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Bericht vom 16.10.12 Inklusion und Exklusion

In den Vorträgen dieser Veranstaltung werden die Konzepte der Inklusion und der Integration behandelt und die Hürden und spezifischen Fragestellungen, die sich bei der Implementierung inklusiver Maßnahmen im Blick auf Menschen mit geistigen Behinderungen auftun, beleuchtet.

Inklusion und Integration:

Dr. Jörg Michael Kastl - Professor für Soziologie für Behinderung und soziale Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg - eröffnete seinen Vortrag mit einer heiteren Aneinanderreihung von unterschiedlich gestalteten, der Mengenlehre entliehenen Kreisbildchen zu den Begriffen Inklusion und Integration. Doch wich bei den Zuhörern der Humor schnell einer sehr ernsthaften Betrachtung, denn Prof. Dr. Kastl räumte mit dem weit verbreiteten Missverständnis auf, dass das Konzept der Integration lediglich eine Vorstufe der Inklusion sei. Wenn man von Inklusion rede, so könne man nicht davon ausgehen, dass das Konzept Integration im Inklusion-Konzept automatisch aufgehe. Er führte in seinem Referat deutlich aus, wie sehr sich diese beiden Begriffe unterscheiden und welche Gefahren in einer unklaren Abgrenzung liegen.

Als Soziologe definierte Prof. Dr. Kastl Inklusion primär als die Frage des Zugangs bestimmter Individuen bzw. Gruppen zu sozialen Systemen (auf der Ebene von Gesellschaft, Organisationen, Gruppen oder persönlicher Interaktion). Integration dagegen beschäftige sich mit der Frage, wie die Individuen ihren Platz im sozialen System finden.

Der behinderte Mensch kann zwar rechtlich inkludiert sein, wenn ihm aber keine Ressourcen z.B. für ausreichende Pflege zur Verfügung gestellt werden, nützen die Inklusions-Rechte nichts. Inklusion schaffe nicht zwangsläufig Gleichheit, wie er am Beispiel Schule erläuterte: Behinderte Schüler in der Allgemeinschule (als Inklusion) werden keine wirkliche Teilhabe erleben (als Integration), wenn Lehrerstellen gekürzt werden. So würden knappere Ressourcen in Widerspruch zu den hohen Zielen geraten. Das sei eine gefährliche Illusion des Inklusionsdiskurses, denn die konkrete Praxis sei nicht durch ‚große Begriffe‘ zu lösen. Es herrsche eine Moralisierung der Diskussion, in der Inklusion als ein allgemeines Menschenrecht verstanden werde. Dadurch fehle es jedoch an inhaltlicher Bestimmtheit, um rechtlich verpflichten zu können.

Diskussion: Schnell entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch zwischen Referent und Auditorium. Trotz der ‚großen Begriffe‘ Teilhabe und Selbstbestimmung, wie sie im SGB IX definiert werden, gibt es keine funktionierenden Integrationsfachdienste, keine gesicherte Praxis des persönlichen Budgets oder der Arbeitsassistenz. Doch genau diese Ressourcen werden für eine gelebte Teilhabe benötigt. ‚Große Begriffe‘ vermeiden die Auseinandersetzung mit unbequemen Kleinarbeiten. Ob die nötigen Ressourcen vorhanden sind, werde damit sekundär. Auf Seite der Betroffenen würden auf diese Weise hohe Erwartungen geweckt, die in der Praxis aber aufgrund fehlender Ressourcen enttäuscht würden. Ein Zuhörer meinte, dass unscharfe Begriffe die Debatte moralisieren. Dennoch halte er diese Begriffe für strategisch nötig, weil das alte Konzept der Integration nicht mehr greife. Dagegen betonte der Referent: „Wir haben keine Probleme mit den großen Begriffen, aber die strukturellen Ressourcen müssen geschaffen werden. Beschäftigt Euch mit juristischen Texten!“ Eine Zuhörerin, die an einer Integrationsschule arbeitet, formulierte es so: „Man geht nicht an die bestehenden strukturellen Systeme heran, denn für eine erfolgreiche Inklusion müsste man das allgemeine Schulsystem ändern, um Menschen mit geistiger Behinderung die gleichen schulischen Chancen zu geben. In Berlin ist das Schulmodell ein Sparmodell! Die stark Lernschwachen, die Gesprächsbehinderten, die Verhaltensauffälligen bekommen immer weniger Leistungen ab.“ Dagegen sei in den letzten Jahren im Bereich Erwachsenenbildung bei Inklusion viel passiert, so ein anderer Zuhörer. Das Grundsatzprogramm „Bildung für Alle! sei z.B. auf den Weg gebracht worden.

Gibt es Grenzen der Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung?

Dr. Markus Dederich - Professor für Allgemeine Heilpädagogik an der Universität Köln - knüpfte an die Unterscheidung von Prof. Dr. Kastl zwischen Inklusion und Integration an (Zugang zum System; Status innerhalb des Systems) und führte in die Problematik mit einem Paradoxon ein: einerseits wachse die Quote der Inklusions-Einrichtungen um 29%, andererseits stagniere der Schüleranteil in Fördereinrichtungen. Ebenso lasse sich ein Trend zur „Ausschulung“ von schwerstmehrfachbehinderten, stark verhaltensauffälligen und sprachlich schwer beeinträchtigten Schülern feststellen; eine Tendenz, die zur Forderung nach Inklusion im Kontrast stehe. Er plädierte dafür, bei der Debatte über Inklusions- bzw. Integrations auch die ökonomischen Rahmenbedingungen im Blick zu haben. Es wäre illusorisch, alle Menschen mit hohem Assistenzbedarf und stark beeinträchtigter Teilhabe in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür würden nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt werden.

Einen weiterer Punkt, den Prof. Dr. Dederich als Hemmnis gegen eine umfassende Inklusion anführte, befasste sich mit „ästhetischen Kodierungen“, die im Umgang mit Menschen mit Behinderung irritiert werden können und so einer umfassenden Inklusion im Wege stehen können. Dies sei eine „brisante Aussage“, aber im realen Sozialraum herrsche keine Gleichheit bzw. egalitäre Verschiedenheit, dort gäbe es soziale Grenzziehungen und normierende Typisierungen, die zu Abwendung führen können. Es sei noch „ein langer Weg, bis behinderte Körper als schön empfunden werden“ würden. Einerseits wachse das gesellschaftliche Engagement für rechtliche Gleichstellung und Antidiskriminierung, andererseits sei jedoch eine gegenläufige Tendenz feststellbar, die Menschen mit Behinderung weiterhin marginalisiere. Man müsse deshalb nach den Ursachen suchen.

Diskussion: Auch nach diesem Vortrag folgte eine lebhafte, äußerst spannende Diskussion im Plenum. Mit Sicherheit hat dazu beigetragen, dass als Zuhörer Vertreter der Praxis und Forscher ins Gespräch kamen.

Nur einige Schlaglichter der Diskussion: Die Gesellschaft wird immer einstufen und bewerten. Gerade deshalb sei es wichtig, sich nicht zurück zu ziehen, sondern immer wieder in die Gesellschaft hinein zugehen und offensiv gegen Diskriminierung vorzugehen.

Insbesondere reiche es nicht, auf das SGB IX oder die UN-BRK zu verweisen, um Inklusion umzusetzen. Es gäbe eine Hochkonjunktur der großen Rechtsbegriffe, aber durch die Verrechtlichungsdebatte würde die konkrete Umsetzungsebene und die notwendigen Stellschrauben leicht aus dem Blick geraten.

Rechtsnormen seien als Maßstab unverzichtbar, aber nicht hinreichend, um Inklusion voranzubringen.

Andererseits brauche man die Verrechtlichung, um in den Köpfen langfristig etwas zu verändern. Es wäre für die Praxis hilfreich, die konkrete Praxis zielgenauer zu steuern, z.B. in dem Leistungsträger für gemeinsame Finanzierungen ermächtigt würden. Außerdem greifen materielle, rechtliche Ressourcen und soziales Lernen auch ineinander: Ist z.B. eine eigene Wohnung finanzierbar, dann werden neue Erfahrungen im Sozialraum helfen, Vorurteile abzubauen. Denn hinter ästhetischen Wahrnehmungen stehen Normen, die man verändern kann. Es gelte, Lernprozesse in Gang zu bringen.

Man dürfe die Augen nicht vor den konkreten menschlichen Irritationen im Kontakt mit Menschen mit Behinderung bzw. der Wahrnehmung von Differenzen verschließen. Aus Sicht einer einer Heimleiterin für schwerst mehrfach behinderte Menschen scheitere Inklusion an den Kosten; so würden z.B. Kosten für Lebensmittel oder Rollstühle gekürzt. Sie bestätigte den Hinweis von Prof. Dr. Dederich auf die sozialen Grenzziehungen. Viele Menschen ohne Behinderungen würden sich in der konkreten Begegnung von schwerst behinderten Menschen, die sichtbar Sondenernährung haben, inkontinent sind und sich unartikuliert verhalten, abwenden. Sie wären nicht in der Lage, diese Menschen emotional anzunehmen. Auch wenn es nicht „political correct“ sei, in der konkreten Begegnung gäbe es Angst, Unsicherheit und andere einstellungsbedingte Barrieren. Wie soll die Mitarbeiterin einer Einrichtung mit einem 50jährigen Bewohner umgehen, der spontan an fremde Kinderwagen herangeht, um intensiv Kontakt aufzunehmen?

Die „großen Begriffe“ der sozialpolitischen Ebene könnten benutzt werden, um Spannungen auf der individuellen Begegnung auszuweichen: „Wunderbar, wenn ich persönlich draußen bin!“

Dr. Karl Bald, Fürst-Donnersmarck-Stiftung

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