Friedrichshainer Kolloquien 2004
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30. November 2004
Bürgerbeteiligung und diskursethische Praxis in der Biomedizin
Bürgerbeteiligung an der Politikberatung in der Bioethik
Dr. Silke Schicktanz, Biologin und Philosophin an der Universität Münster
Diskursethische Aspekte der Dresdner Bürgerkonferenz
Prof. Dr. Matthias Kettner, Philosoph an der Universität Witten-Herdecke
Die Politik, wie auch die Gesellschaft im Ganzen und damit jede/jeder einzelne steht vor der Herausforderung, einen geeigneten Umgang mit neuen Technologien wie der Gentechnik zu finden. Hier spielen etwa ethische, rechtliche, aber auch wirtschaftliche Fragen eine Rolle. Wie nun lässt sich im Prozess einer Entscheidungsfindung neben den Akteuren aus Politik, Lobby und Wissenschaft eine stärkere direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern etablieren? Eine Möglichkeit hierfür bietet die Bürgerkonferenz, wie sie erstmalig 2001 in Dresden zum Thema Genetische Diagnostik stattfand.
Silke Schicktanz stellte mit Hinblick auf die Bürgerkonferenz Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung dar.
Matthias Kettner beleuchtete, welche moralische Autorität der Konferenz als Instrument einer diskursethischen Praxis zugerechnet werden kann.
Veröffentlichung des Vortrags von Silke Schicktanz:
Bürger als Experten? Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Bürgerbeteiligung am bioethischen Diskurs, in: Biomedizin im Kontext, S.105-129
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2. November 2004
Genetische Diagnostik aus der Sicht von Betroffenen
Präimplantationsdiagnostik aus der Sicht von Hochrisikopaaren
Dr. Tanja Krones, Medizinsoziologin an der Universität Marburg
Familienplanung und Genetisches Screening auf Zypern
Prof. Dr. Stefan Beck, Europäischer Ethnologe an der Humboldt Universität Berlin
Die genetische Diagnostik im Hinblick auf die Familienplanung ist, vor dem Hintergrund einer ethischen und juristisch-politischen Debatte um deren Zulässigkeit, seit geraumer Zeit auch ein Thema in den Medien und der Öffentlichkeit. Häufig kommen die Betroffenen selbst dabei nicht zu Wort.
In diesem Kolloquium wurde die Frage diskutiert, wie die Sicht von Betroffenen in die ethische Diskussion einzubeziehen ist.
Tanja Krones stellte eine Studie der Universitäten Marburg, Gießen und Heidelberg vor. In der Studie waren Paare mit einem hohen und Paare mit einem normalen Risiko zur Vererbung einer genetischen Erkrankung zur Präimplantationsdiagnostik befragt worden.
Stefan Beck stellte seine Arbeit zur Steuerung von Ehe- und Familienplanung aufgrund eines genetischen Screenings auf Zypern vor.
Veröffentlichung der Vorträge:
Tanja Krones, Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik aus der Sicht von Paaren mit einem bekannten genetischen Risiko, in: Biomedizin im Kontext, S. 201-219
Stefan Beck, Enacting Genes, Anmerkungen zu Familienplanung und genetischen Screenings in Zypern, in: Biomedizin im Kontext, 221-237
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1. Juni 2004
"Lebensqualität" und psychische Erkrankung
Ist eine objektive Beurteilung von Lebensqualität möglich?
Dr. Thomas Schramme, Philosoph, Universität Mannheim
Gesellschaftliche Bedingungen für die Lebensqualität psychisch Kranker
Prof. Dr. Morus Markard, Psychologe, Freie Universität Berlin
Die Beurteilung von Lebensqualität spielt in der medizinischen Praxis bei Behandlungsentscheidungen, im Gesundheitssystem bei Angebotsentscheidungen und in der Medizin-Ethik in Fragen nach der ethischen Legitimität solcher Entscheidungen eine große Rolle. Dabei wird häufig implizit oder explizit unterstellt, dass Lebensqualität einerseits objektiv und andererseits kontextunabhängig beurteilt werden könne.
Thomas Schramme diskutierte am Beispiel psychischer Krankheiten aus philosophisch-ethischer Sicht die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Lebensqualität objektiv zu beurteilen. Morus Markard fragte nach den Kontextfaktoren, die die Lebensqualität von psychisch Kranken beeinflussen.
Veröffentlichung der Vorträge:
Thomas Schramme, Ist eine objektive Beurteilung von Lebensqualität möglich?, in: Anerkennung, Ethik und Behinderung, S. 87-97
Morus Markard, Gesellschaftliche Bedingungen und die Lebensqualität psychisch Kranker, in: Anerkennung, Ethik und Behinderung, S.99-112
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27. April 2004
Pränataldiagnostik, "selective abortion" und das Problem der bedingten Anerkennung
Konsequenzen aus dem Wegfall der embryopathischen Indikation
PD Dr. Heidemarie Neitzel, Humangenetikerin, Charité Berlin
Pränataldiagnostik und medizinische Indikation aus verfassungsrechtlicher Sicht
Christian von Dewitz, Jurist, Charité Berlin
Pränatale Diagnostik hat sich seit ihren Anfängen in der BRD in den 60er Jahren bis heute zu einem festen Bestandteil in der Schwangerenvorsorge entwickelt. Einerseits wird ihr vorgeworfen, eine selektive Diagnostik zu sein. Andererseits betonen GynäkologInnen immer wieder die Verbesserung der Betreuung von Fetus und Schwangeren durch die Pränataldiagnostik.
PD Dr. Heidemarie Neitzel, Humangenetikerin an der Charité stellte zunächst die Praxis der Pränataldiagnostik, die genetische Beratung und den Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik dar. Dabei legte sie auch dar, welche Konsequenzen der Wegfall der embryopathischen Indikation für die Praxis hatte. Anschließend wurden die rechtlichen, insbesondere die verfassungsrechtlichen Aspekte dieses Themas durch den Medizinrechtler Christian von Dewitz, Charité erörtert. Eine besondere Rolle kam dabei der Frage zu, inwieweit die Praxis der Pränataldiagnostik sowie die Praxis des Paragraphen 218a mit dem Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs 3 S. 2 GG) vereinbar sind. Die Referentin und der Referent leiteten aus ihrer jeweiligen Perspektive einen möglichen Handlungsbedarf ab.
Veröffentlichung des Vortrags von Christian von Dewitz:
Pränataldiagnostik, Behinderung und Schwangerschaftsabbruch, Eine (verfassungs-)rechtliche und rechtspolitische Betrachtung, in: Biomedizin im Kontext, S. 131-155
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23. März 2004
Anerkennung der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen
Soziale Anerkennung in asymmetrischen Beziehungen
PD Dr. Gesa Lindemann, Soziologin, Universität Frankfurt
Rechte und Pflichten in asymmetrischen Beziehungen
Dr. Sigrid Graumann, Biologin und Philosophin, IMEW Berlin
Wenn theoretisch über die Beziehungen zwischen Menschen nachgedacht wird, steht dafür in der Regel ein idealisiertes Modell Pate: die Beziehung zwischen autonomen, unabhängigen und mehr oder weniger gleichen Partnern. Nun trifft dieses Modell auf die reale Lebenssituation vieler Menschen nicht zu. In vielen Phasen des Lebens - als Kinder, als kranke, als alte oder als behinderte Menschen - sind wir keineswegs unabhängig, sondern von Hilfe und Unterstützung in asymetrischen Beziehungen abhängig. Deshalb wurde in diesem Kolloquium aus soziologischer und aus ethischer Perspektive danach gefragt, inwiefern traditionelle gesellschaftstheoretische und moralphilosophische Konzeptionen erweitert werden müssen. Am Beispiel der Kommunikation zwischen Pflegekräften und Wachkomapatienten führte Gesa Lindemann aus, dass die Entwicklung einer gelingenden Verständigung von Dritten abhängt, d.h. grundsätzlich gesellschaftlich bedingt ist. Sigrid Graumann fragte ausgehend von der Eltern-Kind-Beziehung danach, ob Rechte auf Sorge, Unterstützung und emotionale Zuwendung in asymetrischen Beziehungen gefordert und begründet werden können.
Veröffentlichung der Vorträge:
Sigrid Graumann, Rechte und Pflichten in asymmetrischen Beziehungen, in: Anerkennung, Ethik und Behinderung, S. 13-27
Gesa Lindemann, Jenseits von Anerkennung, in: Grenzen des Lebens, S. 27-44
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27. Januar 2004
Biomedizin und Kultur
Ein ethnologischer Blick auf die "Biomedizin"
Dr. Vera Kalitzkus, Ethnologin, Universität Göttingen
"Biomedizin" - kulturelle Folgen wandelnder Lebensbegriffe
Prof. Dr. Gerald Ulrich, Arzt, Freie Universität Berlin
Im Zusammenhang mit den neuen medizin-technologischen Entwicklungen und den so genannten Lebenswissenschaften hat sich mittlerweile der Begriff Biomedizin durchgesetzt. Gesellschaftliche Debatten über die Biomedizin greifen tief in das menschliche Selbstverständnis. Diese Beobachtung motivierte Vera Kalitzkus und Gerald Ulrich jeweils zu Begriffsreflexionen aus unterschiedlichen Perspektiven. Vera Kalitzkus näherte sich dem Thema Biomedizin als Ethnologin. Sie zeigte am Beispiel der Wirksamkeit von Heilmitteln und therapeutischen Verfahren, dass innerhalb eines Medizinsystems die Vorstellungen von Krankheiten, Behandlungsmethoden und Arzt-Patienten-Interaktionen wegen der kulturellen Prägung sehr unterschiedlich sein können. Die Biomedizin wurzelt in einem "westlichen" Verständnis vom Menschen und unterscheidet sich somit von Medizinsystemen anderer Kulturen. Gerald Ulrich ging es in seinem Vortrag vor allem um die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Biomedizin als relativ neuer Disziplin. Diese zeichnen sich durch das wissenschaftliche Experiment und damit die erkenntnistheoretische Ausblendung von Kontextfaktoren aus. Unter Bezug auf Humberto Maturana und Jakob von Uexküll plädiert er für die Rückkehr zu einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen in der Medizin.
Veröffentlichung der Vorträge:
Vera Kalitzkus, Ein ethnologischer Blick auf die Biomedizin, in: Anerkennung, Ethik und Behinderung, S. 195-210
Gerald Ulrich, Kulturelle Folgen sich wandelnder Lebensbegriffe, in: Anerkennung, Ethik und Behinderung, S. 211-220