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Friedrichshainer Kolloquien 2007

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13. November 2007
Selbstbestimmung, Behinderung und Identität

"Der politische Blick auf den Körper": Neue Formen von Biopolitik, Behinderung und Identität
Dr. Ursula Naue, Politologin, Universität Wien

Ethik und Behinderung - Überlegungen zu Toleranz, Akzeptanz und Differenz
Prof. Dr. Ralf Stoecker, Philosoph, Universität Potsdam

Die Forderung nach Selbstbestimmung war Ausgangspunkt der Behindertenbewegung. Sie richtete sich zunächst gegen die Institutionalisierung und Pädagogisierung von behinderten Menschen und bildete später die Grundlage für die Unterscheidung soziales versus medizinisches Modell von Behinderung. Selbstbestimmung im Sinne der Behindertenbewegung bedeutet, behinderte Menschen als handlungsfähige Subjekte anzuerkennen, die eigenverantwortlich Entscheidungen über ihre Lebensführung treffen können. Eine selbstbestimmte Lebensgestaltung ist die Voraussetzung für Selbstverwirklichung und Selbstakzeptanz. Wie können soziale Barrieren abgebaut und gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden, in denen behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird?

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11. Juni 2007
Körper, Menschenbild und Recht

Menschenbild und Widerständigkeit unserer Rechtsordnung
Prof. Dr. Tine Stein, Politologin, Institut für interkulturelle und internationale Studien, Universität Bremen

Menschenbilder in der Bioethik
PD Dr. Theda Rehbock, Philosophin, Institut für Philosophie, Technische Universität Dresden

Annahmen über das Wesen des Menschen liegen unserer Werteordnung, aber auch der Rechtsordnung unserer Gesellschaft zu Grunde. Solche Wesensannahmen scheinen einerseits unverzichtbar zu sein, andererseits ist ihr Geltungsanspruch aber höchst umstritten. Letzteres ist nicht zuletzt auf die Herausforderungen für unser tradiertes Menschenmild, vor die wir durch neue Erkenntnisse der Lebenswissenschaften gestellt werden, zurückzuführen.

Tine Stein zeigte in ihrem Beitrag, dass grundlegende Gedanken, wie der der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, der christlich-jüdischen Überlieferung entstammen und in die säkulare Sprache des Rechts übertragen wurden. Den wachsenden Möglichkeiten der Lebenswissenschaften, die menschliche Natur technisch zu gestalten, steht die Widerständigkeit der Rechtsordnung entgegen. Diese hinhaltende, konservative Funktion des Rechts erhält vor diesem Hintergrund eine historisch beeindruckende Brisanz.

Häufig werden Annahmen über das Wesen des Menschen einfach als gegeben vorausgesetzt. Das gilt für lebensweltliche Werthaltungen ebenso wie für moralphilosophische Konzeptionen in der Medizin- und Bioethik. Die konservativen Bewahrer stehen dabei den liberalen Erneuerern entgegen. Theda Rehbock rekonstruierte in ihrem Beitrag die teils impliziten anthropologischen Prämissen in der Medizin- und Bioethik, die diese Kontroverse prägen, und machte sie damit einer kritischen Überprüfung zugänglich.

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17. April 2007
Körper und Seele

Psychische Krankheit - zwischen Mystifizierung und Stigmatisierung
Dr. Matthias Bormuth, Arzt, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen

Hirnforschung, Person und Identität. Bewusstseinsphilosophische und medizinethische Implikationen.
Dr. Marco Stier, Philosoph, Institut für Philosophie, Universität Rostock

Was wir unter Seele, Geist, Psyche und Bewusstsein verstehen, ist einem permanenten historischen Wandel unterworfen. Theologie, Philosophie, Medizin und Psychologie konkurrieren in den aktuellen Debatten mit der Neurobiologie um die Definitionsmacht. Welche Deutungen dabei Einfluss erhalten, ist ethisch hoch relevant, prägt dies doch den gesellschaftliche Umgang mit psychischer Krankheit aber auch unser menschliches Selbstverständnis als solches.

Psychische Krankheit löst durch die drohende Stigmatisierung, korreliert mit der sozialen Rollenänderung, psychische Irritationen bei den Betroffenen und ihrem familiären und sozialen Umfeld aus. Stigmata, ursprünglich die Wundmale Christi, ließ – historisch betrachtet – den sozial Marginalisierten die christliche Caritas zukommen. Entsprechend geht die Sorge um die psychisch Kranken auf religiöse Impulse zurück, die institutionell und sozial weit gefächert waren. Erst therapeutische Fortschritte machten den unheimlichen Einbruch der Krankheit zunehmend verständlich und beherrschbar. Matthias Bormuth beleuchtete mit seinem Beitrag die historische Entwicklung der Sicht auf psychische Krankheit zwischen Mystifizierung und Stigmatisierung und stellte aus medizinethischer Sicht Thesen für einen angemessenen Umgang mit psychischer Krankheit vor.

Die gegenwärtige Debatte über die Implikationen der modernen Hirnforschung fordert viele zum anthropologischen Selbstverständnis des Menschen gehörende Annahmen heraus. Marco Stier behandelte in diesem Kontext die Problematik der personalen Identität. Dabei hinterfragte er deren bewusstseinsphilosophische Voraussetzungen ebenso wie aktuelle Erkenntnisse der Neurowissenschaften und ging auf einige medizinethische Fragen der Hirnforschung ein. Was haben wir unter der Identität der Person zu verstehen und welcher ethische Stellenwert kommt ihr bei psychischen Erkrankungen und deren Behandlung zu?

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27. Februar 2007
Körper zwischen Natur und Kultur

Körpertechnologien. Natur, Kultur und Geschlecht in der bio-philosophischen Debatte.
Dr. Susanne Lettow, Philosophin, Berlin

Das Bild behinderter Menschen im medien- und kulturgeschichtlichen Wandel
Dr. Christian Mürner, freier Publizist und Behindertenpädagoge, Hamburg

Bioethische Debatten drehen sich um Eingriffe und Eingriffsmöglichkeiten in die körperliche Natur des Menschen. Damit reflektieren sie Veränderungen in gesellschaftlichen Natur-Kultur-Verhältnissen, wirken aber auch an deren Veränderung mit. Dies spiegelt sich beispielsweise im Streit um den "Wert des Lebens" und die "Unverfügbarkeit der Natur", aber auch in Kontroversen über die Bewertung von Körpern in Abhängigkeit davon, ob sie der Norm entsprechen oder nicht.

Unabhängig davon, welche Positionen in bioethischen Kontroversen konkret vertreten werden, lassen sich in der Rede vom "Wert des Lebens" verschiedene Konnotationen entdecken, die Veränderungen in den gesellschaftlichen Natur-Kultur-Verhältnissen aufzeigen. Susanne Lettow zeigt beispielsweise, dass die Rede vom "Wert des Lebens" nicht frei von ökonomischen Vorstellungen ist und die Rede von der "Unverfügbarkeit der Natur" auf "neo-biologistische" anthropologische Prämissen verweisen kann. Auffällig ist ihr zufolge aber auch, dass aus Debatten, in denen von "dem Menschen" gesprochen wird, Generationen- und Geschlechterverhältnisse und dabei insbesondere Frauen fast völlig verdrängt werden.

Christian Mürner beschäftigt sich mit der Veränderung gesellschaftlicher Bilder von behinderten Menschen. Er geht von der These aus, dass die meisten Menschen ihre Umgangsweisen gegenüber Menschen mit Behinderung an Bildern und Vorstellungskonventionen ausrichten. Dabei geht es um Vorstellungen von einem normalen Körper in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, Schönheit und Hässlichkeit. Diese Vorstellungen und Bilder des (im-)perfekten Körpers unterliegen – historisch betrachtet – einem medien- und kulturgeschichtlichen Wandel, einem "Iconic turn". Dabei spielen die Visionen der Biomedizin und die normalistische Betrachtungsweise eine nicht unerhebliche Rolle.

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30. Januar 2007
Körper, Behinderung und Normalität

Behindert sein oder behindert werden? Körper, Behinderung und Normalität aus subjektwissenschaftlicher Sicht
Jost Vogelsang, Psychologe, Arbeitsbereich Subjektforschung und kritische Psychologie, Freie Universität Berlin

Körper - Körperpolitik - Biopolitik: Anmerkungen aus normalitätstheoretischer Sicht
Prof. Dr. Anne Waldschmidt, Soziologin, Heilpädagogische Fakultät, Universität Köln

Mit der Diskussion der Frage "behindert sein oder behindert werden?" wird der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung problematisiert. Während "behindert sein" auf die Funktionsbeeinträchtigung des Körpers zielt, will "behindert werden" den Blick auf gesellschaftliche Barrieren lenken und diese damit abbauen. Diese Diskussion, die auch unter der Überschrift "medizinisches versus soziales Modell von Behinderung" geführt wird, verweist darauf, dass Zuschreibungen von "behindert" und "nicht behindert" flexibel geworden sind.

Dadurch eröffnen sich auf der einen Seite neue – wenn auch zwiespältige – Möglichkeiten für einzelne Subjekte mit einer Beeinträchtigung umzugehen, nämlich sich über eine individuelle Anpassungsleistung an die Norm anzunähern und damit der gesellschaftlichen Ausgrenzung vielleicht zu entgehen. Darauf ging Jost Vogelsang in seinem Beitrag eingehen. Er betrachtete das Spannungsfeld zwischen Körper, Behinderung und Normalität aus subjektwissenschaftlicher Sicht und ging auf die psychologischen Implikationen der Normalisierungsstrategien für Menschen ein, die mit einer Beeinträchtigung leben. Dabei interessiert ihn, dem Ansatz der Kritischen Psychologie entsprechend, das besondere Verhältnis eines Menschen zu sich und seiner Welt.

Auf der anderen Seite dienen Normalisierungsstrategien als solche der Durchsetzung von Normen und begrenzen damit die Handlungsmöglichkeiten der Subjekte. Dieser gesellschaftlichen Ebene gilt Anne Waldschmidts Interesse. Sie differenzierte in ihrem Vortrag zwischen Normativität und Normalität und analysierte die gesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit Behinderung. Der totale Ausschluss von behinderten Menschen aus der Gesellschaft weicht ihr zufolge, zumindest teilweise, einer flexiblen Ausgrenzung, die neue individuelle und politische Handlungsmöglichkeiten aber auch Normalisierungszwänge mit sich bringt.

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