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Dankesrede anlässlich der Verleihung des zweiten IMEW-Nachwuchspreises

Jun. Prof. Dr. phil. Helen Kohlen

Sehr geehrter Herr Prof. Schmuhl! Herzlichen Dank für die lobenden Worte über meine Arbeit!

Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren!

Es ist eine besondere Ehre, den IMEW-Nachwuchspreis verliehen zu bekommen. Es ist die Krönung meiner in diesem Frühjahr abgeschlossenen Dissertation.

Die freudige Nachricht, übermittelt von Dr. Kathrin Grüber, IMEW-Nachwuchspreisträgerin zu sein, erreichte mich im August mit meiner Familie verweilend bei Freunden in Freiburg. Dort zu sein, war wohl nicht zufällig, denn meine Freundin Silke Wiese, die seit 9 Jahren ihre schwerstbehinderte Tochter Jördes umsorgt, ließ sich allzu gerne die Anliegen des Instituts erläutern, dass mir einen Preis verleihen würde.

Nur mit guten Gefühlen kann ich auf die letzten dreieinhalb Jahre während der Arbeit an der Promotion zurückblicken.

Mein Dank gilt der Hanns Lilje Stiftung und dem Frauen-Förderprogramm der Universität Hannover. Ihre finanzielle Unterstützung erlaubte es mir, nicht nur eine empirische Vergleichsuntersuchung von drei Klinischen Ethikkomitees in Deutschland durchzuführen, sondern auch die Entstehungsgeschichte dieser Komitees vor dem Hintergrund US-amerikanischer Bioethik aufzuarbeiten. Zwei Forschungsaufenthalte in den USA, die hierzu nötig wurden, wurden von der Lilje Stiftung ohne Umstände gefördert.

Es war mir auch gegönnt, in kreativer Freiheit bei gleichzeitig kontinuierlicher Unterstützung von meiner Doktormutter Prof. Kathrin Braun betreut zu werden und immer wieder aufs Neue von Prof. Barbara Duden in Form von „Umstülpungen im Denken“ herausgefordert zu werden.

Aber nicht nur das, auch von den Mitstreiterinnen im Doktorandenkolloquium habe ich stets Hilfen in vielfältiger Form erfahren dürfen. Ich freue mich sehr, dass heute eine von Ihnen, Frau Dr. Svea Luise Hermann hier ist!

Ein besonderer Dank gilt auch meinen beiden Töchtern, Alice und June, die mir in dieser Zeit humorvoll die Päckchen des Postboten schmunzelnd mit der Bemerkung an den Schreibtisch brachten: „Wohl schon wieder ein Buch für dich, das Regal kracht bald zusammen!“ Auch den Großeltern sei Dank für die Ferienzeiten, in denen sie sich den Kindern widmeten. Mein Mann, Thomas Schwarzer, der mich stets, wie auch heute tatkräftig und umsichtig begleitet hat, ist in jeder Hinsicht unverzichtbar gewesen.

Als ich zur ersten Preisverleihung 2006 mit meiner lieben Mitstreiterin Dr. Isabella Jordan im Publikum anwesend war, konnte ich nicht im Entferntesten damit rechnen, zwei Jahre später hier vorne vor Ihnen zu stehen. Nachdem ich die Werke zur Care Ethik der damaligen Preisträgerin, Eva Feder Kittay, gelesen hatte, hat es mich sehr beeindruckt, die Stimmigkeit ihrer Arbeit, ihrer Worte, mit ihrer Person zu sehen. Ohne es zum Beginn meiner Dissertation zu wissen, es geplant zu haben, hatte mich zu diesem Zeitpunkt der Erkenntnisprozess meiner Arbeit auf Umwegen zur Relevanz des Themas Care geführt. Konkret: Es war die Sprache der Fürsorge, die nicht gefundenen, fehlenden Worte in klinischen Ethikkomitees, um fürsorgliche Haltungen und Handlungen beschreiben zu können. Das war es, was mich damals gedanklich um trieb.

Denn die Zwischenergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen der drei Komitees zeigten, dass Fragen der Fürsorge in der Sprache der Ethik nicht repräsentiert, höchstens am Rande thematisiert oder diskreditiert wurden, einschließlich von der Berufsgruppe der Pflegenden.

Die Analyse der Geschichte einer am autonomen Subjekt orientierten amerikanischen Bioethik hatte gezeigt, dass separat in den 1990er Jahren theoretische Ansätze einer Care-Ethik entwickelt wurden. Dimensionen von Macht, Ungleichheit und Konflikt werden insbesondere von Joan Tronto und Elisabeth Conradi einbezogen. Solche Care-Ethiken können dann überzeugen, wenn sie sich auf konkrete Praktiken beziehen, oder anders formuliert: Fehlt eine Sprache der Fürsorge, um einzelne fürsorgliche Aktivitäten zu beschreiben, dann besteht die Gefahr, dass sie als Berufspraktiken einschließlich notwendiger Bedingungen wie ausreichend Räume, Zeit und Personal marginalisiert oder gar ignoriert werden, einschließlich ihrer Konflikte! Dies gilt insbesondere für Probleme im Umgang mit Sterbenden, eine mangelnde Schmerztherapie, Probleme der Armut und Einsamkeit, wie auch Fragen der Hierarchie in den Sitzungen der Ethikkomitees.

Your silence will not protect you[1], heißt es in einem Gedicht von Audre Lorde. Von der Poetin habe ich gelernt, dass nicht nur die Schönheit und Hässlichkeit von Worten ernst zu nehmen sind; dass Worte uns heilen, niederreißen, uns wieder aufbauen können und dass wir nur die Worte in Gebrauch nehmen können, die verlässlich sind.

Nun ein kleiner Ausschnitt meiner Arbeit.

Eine aus den über zwanzig in einem Zeitraum von zwei Jahren durchgeführten teilnehmenden Beobachtungen lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Ein Stationsarzt der geriatrischen Abteilung berichtet im Komitee von einer alten schwerhörigen Dame mit Diabetes und der Diagnose „Demenz“. Er erzählt: „Sie äußert stetig den Wunsch nach Hause zu wollen, was man allerdings in ihrem Zustand nicht ernst nehmen kann. Heute Morgen hat mir das Pflegeteam mitgeteilt, dass die Dame zum Kiosk wollte und seitdem nicht mehr aufzufinden sei.“

Auf die Frage einer Komiteeteilnehmerin, ob die Dame denn keine Angehörigen habe, meint der Arzt: Die Dame könne keine eindeutigen Angaben machen und habe auch keine Telefonnummer. Die Arbeitsbelastung sei so hoch (so der Arzt), dass man sich nicht mehr mit solchen Dingen beschäftigen könne. Auf die Frage, ob die Pflegenden nichts hätten machen können, denn es gäbe ja schließlich Pflegekonzepte für Menschen mit Demenz, die auch einen Zugang zu ihnen erlaubten, war die Antwort: „Wissen Sie, manche sind so grottendement, da kann man nichts machen!“

Im Anschluss an eine Diskussion über Möglichkeiten der Entmündigung und Betreuungsverfügungen beendet der Leiter des Komitees die Fallbesprechung mit der Aussage: Die Frage zur Autonomie der Patientin und was sie wirklich will, bleibt ungeklärt und damit unbefriedigend. Dann widmen sich die Komiteemitglieder dem folgenden Tagesordnungspunkt.

Es ist erstaunlich, dass es der Stationsarzt ist, der die Flucht der alten Dame als Problemfall vorträgt. Es gehört eigentlich in den Kompetenz- und Verantwortungsbereich der Pflegenden, sich in die Welt der Verirrungen der alten Dame einzulassen und den klassischen Bewegungsdrang der zu diesem anderen Dasein gehört, zu erkennen. Es wird nicht nach einem fürsorglichen Umgang mit der alten Dame gefragt, nach der notwendigen Achtsamkeit und einem verantwortlichen, kompetenten Handeln, sondern beziehungslos über Entmündigung und gleichzeitig über Autonomie gesprochen.

Das Prinzip der Autonomie wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Konversation ohne die Frage zu stellen, wie man am besten mit der alten Dame in Beziehung bleiben könne. Wie auch die meisten anderen Komiteediskussion zu Patientengeschichten, lässt sich dieses Verfahren leicht in Anlehnung an die in den 80er Jahren in den USA durchgeführte Studie von Patricia Flynn auf den Punkt zu bringen: Dreht es sich bei Gesprächen in den Komitees um Entscheidungen, dann – ich zitiere Patricia Flynn – „singen die Komiteemitglieder das Prinzip der Autonomie wie ein Refrain im Chor“.

Als es im folgenden Tagesordnungspunkt um Patientenverfügungen geht, bemerkt der Komitee-Vorsitzende, dass es im Hause kein einheitliches Verfahren gibt. Er fragt die Qualitätsbeauftragte, inwiefern eine Standardisierung von Patientenverfügungen durchgesetzt werden könne. Die Leiterin der Altenpflegeeinrichtung interveniert und meint, dass eine Standardisierung alten Menschen nicht gerecht werden könne. Eine Erklärung wird ihr nicht ermöglicht, denn die Komiteeleitung bemerkt schroff, dass „Sonderentscheidungen“ jetzt nicht zur Diskussion gehörten. Genau genommen, wird eine Perspektive aus dem Praxiserleben in Bezug auf alte Menschen am Lebensende ausgeschlossen.

Aus pflegerischer sowie ärztlicher Sicht behindern hier standardisierte Fragen ein Handeln in Beziehung wie es in einem anderen Komitee deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Ein Arzt erklärt: „Wir können nicht alles regeln, wenn eigentlich Vertrauen gefragt ist. Ich befürchte, wir verlieren Vertrauen auf dem Weg zu denken, dass wir für alles Regelungen, Standardisierungen und Gesetze brauchen.“

Ein Fazit meiner Arbeit: Die Akteure der medizinischen und pflegerischen Praxis stehen vor der Herausforderung, ihre im Berufsethos verankerten, traditionellen Überzeugungen zu verteidigen. Dies nicht nur gegenüber einer weiter zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen, sondern auch gegenüber einer damit verbundenen Denklogik und Sprache in Regeln und Modellen, die ihren Niederschlag in einer Verfahrenstechnik zur Lösung von Konflikten findet und mit hoher symbolischer Macht „Ethik“ genannt wird.

Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges bemerkt in der Einleitung seines Werkes „Homo Patiens“ (1985),[2] dass es im Laufe einer viertausendjährigen Geschichte der Medizin nicht nur Entdeckungen und Errungenschaften gegeben hat, die in vorzüglicher Beschreibung Eingang in die Lehrbücher fanden, sondern auch Verkümmerungsprozesse, die in gleicher Weise systematisch registriert werden müssten – nicht nur Fortschritte, sondern auch Fehltritte. Dies mag in Zeiten einer Ethikkonjunktur auch für Teilgebiete in diesem Feld gelten, nämlich Verkümmerungsprozesse innerhalb einer Sprache, die kaum Beziehung, Verbundenheit und Zusammenhänge zum Ausdruck bringt und dabei nicht nur die Relevanz einer fürsorglichen Praxis ausblendet, sondern auch ihre Konfliktlagen.

An dieser Stelle möchte ich Barbara Duden zitieren: „Wenn so mit Wörtern (und Sprache) umgegangen wird, verlieren sie den Ankerplatz im Herzen, in der Leibhaftigkeit und jedes Echo im Geist“.

Wie es schon der Name sagt, das gemeinnützige Institut für Mensch, Ethik und Wissenschaft legt Wert darauf, dass der Mensch vor der Ethik steht. Diese Verankerung einer Ethik zu Fragen, wie sie in modernen Anwendungsformen gestellt werden, kann m.E. durch nichts ersetzt werden.

Danke schön!


[1] „The Transformation of Silence into Language and Action“ in Sister Outsider

 

[2] Schipperges gibt einen Ausblick in die Medizin in das Jahr 2000

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