Die Nutzerperspektive auf ambulante Palliativversorgung in der häuslichen Sterbebegleitung (Abstract)
Beitrag von Jörg Haslbeck
Tagung "Das Sterben in die Mitte holen", 11. November 2005 in Köln
Gemeinsame Tagung des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft, der Heinrich-Böll-Stiftung und des Deutschen Behindertenrates
Inhalt
Sterben zu Hause - eine Annäherung
Die Situation von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung
Palliative Versorgungsstrukturen und Familie - Erfahrungen, Problemstellungen und Herausforderungen
Notwendigkeit bedarfsgerechter Palliativversorgung und begrifflicher Präzision
Sterben zu Hause - eine Annäherung [ 1 ]
Die Versorgung und Begleitung von sterbenden Menschen und ihrer Familien [ 2 ] erfolgt zunehmend unter der Prämisse "ambulant vor stationär" (Landtag NRW 2005; MFJFG 2002), ganz im Einklang mit dem seit geraumer Zeit vorherrschenden gesundheitspolitischen Kanon. Dessen "Tonalität" bestimmt angesichts demographischer, gesundheitssystemischer, epidemiologischer und auch ökonomischer Veränderungsprozesse eine Verlagerung von bislang institutionalisierten Versorgungsangeboten für Schwerkranke oder Sterbende außerhalb der Mauern von Krankenhäusern und Langzeitpflegeeinrichtungen. Wie ein Blick in aktuelle Analysen palliativer Versorgungsstrukturen zeigt (siehe bspw. Deutscher Bundestag 2005; Jaspers/Schindler 2004; Landtag NRW 2005), lassen sich Fragen nach dem "wann" und "woran" Menschen sterben aufgrund der derzeit verfügbaren Todesursachenstatistik weitestgehend beantworten. In Bezug auf das "wo" sich der Sterbeort hierzulande befindet, ist die Datenlage unbefriedigend lückenhaft und die Literaturangaben werden "genauso vielfältig wie verwirrend" (vgl. Jaspers/Schindler 2004, S. 19). Es finden sich lediglich Schätzungen, die auf nicht repräsentativen Studien basieren und von Jaspers und Schindler (2004) dahingehend gebündelt werden, dass vermutlich 25 bis 30 Prozent der Menschen in Deutschland zu Hause sterben.
Die Tatsache, dass nahezu ein Drittel aller Menschen hierzulande ihr Leben außerhalb von Institutionen beendet, richtet angesichts der eingangs genannten Prämisse "ambulant vor stationär" den Blick insbesondere darauf, "wie" zu Hause gestorben wird. Dabei soll nachfolgend weniger der Frage nachgegangen werden, inwieweit die existenten Versorgungsstrukturen eine bedarfsgerechte Sterbebegleitung [ 3 ] ermöglichen bzw. gewährleisten. Auch einer der Kristallisationspunkte der derzeitigen Debatte im Hospiz- und Palliativbereich, die Frage der Vergütung insbesondere ambulanter Leistungen (bspw. in Deutscher Bundestag 2005), wird hier trotz seiner gesundheitspolitischen Relevanz ausgespart. Vielmehr soll in der anschließenden Betrachtung der Blick auf eine Personengruppe in der häuslichen Sterbebegleitung gerichtet werden, die in diesem Bereich neben dem sterbenden Menschen eine zentrale Rolle innehat und über deren Alltagserfahrungen, Herausforderungen und Problemstellungen in dieser existenziellen Lebensphase aus Sicht der Wissenschaft wenig bekannt ist - die Familienangehörigen, denen als "Pflegedienst der Nation" (vgl. Landtag NRW 2005, S. 103) eine gesellschaftlich herausragende Bedeutung zukommt.
Der Beitrag zielt daher darauf ab, die Situation und Erfahrungen von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung darzustellen. Basierend auf eigenen Forschungsergebnissen (Haslbeck 2004, 2005) und Analysen des Forschungsteams um Doris Schaeffer (Ewers/Schaeffer 2003; Schaeffer et al. 2003; Schaeffer 2005) wird zum einen der dynamische und komplexe Prozess illustriert, in dem sich Angehörige von zu Hause sterbenden Menschen befinden. Des Weiteren werden anhand von exemplarischen Beispielen Prioritäten beziehungsweise Bewältigungsstrategien in der häuslichen Sterbebegleitung beschrieben und ausgewählte Erfahrungen der Familienangehörigen mit palliativen Versorgungsstrukturen dargestellt. Daran anknüpfend werden abschließend Problemstellungen beziehungsweise Herausforderungen für die häusliche Palliativpflege und -versorgung diskutiert.
Die Situation von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung
Die Erosion familialer Beziehungen und die Individualisierungsprozesse in der Gesellschaft lassen das traditionelle Versorgungsmodell zunehmend bröckeln (Gronemeyer et al. 2004), weswegen immer weniger Familien in der Lage sind, sich um hilfs- und pflegebedürftige Angehörige zu kümmern und ferner auch sterbende Familienmitglieder zu begleiten. Demgegenüber wird von den meisten Menschen am Ende ihres Lebens der Wunsch geäußert, in einer vertrauten und damit meistens häuslichen Umgebung sterben zu können, oft assoziiert mit dem Wunsch vieler Angehöriger, die häusliche Sterbebegleitung zu gewährleisten (Deutscher Bundestag 2005; Glaser/Strauss 1968; Wakefield/Ashby 1993). Beider Ziel ist es, den Versorgungsverlauf in der letzten Lebensphase selbst zu bewältigen und zu gestalten, meist unterstützt durch professionelle Akteure (Glaser/Strauss 1968). Das Engagement der Familie wird dabei grundsätzlich als eine wesentliche Voraussetzung für die häusliche Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden angesehen (Pleschberger et al. 2002). Indem sich Angehörige zu Hause für ein sterbendes Familienmitglied engagieren, geraten sie oft in eine fast paradoxe Situation. Sie müssen einerseits ihren normalen und damit in der Regel beruflichen Alltag aufrechterhalten, gleichzeitig werden sie in einen Ausnahmezustand versetzt, der vielschichtig sowie dynamisch ist und in dem Veränderung die einzige Konstante zu sein scheint (Davies et al. 1995; Haslbeck 2005; Woods et al. 2000). Ein Informant beschreibt dies treffend als "Achterbahnfahrt". [ 4 ] Die Angehörigen nehmen im Prozess der Sterbebegleitung eine zentrale Position ein, indem sie die Verantwortung für das Wohlbefinden der sterbenden Person übernehmen und in deren Sinn Entscheidungen treffen, die sich an individuellen, sich oft verändernden Prioritäten und Strategien orientieren (Haslbeck 2005): Oberste Priorität stellt für die Familienangehörigen ein würdiges Sterben der ihnen nahe stehenden Person dar; sie soll in einer vertrauten Umgebung möglichst schmerzfrei sterben und dabei soweit als möglich noch am Familienleben teilnehmen; dies wird strategisch durch die bereits genannte Eigenständigkeit in der Versorgung des Sterbenden und die zentrale Verantwortungsübernahme seitens der Angehörigen erzielt. Aufgrund der Dynamik und der sich andauernd verändernden Situationen, verbunden mit einem kontinuierlichen körperlichen Verfall des Sterbenden, müssen sich Familienangehörige in der häuslichen Sterbebegleitung fortwährend auf neue und unbekannte Sachverhalte einstellen, was eine Informantin dahingehend umschreibt, dass sie sich wie ein "Chamäleon" gefühlt und entsprechend angepasst habe.
Palliative Versorgungsstrukturen und Familie - Erfahrungen, Problemstellungen und Herausforderungen
Im fortschreitenden Sterbeprozess lässt sich Alltagsnormalität kaum mehr aufrechterhalten und angesichts der Unausweichlichkeit des bevorstehenden Todes, meist begleitet durch akute Notfall- und Krisensituationen (Corbin/Strauss 2004), befindet sich die Familie gewissermaßen in einem leeren Raum, in dem nichts mehr beständig ist. Sie sehen sich einer Vielzahl von Aufgaben, Anforderungen und Tätigkeiten gegenüber, die es für den sterbenden Menschen zu erbringen gilt. Je weiter der Sterbeprozess fortschreitet, umso schwieriger wird es für die Angehörigen, die Versorgung zu gewährleisten, da sich der Zustand des sterbenden Menschen zunehmend verschlechtert (Glaser/Strauss 1968). Dann werden häufig palliative Versorgungsstrukturen unterstützend hinzugezogen - selten gezielt, sondern überwiegend unkoordiniert und zufällig in die Wege geleitet (Schaeffer et al. 2003).
Aus Sicht der Familie lassen sich hinsichtlich ambulanter Palliativstrukturen Ressourcen wie Problemstellungen identifizieren. Auf den erstgenannten Aspekt bezogen, spielen sie eine maßgebliche Rolle im Verlauf der häuslichen Sterbebegleitung, indem sie dem Sterbenden und seinem Umfeld durch Anleitung und Beratung zur Seite stehen. Die Angehörigen bekommen von den professionellen Akteuren erläutert, wie sie den teilweise "explosionsartigen Verfall" der sterbenden Person entsprechend einschätzen können oder erhalten Hinweise zu einer lindernden Versorgung. Insbesondere werden sie in ethisch-moralischen Aspekten unterstützt, beispielsweise wenn es um die Dosierung von Schmerzmitteln und deren Konsequenzen geht, wie es die Tochter eines Sterbenden schildert:
"Und als ich ihm jetzt über die Sonde die Schmerzmittel gab, wusste ich nie genau, wie viel gebe ich ihm. Kann es so weit gehen, dass ich ihn sogar töte? Oder gebe ich ihm so wenig, dass er diese Schmerzen weiterhin hat, das war für mich auch jeden Tag eine ganz schwierige Situation. Bis mir dann der Hausarzt dahingehend half, dass er sagte, Sie können ihm eigentlich gar nicht zu viel geben."
Mit der Unterstützung der professionellen Akteure bewahren beziehungsweise erlangen die betroffenen Familien wieder Autonomie in der Versorgung des Sterbenden. Sie bekommen Freiraum, um sich von der anstrengenden Sterbebegleitung zu erholen und um eigenen Interessen oder beruflichen Pflichten nachgehen zu können. Sie erhalten Impulse für eine Optimierung der Sterbebegleitung und selbige wird mit der professionellen Expertise ambulanter Palliativversorgung aufrechterhalten. Feste Bezugspersonen der ambulanten Dienste vermitteln Vertrauen und werden in Verbindung mit Anleitung sowie Beratung zu speziellen Versorgungsmaßnahmen als unterstützend erlebt, wie beispielsweise für die Ehefrau eines an Krebs erkrankten Patienten:
"Ich hatte das große Glück, dass ich zwei so Mädels [Anm.: die Pflegerinnen der Überleitungspflege] an der Hand hatte, die in der Lage war'n, mir Sachen beizubringen, ja die ich ja dann gerne auch angenommen habe."
Aus Perspektive der versorgenden Angehörigen werden professionelle Akteure als eine unterstützende Ressource in der häuslichen Sterbebegleitung erfahren, die - anders als teilweise im stationären Kontext - nicht die zentrale Position der Familie im zu Hause stattfindenden Sterbeprozess aufheben. Vielmehr spiegelt sich in den Erfahrungen der Familien wider, dass ambulante Versorgungsstrukturen eine Mitverantwortung in der häuslichen Sterbebegleitung tragen. Oder wie Schnell (2005) es präzisiert, "eine Verantwortung für die Verantwortung der Angehörigen gegenüber der sterbenden Person" haben (vgl. ebd., S. 15).
Neben den unterstützenden Aspekten ambulanter Palliativstrukturen lassen sich auch zentrale Problemstellungen aus Sicht der Familien als Nutzer der Versorgungsangebote benennen, die Schaeffer et al. (siehe bspw. Ewers/Schaeffer 2003; Schaeffer et al. 2003; Schaeffer 2005) herausgearbeitet haben. Im Verlauf schwerer und letztlich zum Tode führender Erkrankungen offenbaren sich an verschiedenen Stellen in der Gesundheitsversorgung Informations- und Kommunikationsdefizite, insbesondere was die Kommunikation mit den Angehörigen anbelangt. Ferner führen Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsprobleme dazu, dass Sterbende und ihre Familien sich in dieser vulnerablen Phase oft ziellos auf einem Irrweg durch das Versorgungswesen befinden. Dies legt den Schluss nahe, dass den Fragen der häuslichen Versorgung Sterbender bislang eine zu geringe Aufmerksamkeit im Gesundheitswesen beigemessen wird.
Notwendigkeit bedarfsgerechter Palliativversorgung und begrifflicher Präzision
Aus den Aussagen von Familienangehörigen und aus den Ergebnissen der mit der häuslichen Sterbebegleitung befassten Studien kristallisiert sich die Notwendigkeit einer bedarfs- und bedürfnisgerechten Palliativversorgung im häuslichen Bereich heraus. Diesem Punkt wird mittlerweile eine hohe gesellschaftliche Relevanz eingeräumt und es wird auf politischer Ebene gefordert, strukturelle Verbesserungen und Neuerungen einzuführen, um die häusliche Sterbebegleitung nachhaltig zu stärken. So finden sich in den Empfehlungen der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" dringliche Hinweise unter anderem auf eine Karenzzeit für Angehörige zur Sterbebegleitung, Verbesserung der ambulanten Pflege am Lebensende und eine bessere Vernetzung vorhandener Strukturen (Deutscher Bundestag 2005). Die Notwendigkeit eines Ausbaus ambulanter pflegerischer Infrastrukturen und palliativer Dienstleistungen für eine menschenwürdige Versorgung unterstreicht auch der unlängst vorgelegte Abschlussbericht der nordrhein-westfälischen Enquete-Kommission (Landtag NRW 2005). Angesichts dieser tief greifenden und weit reichenden Herausforderungen ist es elementar, bei der zukünftigen Gestaltung von Versorgungsleistungen die zentrale und verantwortliche Rolle von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung verstärkt ins Auge zu fassen und zu berücksichtigen. Was die WHO-Position (1990) in der Konzeption von Palliative Care durch die Aussage, die Familie sei "unit of care" (vgl. ebd., S. 12), auf den Punkt bringt, gilt es hierzulande in der politischen Diskussion noch zu präzisieren. Von einer "Integration Angehöriger in die Pflege und Betreuung Sterbender zu Hause" (vgl. Deutscher Bundestag 2005, S. 32) zu sprechen, erscheint angesichts der geschilderten gewichtigen Position dieser Gruppe in der häuslichen Sterbebegleitung überdenkenswert.
Literatur beim Verfasser
Jörg W. Haslbeck, MScN
AG 6 Versorgungsforschung/Pflegewissenschaft
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
Postfach 100 131
33501 Bielefeld
E-Mail: joerg.haslbeck@uni-bielefeld.de
- Für eine ausführliche Darstellung des im Workshop behandelten Themas einschließlich der zitierten Literatur siehe Haslbeck, J./Schaeffer, D. (2006): Palliative Care und Familie. Unterstützungsbedürfnisse von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung. Krankendienst 2, 33-41.
- In diesem Zusammenhang wird von einem offenen Familienbegriff ausgegangen, bei dem die Sichtweise des sterbenden Menschen richtungweisend ist: Familie ist das, was dieser darunter versteht, und folglich sind diejenigen Personen als Familienmitglieder zu bezeichnen, die vom sterbenden Menschen dem Familiensystem zugeordnet werden und darin Versorgungsaufgaben wahrnehmen - also neben direkten Angehörigen auch Personen mit einem besonderen Näheverhältnis (Deutscher Bundestag 2005) zum Sterbenden.
- Als Abgrenzung gegenüber dem oft negativ assoziierten Begriff der "Sterbehilfe" wird hier der in der Hospiz- und Palliativbewegung gebräuchliche Begriff "Sterbebegleitung" verwendet und darunter die einfühlsame psychosoziale Begleitung eines sterbenden Menschen und seiner Angehörigen in der letzten Lebensphase verstanden (Jaspers/Schindler 2004; Student et al. 2004; WHO 2004).
- Kursiv wiedergegebene Textpassagen stellen Aussagen aus analysierten Fallverläufen (in: Haslbeck 2005) dar.
© Copyright Hinweis: Dieser Beitrag ist das Abstract zu dem Artikel von J. Haslbeck und D. Schaeffer "Palliative Care und Familie. Unterstützungsbedürfnisse von Angehörigen in der häuslichen Sterbebegleitung" in der Zeitschrift Krankendienst 2, 2006.
Wir danken der Redaktion für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
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