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Vom letzten Wort zum letzten Bild: Öffentliches Sterben

Vortrag von Prof. Dr. Hans Jürgen Wulff

Sterben scheint auf den ersten Blick eine zutiefst private Angelegenheit zu sein. Als eine Verengung des Lebens- und Interessenhorizonts, die extremer nicht mehr zu denken ist. Aber dann fallen einem Bilder einsamst Gestorbener ein (aus dem Film, aus der Literatur, aus der Realität – ob solche Bilder real zustande gekommen sind oder auf Inszenierung basieren, ist für ihre Wirkung – als Exempla des Gedächtnisses – offenbar von keinem Belang). Die Trostlosigkeit solcher Tode drängt sich auf.

Auf den zweiten Blick also das Sterben „im Kreis der Familie“ (der Freunde / der Lieben / ...) als sie wünschenswertere und trostreichere Form. Keine allgemeine Öffentlichkeit, sondern eine des Nachbarschaftlichen und des Familiären. Kein Tod auf dem Marktplatz oder in der Fabrik, sondern im Innern der Wohnung. Idealerweise im Bett – entspanntes und verklärtes Sterben, kein Kampf, keine Auflehnung. Weggehen, nicht weggezerrt werden. Tod als nichts wirklich Nur-Individuelles, sondern als Geschehen in einem Feld „kleiner Öffentlichkeit“.

Wenige Dokumentarfilme haben versucht, sich an die Fragilität dieses halböffentlichen Geschehens heranzutasten. Johan van der Keukens sensibler Film De grote Vakantie (2000) gehört dazu, in dem der Filmemacher – wissend, dass er tödlich an Krebs erkrankt war – noch einmal die Orte seiner Filme besucht, dabei immer wieder über die eigene Krankheit nachdenkend. Und Wim Wenders‘ Nick's Film: Lightning over Water (1980) erzählt vom Sterben Nicholas Rays, des Freundes und Kollegen. Im Schlussbild fährt eine rote Dschunke mit seiner Urne aufs Meer hinaus, Beleg dafür, dass selbst Dokumentaristen, die die Nähe zum Sterben Nahestehender gesucht haben, auf Bilder und Symboliken zurückgreifen, die Tod und Sterben als gesellschaftliche Tatsachen greifen und mitteilbar machen.

Die Medien gehören zu jener allgemeineren, umfassenderen Vorstellung von Wirklichkeit maßgeblich dazu. Obwohl Tod und Sterben alltägliche Realitäten sind, ist öffentliches Sterben äußerst rar. Wenige Fälle drängen sich auf: Der Fall der Theresa Marie Schiavo, die 15 Jahre im Wachkoma gelegen hatte und von ihrem Mann getötet wurde, was nicht nur in den USA zu einem breit diskutierten (Grund-)Rechtsstreit über Sterbehilfe führte. Und das Sterben Papst Johannes Pauls II., das sich über nahezu 2 Monate hinzog (Februar/März 2005) und das eine heftige Debatte darüber ausgelöst hat, ob eine solche Berichterstattung medienethisch zu vertreten sei.

Tod und Sterben sind aus dem öffentlichen Raum weitestgehend ausgegrenzt. Gleichwohl ist ein sich veränderndes Interesse an beidem an breiter Front spürbar. Insbesondere der Leichnam ist in manchen kommunikativen Gattungen eine Tatsache öffentlicher Wahrnehmung geworden – dafür mögen die zahlreichen Gerichtsmedizin-Serien des Fernsehens ebenso stehen wie der enorme Erfolg der „Körperwelten“-Ausstellung Volker von Hagens, die allein in Deutschland Blockbuster-Umsätze erzielte.

Eine Annäherung an das Verhältnis von Sterben und Öffentlichkeit bedarf eines interpretativen Rahmens, sonst kommt man über eine Kasuistik des „öffentlichen Sterbens“ nicht hinaus. Für das folgende soll darum ein Gewebe von Thesen und Fragen aufgespannt werden, das tieferes Eindringen ermöglicht.

(1) Was öffentlich sein soll, bedarf des öffentlichen Interesses. Ist jemand umgebracht worden, ist ein Verbrechen geschehen, tritt das Gesetz als Rahmen dieses Interesses ein. Ein Mord beendet das Recht auf Privatheit, wird zur öffentlichen Tatsache. Das alles tritt oft erst nach der Tat ein, das Sterben ist abgeschlossen; doch finden sich Beispiele, die sich mit dem Sterben (von Geiseln etwa, die mit geringer Zeit auskommen müssen) selbst befassen. Zu befassen scheinen, muss man korrigieren – denn auch in diesen Fällen wird eher vom Töten oder vom Rettungsversuch gehandelt als vom Sterben selbst.

Etwas anderes ist es, wenn Prominente sterben. Celebrities, heißt es im Englischen, darin auf das lateinische celebrare (= heiligen, feierlich begehen) rückverweisend; die celebritas war die „Belebtheit eines Ortes, eine Volksmenge“, auch: „eine Berühmtheit“. Wenn Harald Juhnke oder der Papst sterben, sterben Zelebritäten, die per se dem öffentlichen Raum zugehören. Das sichert auch das Interesse der Medien.

Gelingt es, eine Person zu einer repräsentativen Figur zu machen, sie zu einem Stellvertreter eines Themas zu machen, transformiert man sie in gewisser Weise von einer privaten zu einer öffentlichen Figur. Das gelang im Falle der Frau Schiavo, deren Fall zu einem casus der öffentlichen Kontroverse um Sterbehilfe wurde. Im Koma zu liegen, ist das eine; im Rahmen eines Diskurses als prominentes oder gar repräsentatives Beispiel genannt zu werden, etwas anderes. Das erstere ist privates Drama; das letztere von allgemeinerer Bedeutung.

Die Verwandlung der privaten in die öffentliche Figur ist zugleich eine elementare Strategie der Dramatisierung. Ein kleines Gedankenexperiment mag zeigen, worum es geht: Eine alte Frau stirbt. Kein Drama, keine Geschichte, etwas Privates. Eine kleine Variation hebt das Geschehen zu etwas Geschichtenfähigem an: Eine alte Frau stirbt, nachdem sie intensiver radioaktiver Strahlung ausgesetzt war. Hier ist Unrecht geschehen, der Leser oder Zuschauer ist emotional engagiert und parteilich dazu, der Wunsch nach Gerechtigkeit erwacht – aus barem Geschehen ist der Ansatz einer Geschichte geworden. (Hier sei auf die amerikanische Screwball-Komödie Nothing Sacred, 1937 verwiesen, mit der William Wellman eine derartige – hier auch noch vorgetäuschte – Verwicklung durchspielt.)

(2) Wir sprechen in den Fällen, in denen wir es mit öffentlichen Figuren zu tun haben, meist von Personae. Das Wort selbst weist auf seine ursprüngliche Bedeutung als „Maske“ zurück, die etwa Schauspieler im griechischen Theater trugen. Der privaten Person tritt eine öffentliche Persona zur Seite, soll das heißen. Sie werden zwar durch den gleichen Akteur realisiert, und oft dominiert die Persona die Person. Doch gilt als unzweifelhaft, dass sich „hinter“ der öffentlichen Person eine zweite verbirgt. Das Recht der Persona auf private Schutzräume ist brüchig, das Interesse des Publikums richtet sich oft gerade auf das Leben „hinter“ der Abschirmung. Papparazzi und Yellow Press bedienen das öffentliche Interesse am privaten Leben der Zelebritäten.

Werden Personae aufgebahrt, um den „Fans“ Gelegenheit zu geben, im Angesicht des Leichnams Abschied zu nehmen, sprich: sich der Bedeutungen noch einmal rückzuversichern, wird aus Tod öffentlicher Tod. Als Lady Diana aufgebahrt wurde, wurde ein öffentliches Event inszeniert. Allerdings zeigt die Aufbahrung, wie durchlässig die Umgangsformen mit dem Tod von privaten oder öffentlichen Figuren sind, ist doch die Aufbahrung eine der auch in familialer Kommunikation gebräuchlichen Formen der Verabschiedung der Lebenden vom Toten.

Personae sind Bedeutungsträger. Die ebenso diffusen wie komplexen Bedeutungen, die sie tragen, sind nicht immer von allgemeiner Geltung. Manches ist beschränkt auf Subkulturen, Glaubensgemeinschaften, regionale Kulturen. Figuren der Popwelt wie Janis Joplin oder Kurt Cobain sind in anderen Bedeutungs-, Alltags- oder Sozialwelten verankert als der Pabst oder berühmte Politiker.

Es geht auch um diese Bedeutungen, wenn Personae öffentlich hingerichtet werden. Der Tod Ceaucescus (dokumentiert in: Videogramme einer Revolution, 1993, Harun Farocki) wurde z.B. in einer langen Fernsehübertragung öffentlich gemacht. Hier ist ein demonstratives Moment im Spiel: Es zeigen diejenigen, die im Besitz der Macht sind, wie sie mit den Insignien vergangener Macht umgehen. (Darum ging es beim Tod aller Herrschenden, man denke an die Hinrichtung Ludwigs XVI. während der französischen Revolution.)

Demonstrativität auch in jedem anderen Fall, in dem an Übeltätern öffentliche Strafe exekutiert wird. Ravaillac, der Mörder Heinrichs IV. von Frankreich, wurde 1610 in einem öffentlichen Spektakel hingerichtet. Und noch die namenlosen Erhängten, die 1945 vor und in deutschen Städten an den Bäumen baumelten, stehen für das Moment des Zeigens, für das Demonstrative, das die Täter im Sinn hatten.

Anonyme Tote werden mit drohendem Zeigefinger auch immer wieder als Warnungen vor den fatalen Wirkungen der Drogen gezeigt. Verschmutzte Toiletten, Dreck, dazwischen die verkrümmte Leiche eines Toten. Der zynische Euphemismus vom „goldenen Schuss“ tritt oft genug dazu. Auch in dieser Mischung von Schock und Warnung ist das demonstrative Moment bestens spürbar, welches das Bild als öffentliches Bild qualifiziert.

(3) Das Öffentliche ist etwas fundamental Kommunikatives. Erving Goffman hat in den 1950ern die Theater-Metapher als Grundlage der Beschreibung sozialer Vorgänge vorgeschlagen: „Wir alle spielen Theater“, war der deutsche Titel seiner Untersuchung der Selbstdarstellung im Alltag (1959). Das verlagert das Modell des Öffentlichen auf eine Ebene unterhalb der Massenmedien und der großen öffentlichen Inszenierung. Handeln wird nun auch mit Selbstwahrnehmung verbunden. Es ist nicht nur instrumentell begründet, sondern hat eine adressierende Komponente. Es richtet sich an ein (reales oder imaginiertes) Publikum.

Damit rückt auch der öffentliche Selbstmord in das Interesse des Themas. Mögen alle Selbstmorde adressiertes Handeln sein, so ist doch das Publikum, an das man sich freiwillig sterbend wendet, von verschiedener Art. Es geht dann um ein Verhältnis, das der Sterbende (der Selbst-Tötende) zu einem symbolischen Kollektiv sucht und zeigt. Die Beispiele sind heterogen. Viele Heldentode (und wie der Film sie inszeniert) sind von dieser Art. Die Kamikaze-Flieger der japanischen Armee gingen zu höherem Zweck an den Start (und wurden öffentlich, noch vor dem Abflug, dafür geehrt). Die Männer, die für die deutsche Kriegsmarine im zweiten Weltkrieg in Ein-Mann-Torpedos stiegen, taten dies im Dienst an der ideologischen Schimäre „deutsches Volk“. Und noch die Selbstmordattentäter der islamischen Welt berufen sich auf die Rolle als Gotteskrieger, die ihnen in der Scharia vorgezeichnet ist.

Denkt man aber an die Selbstverbrennungen als Protest gegen den Vietnam-Krieg, so wird deutlich, dass der öffentliche Selbstmord sehr unterschiedliche rezeptive Affekte beabsichtigen kann. Neben die Bewunderung für den Täter kann ein Entsetzen treten, das auf das Publikum übertreten soll, oder ein Schrecken, der wie eine moralische Blockade zum Einhalten gebietet. All dieses betrifft primär die Selbstwahrnehmung des „Selbst-Töters“. Doch gehört die Kalkulation des Effektes wesentlich zum Spiel dazu.

Auch dieses ist eine Implikation der Theater-Metapher: den Tod des öffentlichen Selbstmörders als intentionales Handeln lesen zu wollen. Demonstration und Provokation, ein Zeichen setzen zu wollen, Aufmerksamkeit zu erregen – die Effekte, die am Ende eintreten sollen, sind nicht festgelegt. Aber das Spiel schafft in jedem Fall einen Rahmen von Sinn, der den eigenen Tod entlastet, begründet und möglicherweise sogar als subjektiven Gewinn wahrnehmbar macht. Das Spiel ist reflexiv und gestattet dem Spieler, die eigene Rolle wahrzunehmen und einzurichten. Im Extremfall gilt auch: Der Sterbende inszeniert sein Sterben.

Wer adressiert wen? Der Sterbende / „Selbst-Töter“ das Publikum? Die Tötenden / Hinrichtenden die Öffentlichkeit? Der Sterbende sich selbst? Immer hat man es mit Handelnden zu tun, die (zumindest potentiell) Verantwortung für ihr Handeln übernehmen können. Das unterscheidet die erwähnten Formen vom Sterben des Papstes, den man sich als passiv, nicht-entscheidungsfähig, den Helfenden ausgeliefert vorzustellen geneigt ist. Doch auch hier stellt sich die Frage, welche intentionalen Horizonte bei der Entscheidung, den Sterbeprozess öffentlich zu machen, eine Rolle gespielt haben mögen.

(Am Anfang der Mediensatire Network, USA 1976, Sidney Lumet, verkündet ein Nachrichtenmoderator, dessen Sendung aufgrund sinkender Zuschauerzahlen abgesetzt werden soll, coram publico, er werde sich in der letzten Sendung vor laufenden Kameras erschießen. Allerdings hört ihm keiner der Umstehenden zu, niemand reagiert oder interveniert. Allgemeines Desinteresse – also von keinerlei öffentlichem Belang.)

(4) Selbst dann, wenn ungerechter Tod mittels der Medien öffentlich gemacht wird, selbst dann, wenn es offensichtlich Täter im Sinne jedes Rechtssystems der Welt gibt, bleibt ein Effekt aus (wenn man von einer ohnmächtigen Empörung des Publikums absieht). Das Sterben im Krieg ist das augenfälligste Sujet des Kriegsjournalismus. Nicht erst seit den Bildern von Robert Capa ist die Dokumentation des Sterbens auch ein dauerndes Medium der Anklage, der Klage, der Empörung. Als am 30.9.2000 israelische Soldaten einen unbewaffneten palästinensischen Vater und seinen kleinen Sohn unter Beschuss nahmen – der Junge starb nach 40minütigem Kugelhagel an insgesamt acht Schussverletzungen –, wurde das Geschehen von einem Kameramann von France-2 aufgenommen. Trotzdem wurde keiner der Mörder vor Gericht gestellt.

Es bleibt am Ende die Frage, was eine Gesellschaft oder ein Einzelner gewinnt, wenn Sterben aus den Residuen der Privatheit herausgenommen würde. Bislang bedurfte es der Rahmung individuellen Todes im öffentlichen Interesse, sei es im Rahmen des Rechtes, sei es im Rahmen der allgemeinen Symboliken und Repräsentationssysteme. Das Individuelle musste z.B. „angehoben“ werden zu einem Gegenstand, an den sich Diskurse (wie über Sterbehilfe) anlagern konnten. So wird aber individueller Tod aufgelöst, wird zu einem Fall oder zu einem Namen für Diskursives. Und auch die Toten, die durch Verursachung umkommen (sei es durch Giftmüll, Atomenergie oder anderes), stehen als unschuldige Opfer industrieller Interessen im öffentlichen Diskurs, werden so ent-individualisiert und mit Rollen im Konfliktfeld sozialer, politischer und ökonomischer Interessen verbunden. Aus realen Toten werden Figuren resp. Rollen in einem umfassenden Drama.

Sterben und Tod bleiben so am Ende private Gegenstände. Sollen sie in die Sphäre des Öffentlichen erhoben werden, bedarf es symbolischer Rahmen und diskursiver Arrangements, die den individuellen Tod transformieren und zu etwas wesenhaft anderem machen. Der nicht von klaren Handlungs-Interessen geformte Blick auf den Toten (und erst recht auf das Sterben) bleibt etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles – Jay Rubys Studien zur Totenfotografie des 19. Jahrhunderts (Death and Photography in America, 1995), Arnulf Reiners Totengesichter (1979/80) – eine Serie übermalter Photos aus dem Leichenschauhaus –, die Totenbilder Jeffrey Silverthornes oder jüngst die Bildmonographie Noch mal leben vor dem Tod: Wenn Menschen sterben (von Beate Lakotta mit den Bildern Walter Schels‘, 2004) mögen dafür stehen, dass die Darstellung von realem Tod und realem Sterben nach wie vor ein Skandalon bilden.

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