Bethanien dann da, lauschten dem Gebet, das die Hausmutter, eine Diakonisse, sprach. Zum Frühstück kamen die Brote fertig geschmiert und abgezählt auf den Tisch, ebenso das Abendessen.
Das Mittagessen wurde ausschließlich mit dem Löffel zu sich genommen. Jenny und die anderen lernten lange Zeit nicht, mit Messer und Gabel umzugehen.
Folgt man Erving Goffman, so ist das Nichterlernen dieser basalen Kulturtechnik bzw. das Vorenthalten eines vollständigen Essbestecks prägendes Kennzeichen einer „totalen Institution“. Indem man ältere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene zwingt, mit dem Löffel zu essen, degradiert man sie zu unmündigen, unfähigen Kleinkindern. Die Menschen entwickeln ein niedriges Eigenbild, haben also kein stabiles Selbstbewusstsein, welches ja auch unerwünscht ist. Von der bürgerlichen Gesellschaft, ihren Regeln und Gepflogenheiten, sind sie getrennt – auch nach ihrer Einlassung. In diesem Zusammenhang war der Bericht der Psychiaterin erhellend.
Als die Medizinerin 1950 ihren ersten Arbeitstag in der Kreuznacher Diakonie hatte und sie die erwachsenen Frauen in Pella, einem Haus für „Psychopathinnen“, mit „Sie“ ansprach, wurde ihr vom Oberarzt beschieden, die Frauen zu duzen, schließlich seien diese ja „unsere Kinder“, und so, räumte die Psychiaterin rückblickend ein, wurden sie dann ja auch behandelt.
In der Schule
Ein wichtiger Gründungsauftrag der Kreuznacher Diakonie war es, jedem Mädchen ein Mindestmaß an Bildung mitzugeben, ihnen möglichst Lesen und Schreiben beizubringen. Jenny war während ihrer Zeit im Kinderheim bzw. bei ihren Pflegeeltern nicht intellektuell gefördert worden.
So konnte sie bei Schuleintritt weder „einen Buchstaben“ schreiben, noch konnte es „eins, zwei, drei“ zählen. Auch ihr Alter wusste Jenny nicht. „Ich wusste gar nichts“, lautet ihr bedrückendes Fazit. Frau A. erinnert sich nur bruchstückhaft und ungern an den Unterricht, der in einem kleinen Raum mit vielen anderen Mädchen stattfand. Sie habe Buchstaben und Wörter von der Tafel abschreiben müssen, die für sie keinerlei Sinn ergaben:
„Und da ich ja praktisch war, hab‘ ich dann halt nachgezeichnet, weil, das hab‘ ich ja hingekriegt. Wusste aber nicht, wie es hieß oder so, sondern ich hab‘ nur halt die Buchstaben, die dann an der Tafel standen, die hab‘ ich nur nachgezeichnet und dann war das Wort da.“
Anfangs bemühte sich Frau A., so gut es irgend ging, dem Unterricht zu folgen, hatte aber bald massive Probleme mitzukommen. Da sie ihre Nervosität und ihre motorische Unruhe kaum körperlich ausagieren konnte – etwa mit langen Spaziergängen, Sport, Toben usw. –, blieb sie unruhig und unkonzentriert. Bei ihren Lehrerinnen hinterließ Jenny den Eindruck der Unaufmerksamkeit und des Desinteresses. Druck sei aber nicht auf sie ausgeübt worden, vielmehr sei sie sich selbst überlassen worden. Offenbar galt Jenny bald als mehr oder weniger hoffnungsloser Fall, den man bis zur Schulentlassung mitschleifte:
„Und [ich] hab‘ dann nur in der Weltgeschichte rumgeguckt, weil ich es ja nicht gekonnt habe. Und dann hat man mich dann auch da gelassen. Man hat […] mich jetzt nicht dazu gezwungen, dass ich jetzt Buchstaben schreibe.“ Die Folge war, dass Frau A. die Anstalt als fast vollständige Analphabetin verließ.
Die Strafen
In christlichen Einrichtungen waren die Beschäftigten ausdrücklich gehalten, die ihnen Anvertrauten als Mitmenschen, als ihre Brüder und Schwestern in Jesu zu sehen, und sie entsprechend liebevoll und geduldig zu behandeln, sie als „Gedanke Gottes“ zu begreifen. Gleichzeitig aber sahen sie sich den Forderungen ihres Vorgesetzten, etwa des Anstaltsleiters, des Hausvaters oder der Hausmutter, ausgesetzt, einen möglichst reibungslosen Betriebsablauf zu gewährleisten.
Dies war aber – angesichts der prekären personellen und räumlichen Rahmenbedingungen – nicht anders möglich, als eben nicht geduldig mit den „Insassen“ umzugehen, sondern ihren Willen zu brechen, sie zu gefügigen Objekten zu machen, die nicht weiter die Arbeit störten. In dieser strukturellen Überforderungssituation griffen manche Mitarbeiterinnen und Schwestern zu körperlicher und seelischer Gewalt.
Für Frau A. verbanden sich mit den Schlägen, dem stundenlangen in der Ecke stehen, dem Einsperren im Bethanien-Keller und dem nächtelangen Tragen einer so genannten „Schutzjacke“ vor allem das Gefühl, schlecht, verdorben und nichts wert zu sein. Sie fühlte sich – wie schon zuvor in Düsseldorf – abgelehnt und ungewollt. Zu diesem Gefühl trug die seelische Gewalt bei, die sie ertragen musste.
Frau A. berichtet, dass die Schwestern sie häufig beschimpften und ihre Äußerungen an ihrem Aussehen festmachten. Wegen ihres dichten schwarzen Haares und ihrer dunklen Augen, vom indigenen Vater geerbt, nannten die Diakonissen sie wahlweise „Zigeuner“, „Teufel“ oder „schwarz‘ Hex‘“.
Zugleich raubten sie Jenny ein wichtiges Stück ihrer Identität, nämlich ihren geliebten Vornamen „Jenny“. Der Einfachheit halber und wohl auch, so steht zu vermuten, weil es sich um einen ausländischen, nicht für jedermann leicht auszusprechenden Namen handelte, und das Kind „deutsch“ aufwachsen sollte, wurde Frau A. stets mit ihrem ungeliebten, seinerzeit aber gängigen Vornamen „Erika“ angesprochen und gerufen. Selbst in den Akten taucht der Name „Jenny“ nicht oder nur in abenteuerlicher Form geschrieben auf.
Am allerschlimmsten empfand Frau A., dass sowohl die Mitarbeiterinnen als auch die Schwestern sie und die anderen Mädchen als „schwachsinnig“ und „geistig behindert“ beschimpften.
Vor allem diese Schimpftiraden, die von Jennys Schulversagen und ihrem Unvermögen, sich „normal“ zu benehmen, tagtäglich scheinbar bestätigt wurden, führten dazu, dass Frau A. nach einiger Zeit fest davon überzeugt war, dass sie tatsächlich eine geistige Behinderung habe.
Die Einweisung in eine entsprechende Einrichtung schien der endgültige Beweis dafür zu sein:
„Ja, die haben immer gesagt, wir sind geistig behindert und wir sind schwachsinnig. Ich hab‘ das ja auch selber geglaubt, dass ich das wirklich bin. Weil wir ja auch mit geistig behinderten Menschen zusammen waren, die sich die Köpfe gegen die Wand gehauen haben, die sich in die Arme bissen. Den ganzen Tag so sitzen.“
Tatsächlich hatten Menschen mit geistigen Behinderungen keinen leichten Stand in der Kreuznacher Diakonie, sie rangierten – mit den alkoholkranken Wanderern – am unteren Ende der Anstaltshierarchie. Vor allem standen sie in Konkurrenz zu den Menschen mit körperlichen Behinderungen, die einen Steinwurf entfernt in Haus „Bethesda“ wohnten. Die Psychiaterin der Anstalt berichtet: „Wir waren oft so ein bisschen neidisch, weil die Körperbehinderten immer so etwas vorgezogen wurden. Also, [die] hatten immer etwas mehr Privilegien als unsere.“ Ein ehemaliger Heimleiter führte die Bevorzugung der körperbehinderten Bewohnerinnen und Bewohner, die auch besser ernährt wurden, auf deren höhere Pflegesätze zurück. Automatisch sei diesen Jungen und Mädchen, die in aller Regel aus intakten Familienverhältnissen kamen, mehr Respekt und Wertschätzung entgegengebracht worden, so seine Vermutung.
Hinzu kam, dass die „Bethanien-Mädchen“, wie sie von einigen alten Schwestern noch heute genannt werden, zu allen möglichen Putz-, Aufräum- und Handlangerarbeiten in Bethesda herangezogen wurden. Jenny und die anderen waren gleichsam die „Dienstboten“ der körperbehinderten Jungen und Mädchen.
Manchmal waren die Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung Gegenstand des Spotts, und zwar von einer Seite, von der man es nicht unbedingt erwartete. Frau A. berichtete im Interview, dass sie, als sie auf der Krankenstation des Mutterhauses putzte, von einer Schwester immer aufgefordert worden sei, einzelne Bethanien-Bewohnerinnen nachzuäffen. Jenny kam dieser Aufforderung stets nach, war dies doch fast die einzige Möglichkeit, ein wenig von der schmerzlich vermissten Aufmerksamkeit und ersehnten Anerkennung zu bekommen:
„Ich hab‘ ja manchmal so Faxen geschnitten und manchmal Leute nachgeäfft, hauptsächlich von Bethanien. Und dann hat die Schwester sich immer so kaputt gelacht. Und immer, wenn ich morgens gekommen bin, hat die Schwester gesagt: ‚Mach‘ mal die und die nach.“ Und das habe ich mit Vorliebe gemacht.“
Der Blick von außen
Eine „Anstalt für Geistigbehinderte“ galt im damaligen Verständnis als „Schutz- und Schonraum“, in dem sich die „Insassen“ hinter hohen Mauern, verschlossenen Toren, Gittern und dichten Gardinen – den Blicken der Öffentlichkeit möglichst vollständig entzogen – „entfalten“ sollten. Hin und wieder fand sich die „interessierte Öffentlichkeit“ – Frauenhilfe, Kirchengemeinden, Honoratioren der Stadt, Studentengruppen usw. – in Bethanien ein. Mit größtem Unbehagen denkt Frau A., und nicht nur sie, an diese Besuchergruppen zurück. Sie und die anderen Mädchen seien dann hübsch angezogen worden, „schöne Schleifen“ hätten sie im Haar getragen, Spielzeug stand vor ihnen und sie seien nicht angebunden gewesen: „Und dann wurde so getan, als würde es uns so richtig blendend und gut gehen.“
Eine andere ehemalige Bewohnerin berichtet Ähnliches. Bei Besuchen von „höheren Leuten“ sei vieles ganz anders gewesen. „Hübsche Kleidchen“ hätten sie angehabt, auch seien Puppen und ein Puppenhaus da gewesen, mit denen sie und die anderen Mädchen dann „schnell“ gespielt hätten.
Jenny empfand nicht nur die Diskrepanz zwischen dem nach außen postulierten Anspruch der tätigen, barmherzigen Nächstenliebe und dem grauen Alltag, der sich in Bethanien vollzog, sondern sie kam sich in diesem „potemkinschen Dorf“ regelrecht zur Schau gestellt vor. Sie fühlte sich beschämt und in ihrer Würde verletzt. Der „Blick der anderen“ zementierte Jennys Status als „geistig Behinderte“.
Ausgang
Andere Kontakte als jene zu ihren Gruppen hatten die Mädchen in Bethanien kaum. Außenkontakte waren fast völlig ausgeschlossen. Kamen die Mädchen einmal nach „draußen“, bei gelegentlichen Busausflügen oder Spaziergängen, fielen sie natürlich auf. Stets in der Gruppe, angetan mit altmodischer, teilweise nicht passender Kleidung, Hand in Hand in Zweierreihen und begleitet von streng blickenden Diakonissen bewegten sie sich durch die Straßen. Aber auch dort war ihr Radius beschränkt, Gänge mitten durch die Stadt gab es selten. Jenny kannte also fast nichts von ihrer näheren Umgebung, wusste aber ganz genau, was sie sich nicht genauer anschauen durfte: Männer. Würde sie dies tun, würde sie automatisch schwanger werden, drohten die Diakonissen. Unaufgeklärt wie Jenny war, nahm sie diese Ankündigung für bare Münze. Auch prophezeiten ihr die Schwestern, dass, sollte sie jemals ein Kind haben, dieses auf jeden Fall „geistig behindert“ zur Welt kommen und dann – genau wie sie – in einer entsprechenden Anstalt landen würde. Frau A. ist kinderlos geblieben.
Den „Schwachsinn“ verwenden
Erving Goffman beschreibt vier Strategien, wie die „Insassen“ mit den Zumutungen der Anstalt umgehen. So kann der „Insasse“ sich, erstens, vollkommen aus der Anstaltssituation herausziehen und den Rückzug nach innen antreten. In solchen Fällen interessiert er sich nur noch für die Dinge und Gegenstände, die ihn „unmittelbar körperlich umgeben“.
Dann gibt es, zweitens, diejenigen, die die Kooperation mit dem Personal verweigern und rebellieren. Diese Haltung ist aber meist nur von kurzer Dauer, kann sie doch durch eine entsprechende Behandlung in den meisten Fällen vollständig und nachhaltig gebrochen werden.
Den dritten Weg der „Kolonisierung“ beschreiten diejenigen, die sich an die Welt, die ihnen die „totale Institution“ bietet , angepasst haben. Dieser Gruppe gelingt es, sich – wie Goffman konstatiert – eine „stabile, relativ zufriedene Existenz“ aufzubauen.
Die vierte Gruppe macht sich das „amtliche“ oder auch ärztliche Urteil über ihre Person zu Eigen, internalisieren die Ziele und Ordnungen der „totalen Institution“ internalisiert. Sie sind gleichsam zu „perfekten Insassen“ mutiert, die gelegentlich auch den Habitus und die Attitüden des Personal nachahmen bzw. dessen Funktionen, etwa als Assistent oder Aufpasser, übernehmen.
Die meisten „Insassen“ in „totalen Institutionen“ befolgen indes die Strategie des „ruhig Blut Bewahrens“, also eine „mehr oder minder opportunistische Kombination“ aus Anpassung, Konversion und Kolonisierung, so Goffman.
Diesen vierten Weg wählte auch Frau A., zugleich aber ersann sie eine weitere Strategie. Sie machte sich irgendwann ihren vermeintlichen „Schwachsinn“ zu nutze. Wie das?
Die Erzieherinnen von Bethanien kontrollierten beim morgendlichen Wecken, ob sich jemand eingenässt hatte. Frau A., die selbst keine Probleme mit nächtlichem Einnässen hatte, aber zum Auswaschen der Laken herangezogen werden sollte, berichtet von ihrer hin und wieder erfolgreichen Weigerung, die sie mit ihrer angeblichen geistigen Behinderung begründete:
„Weil wir waren ja schwachsinnig und geistig behindert, aber für Bettwäsche waschen und solche Sachen zu machen, waren wir nicht geistig behindert und auch nicht schwachsinnig, dafür waren wir gut genug, um diese ganzen Sachen [zu machen]. Und das war für uns, für die kleinen Hände, war das [schwer]. Waren alles Leinentücher, die waren sehr schwer zum Auswringen. Da haben wir schon mit zu kämpfen gehabt. Und da habe ich mich auch immer fürchterlich vor gewehrt, weil ich gesagt habe: ‘Nein, ich mach‘ das nicht. Ich kann das nicht. Und ich will es nicht. Ich bin schwachsinnig, ich bin geistig behindert. Geistig behinderte Kinder können das nicht.‘“ Daraufhin wurde sie mit einem mit Urin beschmutzten Betttuch geschlagen worden.
Raus
Die damals Verantwortlichen der Diakonie-Anstalten waren sich durchaus darüber im Klaren, dass die Zustände in Bethanien unhaltbar waren und schnell geändert werden mussten. Der in kürzester Zeit realisierte Bau von „Neu-Bethanien“ – vergleichsweise kleine Wohneinheiten mit in weitgehender Selbstständigkeit lebenden „Familien“ – Anfang der 1960er Jahre stellte für die Schulkinder und jungen Frauen eine markante Verbesserung ihrer Lebenssituation dar. Erstmals erlernten sie das Essen mit Messer und Gabel, sie lernten, sich ein Brot selbst zuzubereiten, konnten mehr über sich selbst und ihre Zeit bestimmen, lebten in Vier-Bett-Zimmern, deren Wände sie nach ihrem eigenen Geschmack schmücken konnten. Eine ehemalige Mitarbeiterin denkt sehr gerne an den Umzug zurück, die Atmosphäre in den neuen Häusern empfand sie als „lockerer“ und „fröhlicher“.
Diese Gefühle hatte auch Frau A., die sich fünf Jahre lang einen Schlafsaal mit 25 Mädchen und Frauen hatte teilen müssen.
Nach ihrer Entlassung aus der Anstaltshilfsschule 1961/1962 sollte Jenny in eine Familienpflege kommen. Hierfür durchlief sie eine „Vorbereitungszeit für gesteuerte Entlassung“, die vor allem in einer hauswirtschaftlichen Fortbildung und im Putzen in den verschiedenen Häusern der Diakonie-Anstalten bestand. Diese „Vorbereitung“ zog sich über Jahre hin.
Noch 1968, Jenny war volljährig geworden, sah der zuständige Pastor den Zeitpunkt der Entlassung der jungen Frau noch nicht gekommen: „Mit ihrem unruhigen Wesen [sei Erika] einer Familie“ noch nicht zuzumuten. Mitte Mai 1969 war es dann soweit. Nach fast 15 Jahren konnte Jenny die Diakonie-Anstalten verlassen. Sie kam zunächst in einen Haushalt in einem Hunsrückdorf, konnte dort aber nicht bleiben, weil die Familie sich außerstande sah, sie weiter zu bezahlen. So besorgte sie sich im September 1970 rasch und ganz selbstständig eine neue Stelle in einem Haushalt, wo sie mit Vorliebe für die Kinder sorgte. 1971 verließ Jenny den Hunsrück und zog nach Köln.
Der Schritt in die Großstadt war für Jenny ein großer und wichtiger Schritt. Sie verdiente ihr Geld als Haushaltshilfe und wohnte in einem Wohnheim. Kurz danach überwarf sich Jenny mit ihrer damaligen Arbeitgeberin. Diese hatte Anstoß daran genommen, dass die junge Frau das tat, was viele Frauen ihres Alters taten: Sie ging aus, amüsierte sich, trank Alkohol, rauchte, „bummelte“, hatte Freunde. Jenny war zu diesem Zeitpunkt schon 24 Jahre alt, seit drei Jahren volljährig, und noch immer interessierten sich der Düsseldorfer Gemeindedienst als ehemaliger Vormund und die Diakonie-Anstalten für Jennys Lebenswandel und meinten, diesen moderieren zu müssen. Diese „fürsorgliche Belagerung“ schüttelte Jenny schließlich ab, indem sie alle Brücken hinter sich abbrach und „unbekannt“ verzog.
Der eigene Weg
Seitdem ist Frau A. ihren eigenen Weg gegangen, hat ihr Leben, um unseren Vortragstitel leicht abgewandelt aufzugreifen, selbst „gestaltet“.
Zunächst schloss sie mit ihrer Identität als „Erika“ ab. Sie ließ, wie eingangs bereits erwähnt, den ungeliebten Vornamen aus ihren Papieren streichen. Ihr Talent, mit Kindern zugewandt und liebevoll umzugehen, ermöglichte ihr eine Tätigkeit als Tagesmutter. Und bis heute betreut sie die Kinder berufstätiger Frauen, holt sie von der Schule ab, kocht für sie, spielt mit ihnen und hilft ihnen bei den Hausaufgaben.
Privat hat Frau A. weniger Glück gehabt. In ihrer Ehe erlebte sie viel Gewalt. Als sie sich scheiden ließ, verbrannte sich ihr Mann, nicht ohne ihr zuvor noch die Verantwortung für seinen Suizid aufzubürden.
Das größte Handicap von Frau A. war jedoch – wie könnte es anders sein –, dass sie „fast gar nicht“ lesen und schreiben konnte. Das wollte Frau A. nicht länger hinnehmen. Sie meldete sich in einer Abendschule in Köln an und begann, das nachzuholen, was ihr an Bildungschancen in ihrer Kindheit und Jugend vorenthalten worden war. Um sich zu beweisen, dass sie ihren Schulabschluss schaffen würde, setzte sie sich ein bemerkenswertes Ziel:
„[...] bevor ich auf die Schule gehe, mache ich erst den Führerschein. Wenn ich den Führerschein schaffe, dann gehe ich auf die Schule. Dann weiß ich, dass ich nicht blöde bin, dann weiß ich, dass ich intelligent und nicht schwachsinnig bin.“
Ich kann Ihnen versichern, dass Frau A. sehr gerne und sehr souverän Auto fährt – und sehr schnell.
Vielen Dank.
Es gilt das gesprochene Wort.