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Rassisch verfolgt oder lebensunwert? Mahn- und Gedenkveranstaltung für die Opfer der Erbgesundheitsgesetze des Nationalsozialismus, 3.9.2011, Berlin

Die Rolle der Ärzteschaft beim Tötungsprogramm des NS-Regimes

„[D]ie Trennungslinie, die in meinem Innern jene Sphären von Gut und Böse schied, die des Menschen Doppelnatur trennen und verbinden, war bei mir sogar noch tiefer gezogen als bei der Mehrzahl der Menschen. [...] Obwohl so im Grunde ein Doppelwesen, war ich doch in keiner Hinsicht ein Heuchler. Es entsprach nicht weniger meinem wahren Ich, wenn ich alle Hemmungen beiseite warf und mich in Schande tauchte, als wenn ich in der Helle des Tages mich um den Fortschritt der Wissenschaft oder um Milderung von Sorgen und Leiden mühte. [...] Schon sehr zeitig [...] vertiefte ich mich gern in angenehmen Wachträumen in den Gedanken einer Trennung dieser Elemente. Ich sagte mir, falls es gelänge, jede dieser beiden Naturen in gesonderte Persönlichkeiten zu verpflanzen, das Leben von all dem, was jetzt unerträglich war, befreit sein würde.“

So lässt Robert Louis Stevenson die Lebensbeichte des unglückseligen Dr. Henry Jekyll beginnen, der – getrieben von wissenschaftlicher Neugier – einen Selbstversuch unternimmt. Jekyll, ein edler Charakter, guter Arzt und brillanter Forscher, nimmt gewisse Agenzien ein, die eine Aufspaltung der in seinem Körper zusammengesperrten Persönlichkeiten bewirken, und entlässt auf diese Weise sein böses alter ego Mr. Edward Hyde in die Wirklichkeit. Hyde, ein haltloser, triebhafter, durch und durch verkommener Mensch, verstrickt Jekyll in fürchterliche Verbrechen, gewinnt mehr und mehr Macht über ihn und verdrängt ihn schließlich ganz aus seinem Körper. Am Ende steht der Selbstmord Hydes.
Die 1886 entstandene Erzählung „The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ gehört zu den Klassikern der Literaturgeschichte – wohl jeder hat schon einmal das Buch gelesen, eine der zahlreichen Verfilmungen gesehen oder das Musical besucht. Bevor die Grundzüge der Psychoanalyse zu Papier gebracht waren, hatte Stevenson erfasst, dass der Mensch aus einer Vielzahl von Persönlichkeiten besteht, die sich einen Körper teilen. Die Psychologie, die ja nicht selten Impulse aus der Literatur empfangen hat, hat des öfteren auf Dr. Jekyll und Mr. Hyde Bezug genommen, und auch die Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie hat auf dieses Motiv zurückgegriffen. Man denke nur an Sebastian Haffners Essay „Germany: Jekyll and Hyde“ aus dem Jahre 1940.
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges wurden die Heil- und Pflegeanstalten im deutschen Machtbereich zum Schauplatz eines in der Weltgeschichte einzigartigen Massenmordes. Die genaue Zahl der Opfer wird sich vermutlich nie ermitteln lassen – je weiter die Forschung in der Breite und Tiefe vorangeschritten ist, desto weiter mussten die Schätzungen in den letzten Jahren nach oben korrigiert werden. Auf dem gegenwärtigen Forschungsstand muss man davon ausgehen, dass in den Jahren von 1939 bis 1945 im nationalsozialistisch beherrschten Europa 300.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen ermordet wurden – und es steht zu erwarten, dass diese Zahl im Zuge künftiger Forschungen noch weiter heraufgesetzt werden muss. Die sog. „Euthanasie“ war eine von einem Herrschaftsapparat bewusst und absichtlich ins Werk gesetzte, planrational durchgeführte, tendenziell vollständige Vernichtung einer fest umrissenen Gruppe von Menschen – sie erfüllt damit alle Kriterien eines Genozids und steht kategorial auf einer Stufe mit dem Holocaust und anderen Genoziden des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um einen Genozid mit einer ganz einzigartigen Signatur: bei keinem anderen Massenmord der Weltgeschichte kam der Medizin – genauer: der Psychiatrie – eine auch nur annähernd so wichtige Rolle zu wie bei der NS-„Euthanasie“.

Ärzte, die sich in den Dienst der NS-Vernichtungspolitik stellten, hat der amerikanische Psychoanalytiker Robert Jay Lifton zum Gegenstand einer psychohistorischen Studie gemacht. Um die Mechanismen zu erklären, die Ärzte zum Töten befähigten, entwickelt Lifton ein psychologisches Konzept, das er als „Dopplung“ bezeichnet. Bei der Dopplung teile sich das Selbst einer Person in zwei unabhängig voneinander funktionierende Ganzheiten. Die an den NS-Massenvernichtungsaktionen beteiligten Ärzte, so Lifton, hätten neben ihrem „Heiler-Selbst“ ein „Auschwitz-Selbst“ ausgebildet. Diese – weitgehend unbewusste – Verdopplung des Selbstbildes habe der „Anpassung an Extremsituationen“ gedient: „Der Nazi-Arzt brauchte sein Auschwitz-Selbst, um in einer Umgebung funktionieren zu können, die seinen vormaligen ethischen Maßstäben so zuwiderlief. Zur gleichen Zeit bedurfte er aber seines früheren Selbst, um sich weiterhin als humanen Arzt, Ehemann und Vater ansehen zu können. Das Auschwitz-Selbst musste also von diesem früheren Selbst, aus dem es entstand, zugleich unabhängig und mit ihm verbunden sein.“ Eine „zentrale Funktion“ der Dopplung habe in der „Vermeidung von Schuldgefühlen“ bestanden – insoweit, als die Dopplung in das Bewusstsein rücke, sei sie aber auch mit einem „Wandel des moralischen Bewusstseins“ verbunden. Dopplung sei daher „das psychologische Mittel zur Beschwörung der bösartigen Potentiale des Selbst.“

Lifton hat das Konzept der Dopplung vor allem aus seinen Interviews mit Auschwitz-Ärzten abgeleitet, und auf diese Gruppe von Ärzten lässt es sich auch mit Gewinn anwenden. Lifton bezieht sich aber ausdrücklich auch auf die Gruppe der „Euthanasie“-Ärzte. Deren Verhalten fügt sich aber, so meine Kritik, keineswegs bruchlos in das von Lifton entworfene Interpretationsmodell. Im Gegensatz zu anderen an der NS-Genozidpolitik beteiligten medizinischen Funktionseliten töteten die „Euthanasie“-Ärzte nicht trotz, sondern wegen ihres ärztlichen Berufsethos. Heilen und Vernichten waren in ihrem Selbstverständnis eng verschränkt. Eine Bewusstseinsspaltung lässt sich bei ihnen (außer vielleicht bei der kleinen Teilgruppe, die unmittelbar an den Massenvergasungen beteiligt war) nicht nachweisen. Die Mehrzahl der „Euthanasie“-Ärzte entsprach daher nicht dem einfachen, von Lifton skizzierten Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Typus.

Es sei ausdrücklich hervorgehoben: Der Arzt, der die Selektionskriterien festlegte und darüber entschied, wieviel tausend Menschen umkommen sollten, der Arzt, der mit einem Federstrich auf dem Meldebogen ein Todesurteil besiegelte, ja auch der Arzt, der den Gashahn aufdrehte oder die tödliche Spritze setzte: Sie alle arbeiteten freiwillig mit. Zwang scheint auch gar nicht nötig gewesen zu sein. „Namhafte Persönlichkeiten (gaben ihre) Einwilligung bedenkenlos“, heißt es in der Aussage von Dr. Friedrich Mennecke, und Prof. Friedrich Panse charakterisierte die Atmosphäre im Kreis der beteiligten Ärzte folgendermaßen: „Es herrschte insbesondere bei den jüngeren Kollegen eine wie von einem Missionsgedanken getragene Begeisterung.“
Wie erklärt sich diese Begeisterung? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir einen Blick auf die Psychiatrie in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ werfen. Schon gegen Ende der 20er Jahre hatte sich in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten eine Überfüllungskrise angebahnt, die sich mit der Überwindung der Weltwirtschaftskrise weiter zuspitzte. 1933 war die Patientenzahl bereits wieder im Steigen begriffen. Während der ersten sechs Jahre des „Dritten Reiches“ wuchs sie um gut 80.000 auf fast 340.000 an. Niemals zuvor waren in Deutschland so viele Menschen in Anstaltsverwahrung gewesen. Die Bettenzahl stieg hingegen nur um etwa 30.000. Hinzu kam, dass die durchschnittliche Verweildauer unverändert hoch blieb. Die Überbelegung, die schon in den 20er Jahren zum Problem geworden war, nahm jetzt dramatische Formen an. Auch die zahlreichen Zwangssterilisationen änderten daran nichts. Zwar wurde etwa ein Viertel aller Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sterilisiert – die erhoffte Entlassungswelle blieb aber aus, im Gegenteil: Entlassungen und Beurlaubungen wurden infolge der Sterilisierungsgesetzgebung eher erschwert.

Welche Ursachen hatte der Anstieg der Patientenzahl nach 1933? Zum einen hing er von dem langsam wiedereinsetzenden Wirtschaftsaufschwung ab: Vor allem schränkte der Übergang zur Vollbeschäftigung ab 1936 die Möglichkeiten der häuslichen Pflege ein. Insoweit beruhte der Anstieg der Patientenzahl ab 1933 auf denselben sozialen Mechanismen wie schon in den „guten Jahren“ der Weimarer Republik von 1924 bis 1929. Dennoch vollzog sich 1933 ein qualitativer Sprung, denn der Normdruck stieg weit über das bis dahin bekannte Maß hinaus an. Das NS-Regime knüpfte ein engmaschiges Netz sozialer Kontrolle, durch das Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen kaum noch hindurchschlüpfen konnten.
Die Zunahme der Patientenzahl verursachte natürlich höhere Kosten. Paradoxerweise wurde in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ mehr Geld für die Heil- und Pflegeanstalten aus¬gegeben als am Ende der Weimarer Republik, obwohl das NS-Regime mit dem Anspruch angetreten war, die Kosten gerade in diesem Bereich zu senken. Wollte man den Kostenanstieg im Anstaltswesen trotz steigender Patientenzahlen niedrig halten, so musste man die Pflegesätze für den einzelnen Patienten herabsetzen. Bereits in der Weltwirt¬schaftskrise waren die Fürsorgeverbände unter dem Druck knapper finanzieller Ressourcen dazu übergegangen, die Pflegesätze zu kürzen. 1933 wurde diese Politik forciert. Dadurch wurden die Anstalten allmählich unter die Rentabilitätsgrenze gedrückt und durch eine restriktive Zuschusspolitik dazu gezwungen, in allen Ausgabenbereichen – auch bei Essen, Kleidung, Heizung und Arzneimitteln – drastisch zu sparen. Allmählich wurden die Pflegesätze bis unter das Existenzminimum gesenkt. Infolge der Mangelernährung stieg die Sterberate in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten deutlich an.
Zwischenfazit: Die deutsche Anstaltspsychiatrie befand sich am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in einer tiefen Krise, die zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Anstalten führte. Dies ist der Hintergrund für die Verstrickung vieler, gerade junger, engagierter und reformorientierter Anstaltspsychiater in die „Euthanasie“.
Warum aber gaben sich gerade solche Ärzte dazu her, Henkersdienste zu leisten? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, einen zweiten Blick auf die Situation der Psychiatrie zu werfen. In den 20er/30er Jahren gab es in der psychiatrischen Therapeutik einen starken Entwicklungsschub. Durch die Einführung neuartiger Therapiemethoden, namentlich der Arbeitstherapie sowie der Insulinkoma-, der Cardiazol- und der Elektroschocktherapie, schienen überraschende Heilerfolge erzielt worden zu sein. Man war zuversichtlich, die Grenzen zwischen heilbarer und unheilbarer Geisteskrankheit in absehbarer Zeit entscheidend verschieben zu können. Allenthalben herrschte Aufbruchstimmung. Auf der anderen Seite waren die Anstalten, wie oben beschrieben, hoff¬nungslos überfüllt. Gleichzeitig nahm der Anteil der Langzeitpatienten zu. Die Pflegesätze wurden gesenkt. Die Bettenkapazität stagnierte.

Dies alles zusammengenommen warf eine furchtbare Frage auf: Wenn die Möglichkeiten der Anstaltspsychiatrie kaum ausreichten, um denjenigen Patienten, die man heilen zu können glaubte, wirksam Hilfe zu leisten, war es dann eigentlich zu verantworten, dass Arbeitskraft und Anstaltsraum verschwendet wurden, um vermeintlich unheilbar Kranke und Behinderte zu verwahren? Die „Euthanasie“-Psychiater waren davon überzeugt, dass die Verwahrung der Unheilbaren auf Kosten der Behandlung der Heilbaren ging. Durch die Beseitigung der chronisch Kranken und Behinderten wollten sie den Weg zu einer ambitionierten Psychia¬triereform freimachen. Die Heilanstalt der Zukunft stellten sie sich als ein räumlich großzügig angelegtes, mit modernsten Apparaten ausgestattetes, mit geschultem Pflegepersonal besetztes, von hochqualifizierten Psychiatern geleitetes Therapiezentrum vor. Die unheilbaren Patienten störten dabei nur, sie sollten in „Absterbeanstalten“ abgeschoben werden.

Wurde aber nicht der therapeutische Idealismus dadurch, dass er auf Vernichtung gründete, ad absurdum geführt? In diesem Zusammenhang muss man sich vergegenwärtigen, dass die psychiatrische Therapeutik leicht vernichtende Züge annehmen kann. Im Ersten Weltkrieg, als die Psychiater darangingen, den Kriegsneurotikern ihre Symptome mit Brachialgewalt auszutreiben, trat das hohe Maß an Gewaltbereitschaft, das der psychiatrischen Therapeutik von jeher latent innewohnte, offen zutage. Die Erfahrungen, die man bei der Behandlung der Kriegsneurosen gesammelt hatte, strahlten aber auch auf die Reformpsychiatrie der 20er und 30er Jahre aus. Gerade die neuen Schock- und Komatherapien bedeuteten für die Patienten eine körperliche und seelische Qual und bargen ein erhebliches Gesundheitsrisiko in sich. Hinzu kam, dass die Versorgung gerade der chronisch kranken und behinderten Langzeitpatienten in den 30er Jahren so stark eingeschränkt wurde, dass es zu einem deutlichen Anstieg der Sterberaten in den Heil- und Pflegeanstalten kam. Im Zweiten Weltkrieg verschlechterte sich die Ernährungslage nochmals – auch dort, wo die Patienten nicht planmäßig ausgehungert wurden. Die Mehrheit der Anstaltspsychiater nahm dies stillschweigend hin, sie mag durch das massenhafte Verhungern von psychiatrischen Patienten im Ersten Weltkrieg abgestumpft gewesen sein.

Der Schritt von den aggressiven Therapieformen zur Vernachlässigung der „unheilbaren Fälle“ und von dort zur aktiven Vernichtung unheilbar Kranker oder Behinderter war nicht so groß, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Im Falle der Kinder-„Euthanasie“ und in den späten Phasen des Krankenmordes in den Heil- und Pflegeanstalten wurde er – individualpsychologisch gesehen – dadurch noch erleichtert, dass die Tötungstechniken – das Verabreichen von überdosierten Medikamenten, die Injektion von Morphium-Skopolamin – auf alltäglichen ärztlichen Verrichtungen aufbauten und in das alltägliche ärztliche Handeln eingebettet waren.
Die Bedenkenlosigkeit, mit der die Psychiater ihre Patienten gesundheitsgefährdenden und lebensbedrohlichen Prozeduren unterwarfen, sie hungern ließen und schließlich töteten, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich das Behandlungsobjekt der Psychiatrie in der Epoche der Weltkriege unter der Hand verschoben hatte. Nicht mehr der einzelne leidende Mensch bildete den primären Bezugspunkt ärztlichen Handelns, sondern das „Volk“, das als lebendiger, von Krankheit, Siechtum und Tod bedrohter Organismus verstanden wurde. Die psychiatrische Therapeutik zielte nicht mehr vorrangig darauf ab, kranken Menschen zu helfen, sondern setzte sich vor allem zur Aufgabe, psychische Krankheiten auszurotten – was durchaus auch die Vernichtung von Menschenleben bedeuten konnte. Heilen und Vernichten fielen in der Utopie des „gesunden Volkskörpers“ zusammen. Diese biomedizinische Utopie stand im Zentrum des kollektiven Bewusstseins der „Euthanasie“-Psychiater. Sie verhinderte das Auseinanderfallen von „Heiler-Selbst“ und „Mörder-Selbst“. Heilen und Vernichten bildeten für diese Ärzte die Kehrseiten ein und derselben Medaille. Zudem schuf die biomedizinische Utopie die zur psychischen Entlastung notwendige Distanz zum Opfer – die „Euthanasie“ stellte einen Genozid nahezu ohne individuelle Aggression dar, der sich, wie die beteiligten Ärzte meinten, nicht gegen das Individuum richtete (für dieses vielmehr eine „Erlösung“ bedeute), sondern im Dienst einer höheren Sache – eben der Volksgesundheit – ausgeführt werden müsse.

Dies wiederum hatte ein verändertes Verständnis von ärztlicher Verantwortung zur Folge. Im Nürnberger Ärzteprozess hat Karl Brandt darauf hingewiesen, dass der an der „Euthanasie“-Aktion beteiligte Arzt nicht nur „die Verantwortung gegen seine Entscheidungsmöglichkeit über Leben und Tod“ getragen habe, sondern auch dadurch belastet gewesen sei, „dass er eigentlich für das Weiterleben dieses Menschen mitverantwortlich war.“ Nicht die Massenvernichtung von Kranken und Behinderten, so hat es den Anschein, löste Schuldgefühle aus, sondern eher im Gegenteil: Schuldgefühle konnten aufkommen, weil die Selektion nicht rigoros genug erfolgte. Die „Euthanasie“-Aktion stellt sich als ein Massenmord ohne Schuldgefühle dar.

Dementsprechend finden sich in den Selbstzeugnissen der „Euthanasie“-Psychiater kaum Hinweise auf psychologische Verdrängungsmechanismen. Sie setzten sich nicht nur nachdrücklich für eine Legalisierung der „Euthanasie“-Aktion ein, sie versuchten auch, die Krankentötungen einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen – in der erklärten Absicht, das Sozialprestige der Psychiatrie aufzuwerten.

Was in den „Euthanasie“-Ärzten geschah, war keine Spaltung oder Verdopplung ihrer Persönlichkeit. Sie spalteten die aggressiven und destruktiven Elemente ihrer Persönlichkeit nicht ab, sondern integrierten sie im Gegenteil in ihr „Heiler-Selbst“. Mr. Hyde wurde selber zum Arzt, Dr. Jekyll zum Mörder. Werner Heyde, Hermann Paul Nitsche oder Carl Schneider waren deshalb zu Verbrechen fähig, die sich Henry Jekyll oder Edward Hyde nicht einmal hätten vorstellen können. Und während Henry Jekyll mit der Schuld nicht hatte leben können, mit der Edward Hyde ihn beladen hatte, verspürten die „Euthanasie“-Ärzte keinerlei Schuldgefühle. Diejenigen unter ihnen, die nicht in der ersten Reihe gestanden hatten und so in die langsamen Mühlen der Justiz gerieten, kehrten 1945 ohne Mühe in die Normalität zurück.

Es ist wichtig, der fundamentalen Grenzüberschreitung der Medizin im Nationalsozialismus immer wieder nachzuspüren – auch mit Blick auf die Gegenwart. Allen neo-eugenischen Sozialutopien müssen wir das skeptische Wort Immanuel Kants entgegensetzen: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Behinderung, Krankheit, Schwäche und Hilflosigkeit gehören – wie Empathie, Respekt, Demut, Erbarmen und Güte – zur conditio humana. Hier kommt gerade auch der Medizin eine große Verantwortung zu – eine Verantwortung, die auch Grenzen medizinischer Praxis und medizinischer Wissenschaft respektiert, die kompromisslos den einzelnen Menschen zum Ausgangspunkt der Berufsethik macht. Das heißt vielleicht auch: Erwartungen enttäuschen, Zumutungen zurückweisen, Druck standhalten. Am Ende gilt: Ein Gemeinwesen ist dann am stärksten, wenn es vom Schwächsten her denkt.

von Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld)

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