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Friedrichshainer Kolloquium am 6. November 2012: „Die Breite des Normalen…“

Die beiden Vortragenden, Dr. Petra Fuchs und Dr. Wolfgang Rose, machten an dem bis in die 30er Jahre diskutierten Begriff des „psychopathischen Kindes“ deutlich, wie ein Konstrukt aus dem damaligen historischen Kontext entstand und welcher Bedeutungswandel sich in diesem Etikett wiederfinden lässt. Die Bezeichnung war in einer bestimmten Zeit Maßstab dafür, wie mit Kindern umgegangen wurde, die von der Norm abweichen bzw. sogenannte Erziehungsschwierigkeiten bereiteten. Auch wenn der Begriff mittlerweile als verstaubt und überholt bezeichnet werden muss, so zeigten die Vortragenden durch ihre historische Analyse, wie auch schon in den zwanziger Jahren um fortschrittliche, angemessene Konzepte gerungen wurde und gegen welche Widerstände die Vertreter einer am einzelnen Menschen orientierten Behandlung zu kämpfen hatten.

Beide Vortragende kommen vom Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner Charité. Sie arbeiten in dem Projekt „Die Breite des Normalen“ und sind in die größere Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns 1870 bis 1930“ integriert.

Dr. Rose referierte zum Thema „Zur Konstruktion der Diagnose psychopathisches Kind“. Diese Diagnose spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung heutiger Wissensgebiete, vor allen Dingen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und sie entstand in dem damaligen Spannungsfeld der drei Gebiete Pädagogik, Jugendfürsorge und Psychiatrie. Am Anfang seines Vortrages akzentuierte Dr. Rose die heutigen Vorstellungen zur Psychopathie-Diagnose als die einer schweren Persönlichkeitsstörung („herzlos, gefühlskalt, grausam“). Doch um Anfang 1900 hatte dieser Begriff ganz andere Bedeutungen, nämlich „abweichendes Verhalten („Stehlen, Weglaufen, Lügen, Betteln, Landstreicherei, Masturbation, Homosexualität etc. ) als Grenzgebiet zwischen Gesundheit und Krankheit“ zu erfassen.

Der Referent ging anschließend auf die gesellschaftlichen Veränderungen ein, die den Begriff des „erziehungsschwierigen Kindes“ hervorbrachten (wachsende Menschenmassen in Städten, Mietskasernen, Armut, Verwahrlosung) und zur Geburtsstunde der Jugendfürsorge wurden.
Die Pädagogen suchten damals nach einer naturwissenschaftlichen Erklärung für die Zunahme des devianten Verhaltens und fanden die Lösung in der Medikalisierung des Problems. Sie „borgten“ den Begriff der Psychopathie aus der Medizin. um „pädagogischen Pathologien“ zu erklären, wenn auch nur vorübergehend. Denn letztlich wurde das „psychopathische Kind“ aus dem pädagogischen Terrain herausgenommen und wieder unter psychiatrische Zuständigkeit gestellt. Da jedoch“ die beschriebenen Verhaltensweisen vor allen Dingen sozial-normative und weniger naturwissenschaftliche Phänomene darstellen und man auch keine organischen Ursachen für die „psychopathische Konstitution“ finden konnte, verlief der damalige Versuch einer Verwissenschaftlichung des Begriffs letztlich im historischen Sande.

In der Diskussion: Auch heute könne man wieder die Tendenz zur Biologisierung, als Erklärung sozialer Phänomene am Körper des Menschen, beobachten. Ein Teilnehmer verwies auf den damaligen engen Zusammenhang von Theologie und Pädagogik, so dass die Medikalisierung dieser Zeit einen Schritt in Richtung Verwissenschaftlichung bedeutet habe, quasi als Befreiung von der alten pädagogischen, mit Religion verbundenen Moral. Welche Rolle nahm die Medizin damals und heute ein? Subsumierte sie alle ihr angrenzenden Gebiete oder stellt diese Entwicklung einen deutlichen naturwissenschaftlichem Fortschritt dar? Im Plenum konnte diesbezüglich kein Konsens gefunden werden.

Dr. Petra Fuchs stellte anschließend als historischen Vorläufer für Inklusion den „Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen“ vor (1918). Maßgebliche Personen in diesem Verein waren der Neurologe und Psychiater Franz Kramer (1878-1969) und der Jugendfürsorgerin Ruth von der Leyen (1888-1935). Sie setzten das damalige Konzept des „psychopathischen Kindes“ in enger Kooperation psychiatrischer und heilpädagogischer Kompetenz um. Der Verein kooperierte mit der Charité und einem Heilerziehungsheim in Templin. Von der Leyen und Kramer vertraten die Auffassung, dass es das psychopathische Kind nicht gebe, aber es gebe Kinder mit einem breiten Spektrum individueller Schwierigkeiten, auf die individuell reagiert werden müsse. Psychopathie bewegte sich für Kramer und von der Leyen in einem breiten Grenzstreifen zwischen Krankheit und Normalität. Sie forderten mit Blick auf „das schwierige, das konfliktreiche, gefährdete, verwahrloste, kriminelle Kind“, man sollte sich in fürsorgerischen und sozialpädagogischen Kreisen „der Breite des Normalen“, der fließenden Übergänge zwischen normal und abnorm“ ständig bewusst sein. Der Verein entwickelte sich damals rasch zu einer der aktivsten und einflussreichsten Organisationen im Kontext des heilpädagogischen, fürsorgerischen und medizinischen Umgangs mit psychisch auffälligen Kindern (z.B. bei Verwahrlosung, Kriminalität, Prostitution).

Dr. Fuchs gab in ihrem Referat einen weitgespannten Einblick in die damaligen Probleme der Fürsorge, Jugendgerichtshilfe und damit befasster gutachterlicher Tätigkeiten. Sie ergänzte diesen Einblick mit einer Liste von Vernetzungsaktivitäten, die von der Leyen und Kramer damals mit dem Verein voran getrieben hatten: Herausgabe einer Zeitschrift für Kinderforschung, Kooperation mit diversen Einrichtungen, Öffentlichkeitsarbeit in Form von Beteiligungen bei Ausstellungen, Herausgabe von Einrichtungs-Verzeichnissen, die Beratungsstelle mit heilpädagogischen Sprechstunden, sechs Heime und die Kinderbeobachtungsstation an der Berliner Charité.

Im Zuge des aufkommenden Nationalsozialismus wurden von der Leyen und Kramer mit ihrer Ablehnung einer biologistische Ursachendeutung von Schwererziehbarkeit zunehmend isoliert. Anfeindungen nahmen zu, Kramer wurde 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlassen und von der Leyen machte im gleichen Jahr Selbstmord. Leider hat der Nationalsozialismus die damals vorausschauende theoretische Position von Kramer und von der Leyen völlig ausgelöscht.

In der Diskussion wurden gemeinsam die inklusiven Bausteinen der Kramer/ von der Leyen-Position herausgearbeitet: im Sinne des Empowerments sei es der Blick auf das einzelne, unverwechselbare Individuum, die Beteiligung der Betroffenen am Entscheidungsprozess, die Vernetzung beteiligter Einrichtungen und die Ablehnung von Sonderschulen für deviante Kinder. Vorläufer zur heutigen ADHS-Diskussion finden sich bei Kramer in seinen Arbeiten zum hyperkinetischen Kind. Eine Teilnehmerin wies auf die veränderten Normen im Vergleich zu damals hin, Homosexualität – früher eine schwer Abweichung – sei heute kein Fehlverhalten mehr. Es wäre aber interessant zu überprüfen, welche Auffälligkeiten die heutigen Kinder zeigen würden. Die Vortragenden wollten Kramer und von der Leyen für ihren selbstständigen, damals fortschrittlichen Ansatz würdigen. Es wäre bedauerlich, wenn dieses Potenzial in Vergessenheit geraten würde.

Protokoll Dr. Karl Bald

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