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„Die Breite des Normalen“ – Exklusion und Inklusion in historischer Perspektive

Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung steht die Lebensphase Kindheit und Jugend, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die ReferentInnen beleuchten in ihren Vorträgen die Entwicklungen in der Kinder- und Jugendfürsorge im historischen Kontext. Sie verdeutlichen die Bezüge der zur damaligen Zeit generierten Konzepte zur heutigen Praxis im Umgang mit „verhaltensauffälligen“ Kindern und Jugendlichen.

Zur Konstruktion der Diagnose „psychopathisches Kind“
Dr. Wolfgang Rose, Berlin

Um 1900 lässt sich ein wachsendes öffentliches Interesse an allen mit „Kindheit und Jugend“ zusammenhängenden Fragen feststellen. Die zunehmende Akzeptanz dieser besonderen Lebensphase und ihrer speziellen Bedürfnisse führte auch zu größerer Aufmerksamkeit für die damit einhergehenden besonderen Probleme und Notlagen. Damit waren jedoch nicht nur und nicht in erster Linie persönliche Krisen gemeint, die den Prozess des Heranwachsens begleiten. Im Fokus standen vielmehr die sozio-kulturellen Bedingungen unter denen Kinder und Jugendliche aufwuchsen, insbesondere in den Unterschichten der wachsenden städtischen Ballungsräume.

In den proletarischen Wohnvierteln wurde eine Zunahme schwerwiegender Störungen der sozialen Beziehungen – Alkoholismus, Gewalt, Kriminalität – beobachtet. Bürgerliche Sozialreformer_innen sahen darin eine Gefahr für die Gesellschaft, der in Zukunft eine Vielzahl „fehlentwickelter“ Mitglieder entgegen zu wachsen schien. Eine „Problemgruppe“ war dabei die der erziehungsschwierigen Kinder und Jugendlichen. Auf sie wurde zunehmend das in der Psychiatrie entwickelte Konzept der „psychopathischen Konstitution“ zur Erklärung von Verhaltensaufälligkeiten angewendet.

Der Vortrag thematisiert den ambivalenten Prozess des Vordringens naturwissenschaftlich-psychiatrischer Ideen in der Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts und beleuchtet damit die Entstehungsbedingungen der heutigen Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Dr. Wolfgang Rose ist Mitarbeiter am Charité Institut für Geschichte der Medizin und forscht zu Themen der Medizin sowie der berlin-brandenburgischen Regionalgeschichte.

 

Historische Vorläufer der Inklusion: der „Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen“ (1918-1930)
Dr. Petra Fuchs, Berlin

Am 19. Oktober 1918, unmittelbar vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, gründete sich in Berlin der „Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e.V.“ (DVFjP). Zu seinen Aufgaben zählten die wissenschaftliche Erforschung und der Ausbau der Fürsorge für Kinder und Jugendliche mit „psychopathischen Konstitutionen.“ Unter diesen medizinisch geprägten Begriff fassten die Vertreter_innen von Psychiatrie, Heilpädagogik, Jugendfürsorge und Rechtsprechung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Bandbreite „abweichenden“ Verhaltens – von schulischen Schwierigkeiten über auffallenden Bewegungsdrang bis hin zu sexuellen Auffälligkeiten und jugendlicher Kriminalität.

Kennzeichen dieser Verhaltensauffälligkeiten war, dass sie sich in einem Bereich zwischen „psychischer Erkrankung“ und „geistiger Gesundheit“, zwischen „Abweichung“ und „Normalität“ bewegten und zu beiden Polen hin fließende Übergänge aufwiesen.

Unter dem Einfluss der Sozialpädagogin Ruth von der Leyen (1888-1935), auf deren Initiative die Gründung des DVFjP maßgeblich zurückging, stieg der Verein in der Weimarer Republik rasch zur wichtigsten und einflussreichsten Größe in der sozialreformerischen und pädagogischen Bewegung dieser Zeit auf und nahm entscheidenden Einfluss auf das sich gründende staatliche Jugendwohlfahrts- und Gesundheitswesen.

In enger Zusammenarbeit mit dem Berliner Psychiater und Neurologen Franz Kramer (1878-1967) begründete von der Leyen einen „objektiv“-naturwissenschaftlichen und milieuorientierten Ansatz der „Psychopathenfürsorge“, in dessen Mittelpunkt das kindliche Individuum stand. Das Denkmodell beruhte auf empirischer, also vom Einzelfall ausgehender Forschung. Es unterschied sich nicht nur von anderen Konzepten seiner Zeit, die die Ursachen von „Schwererziehbarkeit“ ausschließlich biologistisch deuteten. Auch mit dem Blick auf heutige sozialpsychiatrische und inklusionspädagogische Konzepte im Umgang mit Schulverweigernden, aufmerksamkeitsgestörten und hyperaktiven, aggressiven und gewalttätigen sowie delinquenten Kinder und Jugendlichen erscheint das Konzept von der Leyens und Kramers als ein höchst „moderner“ Ansatz.

Dr. Petra Fuchs ist Erziehungswissenschaftlerin und Historikerin. Seit 2000 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité in unterschiedlichen Forschungsprojekten tätig. Von 2009-2011 gehörte sie dem DFG Forschungsprojekt „Die Breite des Normalen“. Zum Umgang mit Kindern im Schwellenraum zwischen „gesund“ und „geisteskrank“ in Berlin und Brandenburg, 1918-1933 an.

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