Definition von Behinderung
Die Referentinnen beleuchten in ihren Vorträgen den Begriff Behinderung aus unterschiedlichen Perspektiven. Wie wird Behinderung in der gegenwärtigen sozialrechtlichen Praxis in Deutschland definiert? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die UN-Behindertenrechtskonvention? – Das ist einer der beiden Zugänge zur „Definition von Behinderung“. Der zweite Zugang nimmt seinen Weg über die Lebenswelt von Paaren, bei denen einer der Partner im Laufe der Partnerschaft eine körperliche Beeinträchtigung erworben hat.
Der Behinderungsbegriff in Deutschland und die UN-Behindertenrechtskonvention
Dr. Minou Banafsche
Nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Das Sozialrecht enthält außerdem noch besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter und ihnen gleichgestellter Menschen, die einen bestimmten Grad der Behinderung und besondere arbeitsmarktbezogene Schwierigkeiten nachweisen müssen. Behinderung ergibt sich demnach aus einer Teilhabebeeinträchtigung infolge einer Funktionsbeeinträchtigung, was den Schluss nahelegt, dass das deutsche Recht Behinderung defizitorientiert ermittelt. Ob dies tatsächlich so ist, bedarf der Klärung.
Eine andere Form des Zusammenspiels von Funktions- und Teilhabebeeinträchtigung vermittelt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), wonach zu den Menschen mit Behinderungen Menschen zählen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Hierin spiegelt sich das sogenannte „bio-psycho-soziale Modell“ der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) wider, welches in Behinderung eine Interdependenz zwischen Funktionsbeeinträchtigung und Umweltbarrieren sieht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Unterschieden zwischen dem SGB IX und der UN-BRK das Verständnis von Behinderung betreffend und gegebenenfalls nach der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des deutschen Rechts im Sinne der UN-BRK, die es vorliegend zu erörtern gilt.
Dr. Minou Banafsche ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Dort ist sie Mitglied einer interdisziplinär ausgerichteten Fachgruppe mit dem Forschungsschwerpunkt der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Seit dem Wintersemester 2010/2011 nimmt sie eine Vertretungsprofessur für das Fachgebiet „Recht sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen" an der Universität Kassel wahr.
(Ehe-)Partnerschaftliche Definition von Behinderung
Birgit Behrisch, Berlin
Eine körperliche „Behinderung“ bei einem Partner einer Lebenspartnerschaft, aufgrund eines akuten Krankheits- oder Unfallgeschehens oder im Zusammenhang mit einer chronischen Erkrankung, bedeutet für das Paar gemeinsam eine Neuorganisation sämtlicher Lebensbereiche. Denn das alltägliche Arbeits-Arrangement des Paares ist aufgrund des körperlichen Funktionsverlusts bei einem Partner so nicht länger aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist nun der Umgang mit den ausstehenden Arbeiten oder dem Mehraufwand von Krankheit- und Pflegearbeit vom Paar zu regeln. Im Weiteren wird vom Paar ein Alltag realisiert, welcher sich an eigener Leiberfahrung und Körperbetrachtung festmacht, die jedoch gesellschaftlich kulturell gerahmt und vermittelt werden.
Die Verhandlungen über die partnerschaftliche Arbeitsteilung drehen sich dementsprechend um mögliche körperliche Leistungsfähigkeit und partnerschaftliche Belastbarkeit und berühren damit die zentralen Themen von Individualität, Intimität und Privatheit im partnerschaftlichen Binnenraum der Beziehung. „Normalität“ als Ausdruck von Lebensqualität ist dabei für die Paare die Zielfolie für die Alltagsgestaltung, welche ebenfalls stark durch medizinisch-therapeutische wie auch sozial-politische Rahmenbedingungen von Wissen und Ressourcen beeinflusst wird. Zwar ist allein ein Partner unmittelbar am Leib von der körperlichen Veränderung betroffen, doch bezogen auf die Veränderungen der gemeinsam geteilten Paarwelt und den Auswirkungen der gesellschaftlichen Kommentierung auf den Eintritt einer „Behinderung“ sind beide Partner gleichermaßen betroffen, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise.
Birgit Behrisch hat Erziehungswissenschaft und Evangelische Theologie studiert. Sie hat im Bereich Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Birgit Behrisch ist Promotionsstipendiatin des Evangelischen Studienwerks.