Auftaktveranstaltung „Friedrichshainer Kolloquium 2012 – zu Gast in Zehlendorf“
"Wenn das alles so freier ist, da kannst du dein Leben selber verstalten."
Das "Friedrichshainer Kolloquium" wendet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, an Studierende und an Interessierte. Ein Thema, zwei Vorträge aus verschiedenen Disziplinen. Anschließend ist viel Raum für ausführliche Diskussion zwischen Experten und Publikum. Auf diese Weise möchte das IMEW den Dialog zwischen den Disziplinen mit dem Schwerpunkt Behinderung stärken. 2012 findet die Veranstaltung erstmalig in Kooperation mit der Villa Donnersmarck in Zehlendorf statt. Über das Jahr verteilt beleuchten die insgesamt sechs Kolloquien dabei Inklusion und Exklusion aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Jede Veranstaltung findet in der Zeit von 16 – 19 Uhr statt.
Zum Auftakt am 21. Februar 2012 ging es in den Vorträgen von Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl und Dr. Ulrike Winkler um Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung in einer Einrichtung. Beide sind Historiker und keine Reha-Forscher. Sie arbeiten im Auftrag stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe, die den damaligen Lebensalltag ihrer Bewohner kritisch auf den menschenrechtlichen Prüfstand nehmen wollen. Prof. Schmuhl und Dr. Winkler sind methodisch und inhaltlich den Auftraggebern in keiner Weise verpflichtet, was sie als Ausgangsbedingung ihrer Untersuchungen bezeichneten.
In seinem Vortrag stellte Prof. Dr. Schmuhl aus Bielefeld zu Beginn Auszüge aus Werkstattberichten seiner laufenden Forschungsprojekten vor. In diversen Einrichtungen der Behindertenhilfe wurden dabei Interviews mit Menschen mit so genannter geistiger Behinderung geführt, die mitunter über 40 Jahre in diesen Institutionen ihr Leben verbracht haben.
Schmuhls Ausgangshypothesen in Kürze:
Exklusion findet durch Sprache statt. Es muss genau untersucht werden, wie der Lebensalltag in Institutionen aussieht. Durch das Aktenstudium allein kann der Lebensalltag von Menschen nicht verstanden werden, da Akten eine eigene Wirklichkeit schaffen. Darunter könne viel menschliches Elend verborgen bleiben. Die Befragung von Zeitzeugen durch leitfadengestützte Interviews ist eine gute Möglichkeit der Analyse. Viele überraschende Ergebnisse seien dabei herausgekommen. In allen untersuchten Fällen machte sich eine „Subkultur der Gewalt“ bemerkbar.
In allen Einrichtungen sollte der große Wandel im Behindertenbereich der letzten 50 Jahren untersucht werden – wie haben die Heimbewohner diesen erlebt? Prof. Dr. Schmuhl fasste seine Aussagen in sieben Punkten zusammen.
1) Menschen, die schon als Kleinkinder ins Heim gekommen waren, sparen ihre Kindheit / Jugend völlig aus. Personen, die im Jugendalter oder später in stationäre Einrichtungen, kamen, zeigten ein „Davor“– sie besaßen eine Vorgeschichte.
2) Nach welchen Kriterien werden im Nachhinein Lebensabschnitte von den Betroffenen selbst gegliedert? Alle Personen wissen ihr Aufnahmedatum; zentral sind die Wechsel zu verschiedenen Häusern/Wohnformen innerhalb der Institution (vom Schlafsaal über das Vierbettzimmer zum Einzelapartment). Alle Personen erlebten diesen Wechsel als Zugwinn von Freiheit
3) Der Übergänge von Familie zu Heim wird als schmerzhafter Verlust der Autonomie empfunden. Essen ist ein zentraler Prozess in Einrichtungen. Die zwangsweise zugeteilten Portionen aus der Großküche stehen im starken Gegensatz zur der gefühlten Autonomie beim selbst Einkaufen, selbst Kochen ist ein Stück Freiheit.
4) Arbeit / Beschäftigung: bis 1969 fand Arbeit in und für die Einrichtung statt (Putzen, Waschen etc.), danach entstanden sozialversicherungspflichtige Tätigkeit, was als großer Fortschritt erlebt wurde. Sinn der Arbeit: eigenes Geld und Selbstbestimmung.
5) Verhältnis zwischen Männern und Frauen: früher gab es strenge Geschlechtertrennung; 1968 erste Tanzkurse als großer Aufbruch; später wurde auch Zusammenwohnen möglich (in den 70ern noch mit vorherigen Sterilisationen).
6) Soziale Kontakte allgemein: Menschen mit geistiger Behinderung verfügen meist über „lose Beziehungsnetze“. Frauen pflegen dabei mehr Kontakte als Männer. Es existiere zu den Mitarbeitern meist ein distanziertes Verhältnis; externe Kontakte bestehen kaum.
7) Enge soziale Räume: es existieren wenig sozialen Treffpunkte, z.B. „Schmiede“ als Disko, Spielcafé werde von Mitarbeitern nicht gern gesehen. Zusätzliche Orte der Begegnung:: Einkaufzentren, Sportstadien. Kaum Teilhabe am ÖPNV
Seine Interviews in stationären Einrichtungen zeigen, dass eine „inklusive Gesellschaft noch Lichtjahre entfernt“ scheint, doch würde bei manchen Betroffenen die Lust auf Eigenständigkeit schon deutlich spürbar sein.
Dr. Ulrike Winkler aus Berlin schilderte im zweiten Vortrag mit vielen konkreten Beispielen den Lebensalltag von Frau A.. Diese war mit acht Jahren in die Kreuznacher Diakonie gekommen und jahrelang durch erfahrene diagnostischen Zuschreibungen überzeugt, sie sei „schwachsinnig“,.. Ihr Selbstbild war jedoch nicht zutreffend, wie sich herausstellen sollte. Mit 23 Jahren begann Frau A. eigenverantwortlich als Haushaltshilfe zu arbeiten, mit 24 Jahren zog sie in eine eigene Wohnung. Bis heute arbeitet Frau A. als Tagesmutter.
Ihren theoretischen Ansatzpunkt leitete Dr. Winkler von den „disability studies“ ab. Dieser Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, wer an der sozialen Konstruktion Behinderung beteiligt ist. Verhalten wird hier primär als Reaktion auf gesellschaftliche Bedingungen verstanden. Diagnosen wie „Psychopathie“ und „moralischer Schwachsinn“ seien abhängig von vielen Zufälligkeiten – und von den jeweiligen Kontexten der Institution, in denen Menschen schnell zu „Insassen“ werden, deren Eigenwille primär Störfaktor ist. Als ein Symbol für die Anpassung an die Institution nannte Dr. Winkler das zwangsweise verordnete Essen mit einem Löffel. Dadurch werde der erwachsene Mensch zum Kleinkind degradiert: Der christliche Auftrag der Nächstenliebe sei früher oft in Konflikt mit institutionellen Anpassungsstrategien geraten (Schläge, in der Ecke stehen, Schutzjacken tragen).
Dr. Winkler hatte die Biografie von Frau A als narratives Beispiel ausgewählt, um zu zeigen, „was aus einem Menschen gemacht werden kann, das er gar nicht ist.“
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt, wie die Auftraggeber auf die Untersuchungsergebnisse reagieren würden. Insgesamt fühlten sich die „Profis“ durch diese unerwartet stark angegriffen. Am heftigsten würden Mediziner mit Ablehnung reagieren.
Die Forscher hatten in ihren Untersuchungen zum ersten Mal das Interesse der Klienten konsequent erfasst und deren Sichtweise öffentlich gemacht. Es gehe um eine konsequente Darstellung der Betroffenensicht. Anlass für einen Forschungsauftrag sei oft, dass sich Klienten melden und Einrichtungen aus Angst vor unangenehmer Presse die Erforschung in diesem Zusammenhang als eine Art Klärungsversuch betrachten.
Auslöser für diese Diskussion sei das Buch Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik.von Peter Wensierski gewesen. Menschen, die damals schon in stationären Behinderteneinrichtungen lebten, erhalten bis heute keine Opferentschädigung nach dem Bundesschädigungsgesetz. Das Gesetz ist nur bei Heimerziehung anwendbar, nicht aber im Behindertenbereich. Ziel müsse es sein, eine Antragsberechtigung bei Opferentschädigung auch für Menschen mit Behinderung zu erreichen, die bisher nicht zum Kreis der Gesetztlich-Anspruchsberechtigten gehören. Es gebe mittlerweile einen ersten Antrag einer behinderten Frau.
Wie wirken die Untersuchungsergebnisse? Nach Einschätzung der Referenten würden ihre Studien die einrichtungsinternen Diskussionen und Fortbildungen positiv beeinflussen. Mehrere Teilnehmer des Kolloquiums stellten heraus, wie wichtig es sei, die Zeichen der Gewalt in Einrichtungen von früher herauszuarbeiten. Auch Vertreter von den beauftragenden Einrichtungen konstatieren: „Wir müssen hinten sauber sein, wenn wir nach vorne wollen!“ Die Einrichtungen selbst hätten ein großes Interesse an der Veröffentlichung.
Beide Forscher erwähnten, sie seien anfänglich „unbedarft gewesen“. Viele Tatsachen würden sich in Akten nicht abbilden und konnten erst durch die Interviews erschlossen werden.
Eine Teilnehmerin betonte zum Ende der Diskussionsrunde, es brauche inklusive und exklusive Einrichtungen. Denn erst das Nebeneinander ermögliche Wahlfreiheit und damit Selbstbestimmung.
Ein exklusives Setting hieße auch, eigene besondere Bedürfnisse wahrnehmen.
Dieser Aufbruchprozess sollte wissenschaftlich begleitet werden.
26 Teilnehmer und Teilnehmerinnen folgten insgesamt den detailreichen und spannenden Vorträgen mit großem Interesse und beteiligten sich engagiert an der Diskussion. Einige hatten dafür eine lange Anreise aus anderen Bundesländern auf sich genommen. Ein gelungener Auftakt für die Fortsetzung des Friedrichshainer Kolloquiums.
Dr. Karl Bald