Text zum Audio-Podcast „Friedrichshainer Kolloquium – Wohnen“
Das „Friedrichshainer Kolloquium“ wird vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft bereits seit 10 Jahren organisiert. Das Institut sieht seine Aufgabe darin, die Perspektive von Menschen mit Behinderung und chronischer Krankheit in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nachhaltig zu verankern. Zum Kolloquium werden jeweils zwei Vorträge aus der Wissenschaft gehalten. Das Besondere dabei: die Wissenschaftler kommen aus verschiedenen Disziplinen und haben deswegen unterschiedliche Blickwinkel. Wichtig ist auch die Diskussion im Anschluss an die Vorträge. In diesem Jahr findet die Veranstaltungsreihe an sechs Terminen in Zehlendorf statt, in der Villa Donnersmarck und in Kooperation mit der Fürst-Donnersmarck-Stiftung.
Dr. Katrin Grüber leitet das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft. Sie beschreibt den diesjährigen Schwerpunkt:
Die Reihe steht unter dem Motto „Exklusion und Inklusion“. Viele reden darüber. Wir wollen durch diese Reihe beleuchten, was heißt eigentlich Inklusion? Ist es nur ein Zauberwort oder ist es, was einige schon befürchten, etwas Abschreckendes? Wie kann man das machbar machen, wie kann man den Begriff mit der Praxis verbinden? Das ist das Leitthema der Veranstaltung. Das reicht vom Thema „Wohnen“ bis zu Themen wie „Was heißen die Begriffe, was heißt heutzutage eigentlich Behinderung“ und „Was heißt Exklusion und Inklusion von Menschen, die in Heimen gelebt haben“ – das war die vergangene Veranstaltung. Also, das Spektrum ist breit.
Am 17. April fand die zweite Veranstaltung dieses Jahres statt. Dabei drehte es sich um das Thema „Wohnen“. Einmal geht es um den Ort, also die Wohnung und das Haus. Es geht aber auch um das Umfeld, wie muss ein Quartier sein, um Hilfe- und Pflegebedürftige nicht auszugrenzen?
Den ersten Vortrag hielt Professor Monika Seifert. Sie arbeitet als freie Fachreferentin und Autorin - und beleuchtete „Das Konzept der Sozialraumorientierung und die Praxis“. Zu Beginn nahm sie bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Für sie ist der Artikel 19 wichtig, denn er beschreibt das Recht auf unabhängige Lebensführung und auf Einbeziehung in die Gemeinschaft.
Doch der heutige Ist-Zustand sehe anders aus. Von der Struktur her dominieren immer noch stationäre Einrichtungen. Fast zwei Drittel der Empfänger von Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten leben in Heimen, so Seifert. Um den Ausbau des ambulanten Wohnens zu fördern, brauche es eine Kultur des Zusammenlebens:
Unter der Zielperspektive Inklusion muss diese Einengung der Hilfen dringend erweitert werden um eine sozialräumliche Perspektive, die die Gestaltung des Gemeinwesens in den Blick nimmt. Das heißt, Professionalität unter dem Leitbild der Inklusion und Partizipation bedeutet einerseits Person-Zentrierung. Das bedeutet, individuelle Hilfearrangements unter der Zielperspektive Lebensqualität. Und zum anderen die Sozialraumorientierung, die das Ziel hat, die soziale, kulturelle, gesellschaftliche und politische Teilhabe zu verstärken.
In der unter Seiferts Leitung erstellten „Kundenstudie“ von 2010 wird festgestellt, dass sich bei allen Beteiligten Denken und Handeln verändert muss. Darüber hinaus gibt die Studie Impulse, wie sich eine Stadt " als lernendes System" der Vision einer inklusiven Stadt annähern kann. Darauf aufbauend erläuterte die Referentin mehrere Punkte, die ein inklusives Wohnkonzept ausmachen:
Inklusive Wohnkonzepte zielen auf ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung im Verbund mit tragfähigen sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb des Wohnbereiches. Die sozialen Beziehungen sind sehr wesentlich, weil dort großer Handlungsbedarf besteht. Inklusive Wohnkonzepte grenzen niemanden aus. Das heißt, auch Menschen mit sehr hohem Hilfe- und Pflegebedarf sollen einbezogen werden. Und nicht in Heime abgeschoben werden. Wir brauchen daher neue Konzepte. Das ist genau auch im Interesse der UN-Konvention, die sagt, dass auch Menschen mit intensiverem Unterstützungsbedarf selbstverständlich die Menschenrechte in Anspruch nehmen.
Außerdem müssten sich inklusive Wohnkonzepte an individuellen Teilhabe-Bedürfnissen orientieren. Wichtig sei zum Beispiel auch ein Hilfe-Mix, der freiwilliges Engagement und professionell Tätige integriert. Seifert endete mit der Bemerkung, die Verantwortung für den Fortschritt der Inklusion liege bei der Kommune, sie müsse die notwendigen Bedingungen schaffen.
In der anschließenden Diskussion wurde bemängelt, dass die theoretischen Konzepte bekannt seien, aber bisher nur sehr wenig davon umgesetzt wurde. Es wurde aber auch auf erfolgreiche Initiativen hingewiesen, wie zum Beispiel den „Runden Tisch Lokale Teilhabe“ in Berlin Tempelhof-Schöneberg.
Als zweite Rednerin war Professor Karin Wolf-Ostermann eingeladen. Sie lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin und arbeitet zurzeit an einer wissenschaftlichen Studie, die untersucht, wie es Menschen geht, die einen hohen Unterstützungsgrad haben und ihr Wohnumfeld wechseln. Konkret wurden 40 Teilnehmer befragt, die aus stationärem Dauerwohnen in ein „Wohnen mit Intensivbetreuung", kurz „WmI“, umgezogen sind. Untersucht wurden u.a. die Lebensumstände, die soziale Teilhabe, Angstsituationen und Depressionen.
Karin Wolf-Ostermann fasst erste Ergebnisse zusammen:
Was wir tatsächlich im Augenblick an Ergebnissen sehen, ist erst einmal vorläufig, weil wir die Studie noch nicht abgeschlossen haben. Wir haben trotz der massiven Veränderungen keine nachteiligen Ergebnisse gesehen, was Lebensqualität oder funktionale Einschränkungen betrifft. Was wir als positive Ergebnisse sehr deutlich sehen ist, dass die soziale Teilhabe und die Teilnahme am normalen Alltagsleben für die Umgezogenen deutlich zunehmen.
Bei dem Projekt „Wohnen mit Intensivbetreuung“ handelt es sich um ein neues Wohnkonzept der Fürst Donnersmarck-Stiftung in Berlin. Langjährigen Bewohnern des stationären Dauerwohnens wurde ein Umzug in ambulant betreute Wohnformen mit einer 24-Stunden-Betreuung ermöglicht. Karin Wolf-Ostermann zieht ein vorläufiges Fazit:
Ich glaube, dass diese Evaluation, die wir hier durchführen, das Modellprojekt sinnvoll begleitet, weil wir unabhängig Kernelemente dieses Projektes identifizieren können. Die sich dann später eignen können, um solch ein Modell in die breite Praxis zu übertragen. Von daher glaube ich, dass dieses Modellprojekt „WmI“ tatsächlich Vorreiter ist für neue Ideen ist im Wohnumfeld für Menschen mit Behinderungen.
Auch nach diesem Vortrag wurde angeregt diskutiert. Zum einen wurden Fragen der schwierigen Finanzierung solcher Projekte besprochen. Zum anderen machten Diskussionsteilnehmer deutlich, dass es wichtig sei, die Nachbarschaft in der Wohngegend einzubeziehen. Der Sozialraum sollte unbedingt beachtet und analysiert werden, so dass überhaupt ein nachbarschaftliches Miteinander entstehen kann.
Beendet wurde die Veranstaltung mit dem Hinweis, dass im Idealfall Inklusion schon sehr viel früher beginnen sollte. In der Schule und im Kindergarten – das würde es Menschen mit und ohne Behinderung erleichtern, ihren Alltag gemeinsam auf Augenhöhe zu gestalten.