„Wenn das alles so freier ist, da kannst du dein Leben selber verstalten.“
Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung in einer Einrichtung
„Inklusion und Exklusion“ Friedrichshainer Kolloquium 2012
des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft
21. Februar 2012, 16.00 Uhr bis 19.00 Uhr
von Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl
Vor etwa fünf Jahren haben wir mit unseren Forschungen zur Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland vom Ende der 1940er bis in die 1970er Jahre begonnen. Dabei war uns von Anfang an klar, dass wir es nicht beim Aktenstudium bewenden lassen konnten. Akten schaffen sich ihre eigene Wirklichkeit. Sie machen aus einer Heimunterbringung einen Verwaltungsvorgang, in dem alles seine Ordnung hatte und streng nach Gesetzen, Verordnungen und Erlassen geregelt war. Den aktenführenden Stellen war durchaus klar, dass sich der Alltag der Heimerziehung so gut wie gar nicht in den Akten widerspiegelte. Das sollte er auch nicht – die Behörden errichteten in stillschweigendem Einverständnis Potemkinsche Dörfer, hinter denen das Elend in den Heimen verborgen blieb.
Wollten wir also zum Alltag in den Heimen vordringen, blieb kein anderer Weg, als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit Hilfe leitfadengestützter Interviews systematisch zu befragen. Erstmals wandten wir diese Methode bei unseren Forschungen zu den Erziehungshäusern in der Betheler Teilanstalt Freistatt an. Wir führten also eine Reihe von Interviews mit älteren Männern, die als Jugendliche im Zuge der Fürsorgeerziehung oder der Freiwilligen Erziehungshilfe als „verwahrlost“ und „schwererziehbar“ in die Moorkolonie Freistatt verbracht worden waren. Von den Ergebnissen dieser Interviews waren wir selber überrascht. Blendete man die verschiedenen Interviews übereinander, gelangte man zu einer Art „dichter Beschreibung“ einer Subkultur der Gewalt, von der sich in den Schriftquellen nur vereinzelte Spuren finden.
Durch diese Erfahrung ermutigt, übertrugen wir die Methode auf unsere Forschungen zum Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein, einem Haus für körperlich behinderte Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Die Interviews mit Menschen mit körperlicher Behinderung ermöglichten es, die versunkene Lebenswelt des Johanna-Helenen-Heims minutiös zu rekonstruieren. Als wir dann den Auftrag bekamen, die Gewaltverhältnisse auf dem Wittekindshof, einer Komplexeinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Bad Oeynhausen, zu untersuchen, zögerten wir daher nicht, wieder zur Methode des leitfadengestützten Interviews zu greifen. Wiederum stellten sich die Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern als eine unverzichtbare Quelle dar, wobei nicht nur die Gewaltthematik zur Sprache kam, vielmehr war es möglich, Bewohnerbiographien im Längsschnitt zu verfolgen und ihre Heimkarrieren – den Prozess, in dem sie zu Menschen mit einer geistigen Behinderung gemacht worden waren und in dem ihre Lebenschancen diesem sozialen Status angepasst wurden – zu analysieren. Mittlerweile haben in diesem Sinne auch Interviews mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Einrichtungen – der Diakonissenanstalt Neuendettelsau und der Kreuznacher Diakonie – stattgefunden. Darüber wird nachher Ulrike Winkler sprechen [Dr. Ulrike Winkler und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl bilden eine wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft. Beide haben am Abend des 21.02.2012 im Rahmen des Friedrichshainer Kolloquiums einen Vortrag gehalten; Anm. der Redaktion].
Ich möchte Ihnen zunächst ein anderes Projekt vorstellen, an dem wir mit einem Team jüngerer Forscherinnen und Forscher seit dem letzten Jahr arbeiten. Es soll Lebensbedingungen und Lebenslagen von Menschen mit geistiger Behinderung in Bethel in der Zeit von 1945 bis 1996 erforschen. Dabei verbinden wir eine sehr umfangreiche Aktenrecherche mit der bewährten Methode der leitfadengestützten Interviews. Diesmal geht es uns weniger um Gewalterfahrungen – auch wenn diese in den Interviews hin und wieder zur Sprache kommen. Vielmehr soll das Leben in Heimen für Menschen mit geistiger Behinderung, Epilepsie und psychischer Erkrankung – in der Praxis waren diese Hilfefelder nie fein säuberlich getrennt, und deshalb sortieren auch wir unsere Interviewpartnerinnen und -partner nicht streng nach Kategorien – nachvollzogen werden, insbesondere der Wandel im Lauf der Zeit. In den Untersuchungszeitraum 1945 bis 1996 fallen ja grundlegende konzeptionelle Brüche und Veränderungen im Bereich der Behindertenpolitik. Wir möchten wissen, wie Menschen mit geistiger Behinderung in einer Komplexeinrichtung diesen Wandel erlebt, empfunden, gedeutet, erfahren haben. Mittlerweile liegen etwa zwanzig verwertbare Interviews mit Menschen vor, die seit mindestens vierzig Jahren in einem Haus in Bethel oder einer der Betheler Außenstationen leben. Die Interviews dauerten in manchen Fällen zwei bis drei Stunden, die Transkriptionen sind bis zu sechzig Seiten lang. Wir haben begonnen, dieses umfangreiche Material auf die verschiedenen Themenkomplexe hin auszuwerten. Im Folgenden möchte ich Ihnen einige vorläufige Befunde dieser Auswertung vorstellen.
Erstens: Die Interviews mit Menschen, die bereits als Kleinkinder in Bethel untergebracht worden sind und seither dort leben, unterscheiden sich deutlich von den Interviews mit Menschen, die erst als Jugendliche oder junge Erwachsene nach Bethel kamen. Diejenigen, die im Alter von sechs bis acht Jahren in Bethel aufgenommen worden sind, haben im Grunde genommen kein Leben vor dem Heim. Entweder sie sparen die Zeit vor dem Heim in ihrer Lebensgeschichte ganz aus oder sie beschränken sich auf wenige Angaben aus zweiter Hand. So Manfred W., Jahrgang 1953, der mit sechs Jahren nach Bethel kam. Er weiß – wohl aus den Erzählungen seiner Mutter –, dass diese den Vater vor die Tür gesetzt hatte und deshalb arbeiten gehen musste, während Manfred bei der Großmutter blieb. Er erinnert sich, dass er immer in der Wohnung eingeschlossen war und nicht hinauslaufen durfte – das ist eine typische Kindheitserinnerung unserer Interviewpartnerinnen und -partner. Als die Mutter krank wurde, so berichtet Manfred W., sei nichts anderes übrig geblieben, als ihn nach Bethel zu geben. Herr W. verfügt so wenigstens über eine Erklärung dafür, weshalb er nach Bethel musste. Für andere, die im selben Alter nach Bethel gebracht wurden wie Herr W., bleibt dies ein Rätsel.
Ist ein Mensch erst als Jugendlicher oder junger Erwachsener nach Bethel gekommen, verfügt er über ein biographisches Narrativ vor der Heimzeit. Dazu ein paar Beispiele: Frau Anneliese B., geboren 1929, hatte die Oberschule abgeschlossen und eine kaufmännische Lehre gemacht, ehe sie mit 18 Jahren zum ersten Mal nach Bethel kam. Wegen starken Heimwehs musste sie jedoch nach Hause zurückgebracht werden. Der Vater, so erinnert sie sich, habe ihr deshalb Vorwürfe gemacht, da die Familie nichts mit ihr anzufangen wusste. Sie lebte bei ihrer Familie und traute sich „wegen der Anfälle“ nicht aus dem Haus. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1962 und einer Krankheit der Mutter kam Frau B. schließlich mit 33 Jahren zunächst in die Alsterdorfer Anstalten und dann nach Bethel, wo sie jetzt seit fünfzig Jahren lebt. Irmhild F., geboren 1946, kam 1969, mit 23 Jahren, nach Bethel. Sie war bei ihrer Großmutter aufgewachsen. Ihr Vater soll ein russischer Kriegsgefangener gewesen sein, möglicherweise also war die Schwangerschaft der Mutter die Folge einer Vergewaltigung nach Kriegsende. Wie auch immer, Irmhild wuchs bei der Großmutter auf und beneidete ihre Halbschwester, die bei der Mutter leben durfte. Aus der Schulzeit weiß Frau F. noch, dass sie häufig von den anderen Kindern gehänselt wurde. Sie wollte eigentlich Verkäuferin werden, dann Erzieherin, musste aber mit einer Stelle als Hilfskraft in einer Zahnarztpraxis Vorlieb nehmen. Auch sie kam wohl aufgrund von Krampfanfällen nach Bethel und wurde zunächst zur Beobachtung in der Aufnahmeklinik Mara aufgenommen. Ernst J., geboren 1948, wurde 1968 mit 19 Jahren vom Vater nach Bethel gebracht, der damit einen Wunsch der sterbenden Mutter erfüllte. Herr J., der beim eigenen Vater in eine Schule für verhaltensgestörte Kinder gegangen war – woran er sich mit großem Unbehagen zurückerinnert –, hatte zu diesem Zeitpunkt schon als Zeichner in einem Architekturbüro angefangen. Bärbel H., geboren 1935, kam 1954 ebenfalls mit 19 Jahren nach Bethel. Sie sei, so erinnert sie sich, von der Fürsorgerin gebracht worden, als ihr Vater im Krankenhaus lag. Später hätten ihre Eltern ihr angeboten, wieder nach Hause zurückzukehren, darauf sei sie aber nicht eingegangen: „wenn euch was zustößt, wo komme ich hin?“ Winfried S., geboren 1925, kam 1942 mit 17 Jahren nach Bethel. Sein verwitweter Vater, ein Arzt, hatte erneut geheiratet, die Stiefmutter habe ihn – so wörtlich – „verstoßen“, er sei das „fünfte Rad“ am Wagen gewesen. Das Interview mit Herrn S. lässt im Hintergrund sehr deutlich einen familiären Konflikt erkennen. Herr S. hätte gerne noch etwas gelernt, musste dann aber in der Bethelgärtnerei arbeiten. Er interessiert sich brennend für Pflanzen und ihre heilende Wirkung und hat es hier zu einem profunden Wissen gebracht. Auch hebt er immer wieder stolz seine freundschaftlichen Beziehungen zu Ärzten in Bethel hervor – man gewinnt den Eindruck, er wirbt noch immer um die Anerkennung seines verstorbenen Vaters. Ernst W., geboren 1926, stammte ebenfalls aus einer Arztfamilie – „die mochten mich nicht alle“. 1943, Herr W. war damals Soldat bei der Wehrmacht, traten bei ihm erstmals epileptische Anfälle auf. Er wurde ausgemustert, kurz vor Kriegsende auch aus dem Reichsarbeitsdienst entlassen – und hatte, nebenbei bemerkt, großes Glück, dass er nicht noch im letzten Augenblick in das Räderwerk der NS-„Euthanasie“ geriet. Er kam im Januar 1946 nach Bethel, als der „alte Pastor Bodelschwingh [gerade] gestorben war“. Herr W. betont – wie auch andere Interviewpartnerinnen und -partner –, dass er auf eigenen Wunsch nach Bethel gekommen sei. Man gewinnt den Eindruck, dass für manche Menschen an der Schwelle zum oder im frühen Erwachsenenalter der Übergang in das Heim einen Zugewinn an potentiellen Lebenschancen bedeuten konnte, waren sie doch zu Hause zumeist in der Wohnung eingesperrt gewesen. Hinzu kamen oftmals die typischen Probleme in den „Patchworkfamilien“ der Nachkriegszeit, Konflikte mit Stiefeltern und -geschwistern etwa. Auf der anderen Seite bedeutete die Heimunterbringung für Jugendliche und junge Erwachsene in vielen Fällen einen nachhaltigen Verlust an Autonomie – dazu später mehr. Auf jeden Fall scheinen die Menschen, die in späterem Alter ins Heim kamen, über größere Ressourcen zu verfügen. Sie hatten schon vor der Heimzeit grundlegende Kulturtechniken erlernt, hatten eine schulische Bildung und teilweise eine berufliche Ausbildung und Erfahrungen in der Arbeitswelt, ihre sozialen Netzwerke scheinen weiter gespannt und haltbarer gewesen zu sein. Und: Diese Menschen verfügen über eine Vergleichsfolie – sie können ihr Leben im Heim in Beziehung setzen zu einem Leben vorher.
Zweitens: Wie periodisieren die Interviewpartnerinnen und -partner ihr Leben? Welche Lebensabschnitte bilden sie in ihrer Erinnerung? Sie alle können das Jahr und manchmal sogar das genaue Datum angeben, mit dem ihre Heimkarriere begann. Das ist für alle die erste Zäsur. Manche können genau angeben, wann ihre Eltern starben und nutzen diese Angabe, um den eigenen Lebenslauf zu gliedern. Manche, die mit epileptischen Anfällen nach Bethel kamen, die dort medikamentös eingestellt wurden, teilen ihr Leben in eine Zeit mit häufigen schweren Anfällen und eine anfallsfreie Zeit danach ein. Ganz zentral aber in allen Interviews sind die Wechsel von einem Haus zum anderen als grundlegende Zäsuren im Lebenslauf. Alle Interviewpartnerinnen und -partner können die Häuser, in denen sie im Laufe ihrer Heimkarriere gelebt haben, in chronologischer Reihenfolge nennen, meist geben sie an, wie viele Jahre sie in den einzelnen Häusern gewesen sind – so gliedert sich das Leben von Anneliese B., um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, in sechs Jahre Bethabara, 34 Jahre Nebo und 17 Jahre auf der Wohngruppe. Manche Interviewpartnerinnen und -partner können die Wechsel auf das Jahr genau datieren. Die Wechsel von einem Haus in das andere, von einer Abteilung auf die andere bedeuteten immer auch einen Gewinn oder Verlust von Wohnqualität – meist einen Gewinn – und so gliedern manche Interviewpartnerinnen und –partner ihr Leben mit der Abfolge Schlafsaal – Vierbettzimmer – Zweibettzimmer – Einzelzimmer oder Appartement. Der Wechsel der Arbeitsstätte fällt demgegenüber deutlich weniger stark ins Gewicht.
Wenige Interviewpartner orientieren sich bei der Periodisierung ihres Lebens an allgemeinhistorischen Daten, etwa dem Luftkrieg ab 1943, dem Kriegsende 1945, Flucht und Vertreibung, der Währungsreform von 1948. Einzelne Interviewpartner datieren Lebensabschnitte auch nach der Amtszeit der Leiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten. Manfred W. beschreibt den konzeptionellen Wandel beim Übergang von Friedrich v. Bodelschwingh III. zu Alex Funke im Jahre 1969 mit der schönen Formulierung: „Wenn das alles so freier ist, da kannst du dein Leben selber verstalten“.
Damit ist die Grundtendenz der Lebensgeschichten benannt. Alle Interviewpartnerinnen und -partner haben die Jahrzehnte seit dem gesellschaftlichen Um- und Aufbruch von 1968 als Zugewinn an Freiheit erfahren. Formulierungen wie „heute haben wir mehr Freiheit“ oder „ich bin [heute] mein freier Bürger“ oder „Also die Freiheit, die war schon anders“ tauchen in den Interviews immer wieder auf. Wird nachgefragt, was die neue Freiheit meint, werden in der Regel drei Punkte benannt: in einem eigenen Zimmer oder einer eigenen Wohnung zu leben, die Möglichkeit zu haben, die Tür hinter sich zu schließen und den Schlüssel herumzudrehen; über eigenes Geld zu verfügen und die Möglichkeit zu haben, selbständig einkaufen zu gehen; die Möglichkeit, dass sich Männer und Frauen begegnen können.
Drittens: Mehrere unserer Interviewpartnerinnen und -partner erlebten den Übergang von der Familie in das Heim als einen schmerzhaften Verlust an Autonomie. Besonders anschaulich wird das im Interview mit Christel H. Sie sei, berichtet sie, „einigermaßen selbständig nach Bethel gekommen, bis auf Schreiben und Lesen, und so Feinarbeiten“. Nach der Heimaufnahme durfte sie „kein Butterbrot mehr schmieren, durfte meine eigene Medizin mehr nehmen, ich durfte gar nix mehr“. Sie beschwerte sich deswegen bei der Heimleitung, wobei sie auf die Folgen hinwies: „Wenn wir jetzt in ein anderes Haus kommen, und können noch nicht mal unsere Butterbrote mehr selber schmieren … weil man unselbständig gemacht worden ist.“ Sie wehrte sich auch dagegen, dass das Essen von den Schwestern einfach aufgefüllt wurde, ohne dass diese nach den Bedürfnissen der Bewohnerinnen fragten. Wie in allen Heimen, die wir bislang untersucht haben, spielte auch in Bethel das Essen eine zentrale Rolle im Prozess der Entmündigung, der mit einer Heimkarriere einherging. Das Blech- oder Plastikgeschirr, das vielerorts bis in die 1960er Jahre üblich war, das Fehlen von Messer und Gabel, so dass die Bewohnerinnen und Bewohner – Kleinkindern gleich – alle Speisen mit dem Löffel essen mussten, die fertig zubereiteten Brote, die zwangsweise zugeteilte Essensmenge – bei den Mahlzeiten erlebten die Heiminsassen den Verlust an Autonomie ganz anschaulich. Ähnliche symbolische Bedeutung hatte die Aufnahmeprozedur, etwa die Einkleidung in „Sträflingsklamotten“, wie Günter K. sich ausdrückt, übrigens mit eingenähter Nummer (damit die Kleidung nach der Reinigung in der Zentralwäscherei sortiert werden konnte), oder das Abnehmen von Messer, Schere und anderen persönlichen Gegenständen, das Öffnen und Zurückhalten von Päckchen u. ä. Ernst W. fasst es in den Worten zusammen: er wurde (Zitat) „wie ein Kind behandelt, obwohl ich erwachsen war und auch klaren Verstand hatte. … Ich wurde als Mensch nicht ernst genommen.“
Wie der Verlust, so wird häufig auch der Zugewinn an Autonomie am Essen festgemacht. Dass das Essen irgendwann nicht mehr aus der Zentralküche angeliefert wurde, dass die Bewohnerinnen und Bewohner mittlerweile selber einkaufen und ihre Mahlzeiten selber nach eigenem Geschmack zubereiten können, wird als großer Fortschritt wahrgenommen und gewürdigt. Peter A. etwa kommt im Interview immer wieder auf dieses Thema zurück. Er betrachtet es als Wendepunkt in seinem Leben, dass er 1987 einen ersten Kochkurs mitmachen konnte. Kochen ist für ihn seither viel mehr als ein Hobby, es ist ein Stück Freiheit, und sein selbst angelegtes Kochbuch ist sein wertvollster Besitz. Eine ähnliche symbolische Bedeutung haben die Einrichtung der eigenen Wohnung mit selbst angeschafften Möbeln, die selbst gestaltete Freizeit, der jährliche Urlaub.
Eine unserer Gesprächspartnerinnen, Frau Annliese B., engagiert sich auch im Heimbeirat, gleichsam der institutionalisierten Form der Mitbestimmung in Heimstrukturen. Sie hat aber ein feines Gespür für die Grenzen dieser Mitbestimmung. Als sie sich gegen die Einrichtung einer reinen Pflegestation in Haus Nebo aussprach, habe sie schnell gemerkt, dass man sie nicht mitreden lassen wollte – aus anderen Quellen wissen wir, dass die Pflegestation in der Tat längst beschlossene Sache war, als sie im Heimbeirat diskutiert wurde.
Viertens: Im Hinblick auf Arbeit und Beschäftigung reflektieren die Interviewpartnerinnen und -partner aus ihrer Perspektive den Wandel im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte sehr genau. Viele erinnern sich noch an die Zeit vor der Einrichtung von Werktherapien, als die Bewohnerinnen in der Hauswirtschaft – mit Putzen, Waschen, Betten beziehen, Handarbeiten usw. – und auch mit pflegerischen Hilfstätigkeiten – Waschen und Anziehen „schwächerer“ Mitbewohnerinnen, Rollstuhlschieben – beschäftigt wurden. Die Bewohner wurden im Holzstall, im Garten oder in der Landwirtschaft zur Arbeit eingesetzt. Dies sei harte Arbeit unter starkem Zeitdruck gewesen, für die es allenfalls ein Taschengeld oder eine kleine „Belohnung“ gegeben habe. Davon werden die ersten Werktherapien, meist in den Kellern der einzelnen Häusern, klar abgesetzt. Hier wurden erst Matten geflochten, Aufnehmer gewebt, hinzu kamen erste Montagearbeiten für die Industrie. Vereinzelt wurden hier schon Arbeitsprämien gezahlt. Mit der Einrichtung der Werkstätte für Behinderte nach 1969 war dann der Übergang zu sozialversicherter Lohnarbeit für die Industrie verbunden, in eigenen Werkhallen, auch außerhalb Bethels. Dies wird von den Interviewpartnerinnen und -partnern als tiefer Einschnitt – und als Zugewinn an Freiräumen – beschrieben.
Der Sinn der Arbeit besteht für die meisten Interviewpartnerinnen und -partner darin, eigenes Geld zu verdienen und wenigstens ein Stückweit selbstbestimmt zu leben. Als wichtig wird jedoch auch angesehen, durch die Arbeit eine feste Tagesstruktur zu schaffen, „unter Menschen zu kommen“, also soziale Kontakte auch außerhalb der Heimwelt zu knüpfen, die Wertschätzung anderer zu erleben und Selbstbewusstsein daraus zu schöpfen. In manchen Fällen wollen sich Interviewpartnerinnen und -partner in der Arbeit auch selbst verwirklichen, was zu merkwürdigen Konfliktlagen führen konnte: Anneliese B. etwa hat früher in der Wäscherei gearbeitet – harte Arbeit und ständige Hetze –; in Haus Nebo kam sie dann in die Werktherapie, wo sie Körbe, Vasen, Seidentücher und gestickte Decken anfertigte – eine Arbeit, die sie als sehr erfüllend empfand. Von den Mitarbeiterinnen, so Frau B., sei sie dann gedrängt worden, eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufzunehmen, wogegen sie sich wehrte, weil sie keine Lust auf eine monotone Arbeit hatte.
Irmhild F. hat Angst vor ihrem 65. Geburtstag, sie fürchtet, dass der Landschaftsverband ihre Arbeitsstelle dann nicht mehr weiter bezahlt, denn sie selbst, fügt sie hinzu, könne das nicht.
Fünftens: Ein großes Thema in fast allen Interviews ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Übereinstimmend berichten alle Interviewpartnerinnen und -partner, dass bis zum großen Umbruch in den 1960er Jahren in Bethel eine strenge Geschlechtertrennung herrschte. Das konnte teilweise groteske Formen annehmen. Christel H. erzählt, dass die Diakonissen den Bewohnerinnen verboten hatten, auf der Straße den Gruß eines Mannes zu erwidern; hielten sich die Mädchen nicht daran, landeten sie zur Strafe im „Besinnungsstübchen“. Bärbel H. bestätigt, dass es verboten war, mit einem Mann zu sprechen. Das Verbot wurde damit begründet, dass der Umgang mit Männern gefährlich sei – die würden einem nur „Kinder andrehen“. Bärbel bekam sogar Ärger, als sie ihren eigenen Vater, dem sie zufällig auf der Straße begegnete, als er sie besuchen wollte, in der Öffentlichkeit begrüßte. Männer und Frauen trafen sich, wenn sie wollten, aber trotzdem, wie mehrere Interviewpartnerinnen und -partner verschmitzt erzählen – aber das musste heimlich geschehen. In diesem Milieu war die Einführung von Tanzkursen für Bewohnerinnen und Bewohner – der erste fand 1968 statt – geradezu eine Sensation. Danach wurde die Geschlechtertrennung Schritt für Schritt gelockert. Mit der Zeit wurde toleriert, dass Männer und Frauen mit geistiger Behinderung – als „Freund“ und „Freundin“ oder als „Verlobte“ – Zeit miteinander verbrachten, schließlich auch gemeinsam wohnten. Irmhild F. zog 1982 mit einem Mann zusammen – ihren eigenen Angaben nach heirateten die beiden sogar, es sei die erste Heirat in Bethel gewesen (das müssen wir noch überprüfen) –; vorher, so berichtet Frau F., hätten die Diakonissen jedoch darauf bestanden, dass sie sich operativ sterilisieren ließ – zu dieser Zeit, wohlgemerkt, ein Eingriff zumindest am Rande der Legalität. Es habe aber geheißen: „Wenn du dich nicht operieren lässt, dass du keine Kinder kriegst, dann kannst du das komplett vergessen“.
Wie sich Bewohnerinnen und Bewohner kennenlernten – und auch, wie Mitarbeitende versuchten, auf diese Freundschaften Einfluss zu gewinnen – schildert Herr Arthur K. sehr anschaulich. Dazu muss man wissen, dass Herr K., 1923 in Lodz geboren, von einer tiefen Erweckungsfrömmigkeit geprägt ist – er gibt der Schilderung seiner Freundschaften daher fast das Gepräge einer biblischen Geschichte:
„Ich hab eine Freundin gehabt in …[Emmaus]. Die war sehr frech gewesen. War immer Andacht gewesen, und da hat der Pastor gesagt zu mir: „Arthur, hörst doch dieselbe. Geh doch nicht mit ihr.“ Da hab ich gesagt: „Man nimmt eine Frau nicht zu verlassen.“ „Ach du bist ein guter Junge, aber doch [sollst du sie] verlassen. Und da ging ich spazieren, und da hört ich eine Stimme: „Arthur.“ Und da ging ich hin. Sitzt eine Frau, eine junge Fräulein, die konnte noch laufen damals: „Komm, setz dich bei mir.“ „Wollen wir Freunde sein?“. „Nein, ich will keinen Mann haben.“ „Wo wohnst du“? „In Groß-Bethel“. Da ging ich jeden Tag nach Groß-Bethel hin. Nach vier Wochen kam sie aus dem Krankenhaus und sagte: „Wollen wir doch Freundschaft machen?“ und gab mir einen Kuss. Und wir waren Freunde. Ich hab schon hier gewohnt wieder in Damaskus. Und da hat sie mich jeden Tag besucht. […] Sogar bis 10 Uhr bei mir in die Nacht. Ich habs erste Fernsehen hier gehabt in Damaskus.“
Mehrere Interviewpartnerinnen und -partner haben längere Zeit mit einem Mann oder einer Frau zusammengelebt. In manchen Fällen mussten sich die Paare wegen einer Erkrankung oder des Fortschreitens einer körperlichen Beeinträchtigung wieder trennen – in diesen Fällen ist der Kontakt weitgehend abgerissen, obwohl beide Partner noch in Bethel leben, wenn auch in getrennten Häusern. Sexualität – das Schreckgespenst, das Diakonissen, Pastoren und auch Ärzte lange Zeit umtrieb – scheint in den Geschlechterbeziehungen keine besonders ausgeprägte Rolle zu spielen. Es kommt mehr auf Gesellschaft und Geborgenheit an, und es geht wohl auch um eine Aufwertung des sozialen Status. Jedenfalls machen mehrere Interviewpartnerinnen und -partner offenbar keinen kategorialen Unterschied, ob sie von Lebensgefährtinnen oder Lebensgefährten einerseits, Freunden, Bekannten oder auch Mitarbeitenden andererseits sprechen. Peter A. etwa hat einige Zeit auf eigene Initiative hin mit einer Mitbewohnerin, die mittlerweile verstorben ist, in einem Appartement zusammengelebt. Seit dem Ende dieser Beziehung leidet er an Einsamkeit. Er wünscht sich eine Beziehung zu seiner 24j. „Bezugsmitarbeiterin“, die bald in Schwangerschaftsurlaub gehen wird. Herr A. spricht von dieser Mitarbeiterin wie von seiner verstorbenen Freundin – durchaus auch mit einer sexuellen Komponente. Die neue Bezugsmitarbeiterin will er nur akzeptieren, wenn er sie attraktiv findet. Gleichzeitig hat er mit seiner jetzigen Bezugsmitarbeiterin eine Partnerschaftsanzeige im Internet, offenbar auf einer besonderen Plattform, geschaltet.
Sechstens: Was soziale Kontakte im Allgemeinen angeht, so deuten die Interviews darauf hin, dass Menschen mit geistiger Behinderung in Heimen aufgrund ihrer Lebensgeschichte nur über ein weitmaschiges und lose geknüpftes Beziehungsnetz verfügen, das kaum über die Heimwelt hinausreicht. Freundschaften untereinander sind eher bei den interviewten Frauen als bei den Männern festzustellen. Bei den Frauen haben Freundschaften mitunter auch Bestand, wenn die Frauen nicht mehr in einem Haus leben. Ansonsten hat offenbar der Wechsel zwischen den Häusern die Bildung tragfähiger sozialer Kontakte verhindert. Manchmal scheinen in den Interviews auch Gegensätze innerhalb der Bewohnerschaft auf – manche Interviewpartner äußern sich ängstlich und ablehnend gegenüber den „schwachen“ Mitbewohnern.
Ähnlich distanziert stellt sich das Verhältnis zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern einerseits, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern andererseits dar. Bärbel H. beispielsweise, die die Mitarbeiterinnen allgemein als „unfreundlich“ erlebte, weigerte sich ihrer Erinnerung nach, diese mit „Tante“ ansprechen, sondern blieb bei der Anrede „Schwester“. Selten werden Mitarbeitende in den Interviews namentlich genannt. Wenn Namen fallen, dann meist die von Mitarbeitern in leitender Position, etwa von Hausvätern oder Pastoren. Manchmal erfährt man dann, wie diese im internen Jargon genannt wurden. Der Betheler Pastor Jungblut, so haben wir bei dieser Gelegenheit gelernt, hieß bei den Bewohnern nur„Nikita“ oder „Herr Chruschtschow“. Das hat uns Herr Ernst W. verraten, der auch dabei war, als man in den 1970er Jahren geistig behinderte Bewohner versuchsweise im Brüderhaus Nazareth aufnahm – um die Integration zu fördern. Diesen Versuch beurteilt Herr W. im Nachhinein ambivalent, tendenziell aber eher kritisch. Sie seien in Nazareth zwar „wie Menschen behandelt“ und „als gleichwertig“ angesehen worden, es sei kein Unterschied zwischen „Patient“ und „den Gesunden“ gemacht worden, als kränkend habe er es aber empfunden, dass sich die Diakonenschüler ganz für sich hielten. Man habe sich dort vorgenommen, Kontakt zu den Bewohnern zu halten, aber dieses Versprechen sei nicht gehalten worden. Die Diakonenschüler hätten für sich gefeiert, dabei auch gelärmt, da habe man – so Herr W. traurig – was vom „richtigen Leben“ gehört.
Kontakte außerhalb Bethels bestehen kaum. Das Verhältnis zu den Familien ist in manchen Fällen durch tief sitzende Konflikte belastet und beschränkt sich oft auf gelegentliche Besuche. Frau B. berichtet von einer Mitbewohnerin, die früher in Bethsaida behinderte Kinder mit versorgt hat, diese Mitbewohnerin unterhalte bis heute enge Kontakte zu den Familien der von ihr betreuten Kinder. Die 83jährige Frau B. selbst hat einen nicht behinderten „Freund“, den sie wohl über die Arbeit kennengelernt hat und der ihre Leidenschaft für Fußball teilt. Mit ihm zusammen besucht sie die Heimspiele von Arminia Bielefeld, unternimmt Ausflüge in der Stadt Bielefeld und verkehrt auch in dessen Familie. Dies aber – das muss betont werden – ist eine absolute Ausnahme. Kontakte über die Grenzen Bethels hinaus, die nicht familiärer Art oder beruflich bedingt sind, stellen wohl eine Rarität dar.
Siebtens: Entsprechend eng sind die sozialen Räume, in denen sich unsere Interviewpartnerinnen und -partner bewegen. Innerhalb Bethels gibt es nur wenige Treffpunkte, der mit Abstand wichtigste ist die „Neue Schmiede“, ein integratives Restaurant mit einem Veranstaltungssaal, in dem auch Konzerte und Diskoabende stattfinden, und Räumlichkeiten für Kurse oder Spielcafés. Interessant ist, dass manche Interviewpartnerinnen und -partner meinen, dass ihre Bezugsmitarbeiter es nicht gerne sehen, wenn sie in die Schmiede gehen – man befürchte wohl, dass sie ihr ganzes Geld dort ausgeben würden. Mit einem gewissen Stolz berichten die Interviewten aber auch, dass sie sich über diese Bedenken hinwegsetzen. Der wichtigste Ort außerhalb Bethels ist für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner eine gigantische Filiale des Marktkaufs, die Gelegenheit zum selbständigen Einkauf bietet – diese ist allerdings nur wenige Schritte vom Dankort, dem Zentrum der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Bethels, entfernt und liegt somit fast noch auf „Anstaltsgelände“. Andere öffentliche Orte, die von unseren Interviewpartnerinnen und -partnern gelegentlich aufgesucht werden, sind das Fußballstation der Arminia, der Botanische Garten, der Heimattierpark Olderdissen, das Erlebnisbad Ishara, der Markt im Ortsteil Brackwede. Manchmal ist in den Interviews auch die Rede davon, dass man gelegentlich „in die Stadt“ gehe, d.h. in die Fußgängerzone in der Innenstadt, die von Bethel durch einen Höhenzug, den Osning mit der Sparrenburg, getrennt ist. Diese Angabe bleibt aber ganz abstrakt – man gewinnt den Eindruck, dass Menschen mit geistiger Behinderung aus Bethel am Konsum- und Freizeitangebot der Kernstadt – vermutlich schon allein aus finanziellen Gründen – kaum teilhaben. Zwei unserer Interviewpartner betonen die Rolle des öffentlichen Nahverkehrs in ihrem Leben, der ihnen Mobilität und Autonomie gebe. Das weiteste Ziel, das mit dem Nahverkehr dank Schwerbehindertenausweis von Bethel aus kostenlos erreichbar ist, ist das Hermannsdenkmal in Detmold.
Von solchen „kleinen Fluchten“ abgesehen, stellt sich der Lebensraum unserer Interviewpartnerinnen und -partner bis heute als erschreckend eng dar. Nach jahrzehntelangem Aufenthalt in einer nahezu hermetisch abgeschlossenen, klaustrophobisch anmutenden Heimwelt fällt es offenkundig sehr schwer, neu gewonnene Räume zu erobern, zumal die materiellen Verhältnisse diesem Unterfangen enge Grenzen ziehen. Von einer inklusiven Gesellschaft – das lassen unsere Interviews einmal mehr erkennen – sind wir noch Lichtjahre entfernt. Auf der anderen Seite blitzt in den Interviews mit Menschen, die fast ihr ganzes Leben lang in Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe gelebt haben, doch auch immer wieder ein Eigen-Sinn auf, ein ungebrochener Wille, das eigene Leben selbst zu gestalten, der Mut macht für die Zukunft.