zum Seiteninhalt springen

Das Humanum ist unteilbar

Festvortrag von Prof. Dr. Hans Küng
bei der Veranstaltung "Perspektive stiften für Mensch, Ethik und Wissenschaft", 22. April 2004 im Haus Würth, Berlin

Inhalt

Einleitung

  1. Lebenssinn gleich Arbeit?
  2. Lebenssinn gleich Erlebnis?
  3. Nach welchen Maßstäben entscheiden?

Einleitung

Liebe Herr und Frau Würth,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

um es gleich zu Beginn meines Vortrags ehrlich auszusprechen: Ungezählte Vortragseinladungen habe ich in meinem Leben abgelehnt mit der schlichten, aber unwiderlegbaren Begründung: dafür bin ich nicht kompetent! Gerade für den Theologen, dem es sozusagen um Gott und die Welt geht, ist es angezeigt, sich der Grenzen seiner Kompetenz stets bewußt zu bleiben.

Sie verstehen schon, was ich Ihnen sagen möchte: Ich habe mir sehr wohl überlegt, ob ich diesen Vortrag für das IMEW, das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, für dessen Einladung ich natürlich sehr dankbar bin, nicht von vornherein wegen Inkompetenz ablehnen müßte. Wie soll gerade ich, der ich sieben Jahrzehnte lang nie eine schwere Krankheit hatte und bei allen Sorgen, Kämpfen und Tränen ein erfreulich unbehindertes Leben führen durfte, wie soll gerade ich zur Frage des Behindertseins etwas Kompetentes sagen können? Kann man da nur vom Hörensagen oder vom Sehen her reden?

Doch nun hat mich eine freundschaftliche Verbindung wie schon des öfteren daran gehindert, eine rein sachliche, eine allzu sachliche Entscheidung zu treffen. Ich konnte es Reinhold Würth, der neben seinen vielen anderen Ehrentiteln auch den eines Kurators unserer bescheidenen Stiftung Weltethos trägt, ich konnte es besonders auch seiner liebenswürdigen Frau Carmen, die in dieser Frage aufgrund des Schicksals ihres eigenen Kindes zutiefst persönlich engagiert ist, ich konnte diesen beiden lieben Freunden schwierig eine solche Bitte abschlagen.

Und ich habe es auch als Herausforderung ganz besonderer Art empfunden, die Frage des Menschseins in Verbindung mit dem Behindertsein durchzudenken: mir einmal zu überlegen, wie denn in einem gemeinsamen Menschheitsethos die Frage der wahren Menschlichkeit, die ja da im Zentrum steht, für das Behindertsein zu denken sei, ja, was Humanität für Behinderte bedeute. Denn eines war mir von vornherein klar: Was die Weltethos-Erklärung von Chicago 1993 über wahre Menschlichkeit, über Humanität sagt, die getragen sein soll von Gläubigen und Ungläubigen, von Angehörigen dieser oder jener Religion, Konfession oder Weltanschauung, das muß auch unbedingt für behinderte Menschen gelten.

Und etwas anderes, auch ganz Persönliches, war und ist mir in meinem eigenen Leben stets bewußt gewesen: "Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle". Wer gesund ist, sehe zu, daß er nicht erkranke. Wer unbehindert lebt, vergesse nicht, daß auch er plötzlich behindert sein könnte. Als ich im November letzten Jahres nach dem Empfang dieser Einladung an meinem Schreibtisch saß und über die Frage nachdachte, ob und was ich bei einer solchen Gelegenheit sagen könnte, rief mich ein bekannter Physiker Deutschlands an. Er, den ich als sehr vitalen Mann kannte, redete merkwürdig beklommen, so daß ich fragte, wie es ihm gehe. Nicht gut, sagte er. Völlig unerwartet sei auf sein Haus an einem Berghang, wie seit 100 Jahren nicht mehr, eine gewaltige Mure aus Geröll heruntergebrochen. Er saß draußen und konnte mit einem Sprung wenigstens sein Leben retten, wurde aber vom einstürzenden Dach seines Hauses heftig am Kopf verletzt. Es seien jetzt schon zwei Jahre her, und immer noch leide er an partieller Gesichtslähmung und könne die Augen nicht koordinieren. Sie kennen bestimmt auch Fälle, meine Damen und Herren, bei denen Ihnen durch den Kopf fuhr: So etwas könnte auch dich mal treffen. Und in der Tat sage ich jedesmal, wenn ich zum Skifahren weit hinauf in die Berge fahre, ein kleines Gebet, ich möge auch wieder heil herunterkommen. Als 30jähriger habe ich bei all meinen vielen Reisen gedacht, daß ich wohl kaum länger als 50 Jahre leben würde, weil doch irgendwann einmal - nicht nach Murphys Principle, aber nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung - etwas schiefgehen würde. Sie sehen, meine Damen und Herren, so ganz selbstverständlich nehme auch ich es nicht, daß ich gesund und unbehindert bin. Und insofern erfülle ich vielleicht doch eine indirekte Kompetenz für einen solchen Vortrag, weil ich mir meiner eigenen Gebrechlichkeit stets bewußt war und bin. Aber nun erwarten Sie von mir nicht, daß ich hier als Fachethiker auftrete, der zu den hier tangierten Problemen detaillierte Reflexionen aus der medizinischen Ethik oder aus der Bioethik beitragen möchte. Dafür sitzen hier im Publikum berufenere Spezialisten. Ich möchte bei dieser Gelegenheit lieber von den Grundfragen des Menschseins reden, vom Humanum und vor allem dem Sinn des Menschenlebens, den wir doch zweifellos auch für die behinderten Menschen bejahen.

Machen wir uns bewußt: Behindertsein ist wie Kranksein ein "normaler" Teil unseres Menschseins, gehört zum Menschsein dazu, wiewohl dies in unserer Leistungsgesellschaft immer wieder verdrängt wird. Weltweit leben einer UNESCO-Studie zufolge rund 600 Millionen Menschen mit Behinderungen, die Hälfte davon in Asien, zehn Prozent in Europa. Und wer heute noch gesund und uneingeschränkt leistungsfähig ist, kann, wie ich bereits andeutete, schon morgen behindert sein: durch Unfall, Krankheit oder aus anderen Gründen. Ein Großteil aller Behinderungen ist im Laufe eines Lebens erworben, also nicht durch Geburt von Anfang des Lebens gegeben.

So wird denn auch in den meisten Fällen die Konfrontation mit Behinderung als schwerer Schicksalsschlag erlebt, der das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen grundlegend verändert und sie nicht selten in Lebenskrisen stürzt, am Sinn ihres Lebens zweifeln läßt.

Ich möchte deshalb zunächst ganz grundsätzlich und radikal, an der Radix, der Wurzel ansetzen, und mit Ihnen über diesen Lebenssinn "meditieren". "Meditari" heißt eigentlich "ermessen", "geistig abmessen" und von daher "nachdenken", "nachsinnen", "Betrachtungen anstellen", die vielleicht den einen oder anderen neuen Blick auf diese schwierige Thematik eröffnen.

1. Lebenssinn gleich Arbeit?

Was ist der Sinn des Lebens: Für viele von uns aus der älteren Generation hat die Beantwortung dieser Frage lange Zeit wenig Schwierigkeiten gemacht. Warum? Ich bin selber Jahrgang 1928, und ich weiß, daß viele, die sich in diesen Jahren aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen haben, um dieses Jahr geboren wurden und ähnliche Chancen hatten. Wir waren gerade 20, als in Deutschland die Währungsreform erfolgte, die Grundlage für einen rasanten ökonomisch-sozialen Aufstieg. Man nannte das damals "Wirtschaftswunder". Aber es war bekanntlich kein "Wunder", sondern das Ergebnis einer neuen Konzeption von sozialer Marktwirtschaft und eines alle Welt erstaunenden Arbeitsdranges, Arbeitseifers, beinahe einer Arbeitsbesessenheit der Deutschen. Keine Frage: Wer im Schweiße seines Angesichts zunächst für das Überleben und dann fürs Besserleben sich abrackern mußte, der hatte mit seinen kurzfristigen Zielen einen unmittelbaren Sinn im Leben und litt normalerweise nicht unter Sinnkrisen.

In der Aufbauphase und Restauration der Industriegesellschaft nach 1945 stand deshalb die Arbeit ganz und gar im Zentrum des Lebens der Menschen. Seien wir ehrlich: nicht nur weil Arbeit zunächst zum Überleben und dann Besserleben unbedingt notwendig war, sondern auch weil viele der damals verantwortlichen Generation auf diese Weise unbequeme Fragen der Stunde Null, Fragen nach Schuld und Mitverantwortung an der beispiellosen politisch-moralischen Katastrophe Deutschlands, am leichtesten verdrängen konnten. Führer und Partei, Nation und Staat hatten ja lange genug Millionen einen Lebenssinn geliefert, und Millionen hatten dafür mit ihrem Leben bezahlt. Aber das war nun vorbei. Und was konnte jetzt stattdessen besser Lebenssinn bieten als die Arbeit, unermüdliche Arbeit; Freizeit war zweitrangig in dieser Arbeitsgesellschaft. Arbeit brachte nicht nur Lebenssicherung und steigenden Lebensstandard, sondern begründete auch ein neues Ethos, ein Ethos der Leistung und des Erfolgs. Ja, Arbeit garantierte geradezu einen neuen Lebenssinn: "Ich will meine Arbeit gut machen und es zu etwas bringen, für mich und meine Familie" - sozialer Aufstieg und Wohlstand. Jene Werkethik calvinistischer Provenienz, welche lange Zeit vor allem pietistische Familien im Schwabenland und im Ruhrgebiet ausgezeichnet hatte (wirtschaftlicher Erfolg als Zeichen göttlicher Auserwählung), wurde jetzt, in freilich säkularisierter Form, Allgemeingut, ja, eine neue Lebensphilosophie.

Und in der Tat: Soll es einen Lebenssinn geben ohne Arbeit? Lebenssinn etwa durch Nichtstun? Etwa nur durch Freizeit, Vergnügen, Ausleben? Oder durch möglichst weitgehenden Leistungsverzicht, durch Resignation und Fatalismus, gar durch Ausflippen oder die große Verweigerung - eine Versuchung des Aussteigens, die bei Überforderung manchmal auch Managern, Politikern, gar Wissenschaftlern verlockend erscheinen mag? Aber nein, auf diese Weise finde ich nicht zu mir selbst, finde ich vielleicht nur meine eigenen Untiefen, finde ich jedenfalls nicht den Sinn meines Lebens. Von jedem Menschen sind normalerweise Arbeit und Leistung gefordert.

Arbeit als planvolles, auf ein Ziel ausgerichtetes Tun (was wesentlich mehr ist als die physikalische Arbeit des Tieres oder der Maschine) charakterisiert nun einmal den Menschen. Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verloren, wie jeder bestätigen wird, der einmal selber arbeitslos war. Und was ich mir in meinem Leben erarbeitet und erworben habe, das hat nun einmal nicht wenig zu tun mit meinem Selbstwertgefühl. Wenn ich nämlich das Gefühl habe, meine Arbeit würde nicht entsprechend geschätzt (ob im Betrieb, in der Wissenschaft oder im Haushalt), so bedrückt, verletzt und schädigt das mein Selbst, vermindert das subjektiv und objektiv meinen Selbstwert. Und umgekehrt. Also doch die einfache Formel: "Arbeiten! Arbeiten!": das ist der Sinn des Lebens!?

Ein erster Kontrapunkt ist fällig: Lebenssinn gibt es keineswegs nur durch Arbeit! Das Menschenleben ist mehr als Arbeit. Arbeit ist ein wichtiges Element, ist aber nicht der Grund unseres Lebens. Unsere menschliche Tätigkeit umfaßt ja doch nicht nur Arbeit, sondern alles persönliche und familiäre Tun, alles soziale, politische und kulturelle Handeln, umfaßt nicht nur das Negotium, sondern auch das Otium: die Muße, die ja nicht mit Müßiggang, Trägheit und Faulheit gleichzusetzen ist, umfaßt auch Freizeit, Spiel, Musisches, Ruhe. Und wenn wir bei aller Arbeit nicht mehr zur Ruhe kommen, wenn wir die Arbeit, die Erwerbsarbeit vor allem, zum Selbstzweck machen, wenn es zu chronischer Angespanntheit, ja, Überangespanntheit kommt, wenn wir von Termin zu Termin hetzen und doch auf derselben Stelle treten: So erfahren wir auf diese Weise leicht in moderner Form das, was Paulus und Luther den "Fluch des Gesetzes" genannt haben. Wir seufzen dann unter dem "Gesetz der Arbeit": unter Leistungsdruck, Termindruck, Erfolgsdruck, Arbeitsdruck, dem viele Menschen oft nicht gewachsen sind.

Und ein zweiter Kontrapunkt ist hier angebracht mit Blick auf unseren Umgang mit Behinderung: Was ist mit jenen, die nur sehr eingeschränkt, oder die nie einer Erwerbstätigkeit nachgehen können? Was ist mit jenen, die ihr Leben lang auf Unterstützung, Hilfe, Betreuung angewiesen sind, die nicht einmal die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse - Ernährung, Toilettengang, Kommunikation, vom "aufrechten Gang" ganz zu schweigen - eigenständig befriedigen können? Drängt eine Gesellschaft, die Identität und Prestige eines Menschen vor allem über seine Leistung definiert, über das, was er im Laufe eines Lebens erarbeitet und geschaffen hat, nicht viele Menschen an den Rand: besonders jene, die dazu von vornherein gar nicht in der Lage sind?

Natürlich wissen wir alle, daß gerade in Deutschland in den letzten Jahrzehnten Immenses geleistet wurde und wird zur Betreuung und medizinischen Versorgung, zur gesellschaftlichen Integration von Behinderten. Gewiß ist die Rehabilitation, also die Restitution der ausgefallenen lebenswichtigen körpereigenen Funktionen ein wichtiges Kriterium, um zu wissen, ob eine Therapie sinnvoll bleibt, damit eine Operation oder eine Intensivtherapie nicht Selbstzweck wird, sondern Mittel zu einem menschenwürdigen Leben. Bei Todkranken soll der Arzt gewiß alles tun, um den Menschen zu heilen, nicht aber alles, um den Tod bei oft (trotz Palliativen) unzumutbaren Qualen um Stunden, Tage, ja Jahre künstlich-technisch hinauszuzögern; er soll vor allem nichts gegen Willen und Verfügung des Patienten tun. Dennoch darf in der Behindertenarbeit die Rehabilitierbarkeit, die Wieder-Eingliederungsfähigkeit in die Gesellschaft nicht ein derart dominierendes Kriterium sein, daß von ihm Förderung und Unterstützung abhängig gemacht werden. So wird allenthalben kritisiert, wie man mir berichtet hat, daß etwa Schulen für rein körperbehinderte Kinder personell und materiell besser ausgestattet sind, als Schulen für geistig Behinderte - aus welchem Grund auch immer.

Und was die Medizintechnik und die Biowissenschaften betrifft: Sie alle kennen die Diskussionen um die Ambivalenz wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Bei immer neuen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten müssen wir heute mehr denn je darauf achten, daß sensibel und verantwortungsvoll damit umgegangen wird. Keinesfalls dürfen damit einseitig Hoffnungen und Illusionen geweckt werden, die in praxi nicht zu erfüllen sind. Schon heute stellt sich ja die Frage, ob ein Embryonenforscher oder ein Forschungsinstitut eine kommerzielle Fortpflanzungstechnik entwickeln, die garantiert einwandfreie Embryonen fabriziert und den Ausschuß in den Müll wirft? Oder denken wir an die menschlich schwierigen und überaus komplexen Situationen bei der pränatalen Diagnostik sogenannter "Abnormalitäten". Extrempositionen helfen da nicht weiter, weder in die eine Richtung wie in die andere: Weder sollen irgendwelche kirchliche oder staatliche Organe der Frau die Pille, die künstliche Befruchtung oder die pränatale Diagnostik verbieten wollen; die moralische Bevormundung der Frauen muß aufhören. Noch darf fragwürdiger wissenschaftlich-technologischer Fortschritt, bei allem verständlichen Wunsch nach gesunden Kindern, das Darwinsche "Survival of the fittest" schon in den Mutterleib verlegen.

Gewiß, und damit möchte ich diesen ersten Gedankengang über Lebenssinn und Arbeit abschließen, ist für viele hier im Saal Leistung und Arbeit nicht ausschließlich das ganze Leben. Auch früher war es ja selbstverständlich, von Arbeit und Freizeit zu reden, heute aber spricht man sehr oft nur noch von Arbeit für Freizeit und sieht den ganzen Sinn des Lebens in der Freizeit und dem, was man da erlebt. Deshalb meine zweite Frage, die auch für unser Thema das Nachdenken lohnt: Liegt der Lebenssinn womöglich im Erlebnis?

2. Lebenssinn gleich Erlebnis?

Aus der Übergangsphase des Kulturkonflikts, ausgelöst von den 1968ern, entwickelte sich in den 80er und 90er Jahren eine dritte Phase der Nachkriegsentwicklung, die Soziologen als Erlebnisgesellschaft bezeichnen. Wir alle kennen sie: diese Gesellschaft, in der nicht mehr die Arbeit, sondern das immer neue Erleben im Zentrum steht. Niemand hat sie genauer empirisch untersucht und analysiert als der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze (Die Erlebnisgesellschaft). Das Erlebnis, führt er aus, ist vielfach Selbstzweck geworden. So vieles brauchen wir nicht und hätten es doch gerne. Ist es nicht so: Von neuer Garderobe bis zum neuen Auto ist uns der Erlebniswert oft wichtiger als der Gebrauchswert. Sinn des Lebens ist weniger die Arbeit als die Suche nach dem schönen Erlebnis und die, wie man heutzutage sagt, "Ästhetisierung" des Alltags: Alles soll gefälliger, schöner, auch spaßiger werden. Und: "Was Spaß macht, muß erlaubt sein!" Oder vornehmer ausgedrückt: "Hauptsache, ich bin glücklich!"

Kein Wunder, daß neben dem Arbeitsmarkt der Erlebnismarkt in dieser Gesellschaft zu einem beherrschenden Bereich unseres täglichen Lebens geworden ist, wo die Anbieter immer raffinierter, aber auch wir als die Konsumenten immer routinierter geworden sind. Längst haben wir uns an das ständig Neue gewöhnt. Nur mäßig interessiert mustern wir die immer neuen Erlebnisangebote: neue Moden, Trends und Gags, neue Informationen, Produkt- oder Verpackungsveränderungen, neue Fernsehserien, Schlager, Zeitschriften, Inszenierungen, neue Tourismusziele … Selbst unerhörte Provokationen regen uns nur wenig auf. Wahrhaftig, eine noch nie dagewesene Erlebnisdichte im Alltagsleben!

Also: "Erlebe Dein Leben!": ist dies der Sinn des Lebens? Viele arbeiten tatsächlich nur, um - nach der als langweilig empfundenen Arbeit - über die Geldmittel für noch mehr Erleben zu verfügen. Der meiste Small talk nicht nur im Friseursalon, sondern auch in Partys unserer "high society" dreht sich um Freizeit, Sport, Kalorien, Fernsehen, Neuanschaffungen, Urlaub und Reisen. Und - sind wir nun zufriedener? Nicht gerade. Daß auch heute noch kein Überfluß der Welt fähig ist, uns Menschen in unserem Erlebnishunger zufriedenzustellen, was demonstriert das mehr als unsere gegenwärtige Überflußgesellschaft, in der die Menschen paradoxerweise immer früher pensioniert werden, aber gleichzeitig immer länger arbeitsfähig und vergnügungsfähig bleiben. Diese Überflußgesellschaft bietet uns zwar alles, und ihre grandiose Werbung zeigt uns lauter glückliche und junge Gesichter. Aber ehrlich: Sind wir nun, die wir so viel erleben können, wirklich glücklicher als frühere Generationen und werden wir, ins Jugendliche verliebt, nicht doch älter und schließlich alt? Trotz eines ständig erweiterten und verbesserten Angebots an Reisen, Konsum und Unterhaltung. Ist die Folge solcher Erlebnisorientierung nicht allzu oft Freizeitstreß, Überforderung, ja Lebensfrust?

Die Zufriedenheitsforschung hat nämlich etwas Wichtiges zu Tage gebracht: Warum eigentlich sind wir Menschen subjektiv nur vorübergehend befriedigbar? Aus zwei Gründen: Einmal, weil das schöne Erlebnis, welcher Art auch immer, sich nur bedingt planen, sich nicht eigentlich "machen" läßt. Wer von uns hat es nicht erfahren? Oft endet das so gut Geplante mit einer Enttäuschung, und schon die zweite Fahrt zum selben Ferienort ist nicht mehr das große Erlebnis von dereinst. Und dann: Es übertrumpfen ja immer gleich wieder neue, bessere Angebote die früheren, lassen das Alte langweilig erscheinen und reizen so zu neuen Erlebnissen. Sonst würde ja unsere Angebotswirtschaft auch gar nicht funktionieren. Wir müssen rasch konsumieren, damit der nächste Produktschub erfolgen kann. Wir müssen also geradezu erlebnishungrig sein und bleiben, nie auf Dauer befriedigt. Auch wenn wir einen Moment der Erfüllung erleben, überfällt uns schon wieder die Frage, was denn nun als nächstes kommen soll.

Und auch hier ein Paradoxon: Je mehr wir uns an die Suche nach Befriedigung gewöhnt haben, umso weniger stellt sie sich ein. Und es ist nicht ein Theologe, sondern der genannte Soziologe Gerhard Schulze, der bezüglich unserer Erlebnisgesellschaft festgestellt hat: "Wochenende und Urlaub, aber auch Partnerbeziehung, Beruf und andere Lebensbereiche geraten unter einen Erwartungsdruck, der Enttäuschungen erzeugt. Je vorbehaltloser Erlebnisse zum Sinn des Lebens schlechthin gemacht werden, desto größer wird die Angst vor dem Ausbleiben von Erlebnissen …".

Deshalb noch weiter gefragt: Welches Menschenbild, welche Vorstellungen von erfülltem, glücklichem Leben werden in dieser Erlebnis- und Spaßgesellschaft transportiert? Wo hat da das scheinbar Unvollkommene seinen Platz, das Schwache, das vordergründig Nicht-Gelungene? Mit das Schwierigste, so hat mir die Mutter eines schwerbehinderten Kindes einmal erzählt, ist nicht das Leben mit der Behinderung als solcher. Das Schwierigste sind die Maßstäbe, die von außen, von der Gesellschaft an dieses Leben herangetragen werden: Jenes "falsche Mitleid", wie sie es nannte, das nicht solidarisch Hilfestellung und Begleitung anbietet, sondern das bedauert, daß ein solches behindertes Kind überhaupt geboren wurde.

Was macht uns Angst vor einem Leben mit Behinderung? Da sind zum einen die nicht mehr zu erfüllenden, einmal gesteckten Lebenspläne und Ziele. Und auch die Unsicherheit, wie ein solches vielfach kompliziertes Leben überhaupt zu bewerkstelligen ist. Und da ist zum anderen, ganz tief in uns, wohl auch die Angst vor dem Leiden überhaupt. Wünschen wir alle uns doch ein schmerzfreies, schönes, vitales Leben ohne Leid, das Spaß und Freude macht. Laufen wir aber nicht Gefahr, so die kritische Rückfrage an die Wissenschaft, diese Angst vor Krankheit und Behinderung zu instrumentalisieren? Medizinische Technik und therapeutische Praxis um jeden Preis, ohne zu fragen, ob sie den Betroffenen wirklich helfen? Solange wir selber für uns über Therapien und Medikamente entscheiden - so schwierig auch dies im Einzelfall sein mag -, haben wir das Wenigste zu befürchten. Und auf die persönliche Verantwortung des Menschen, die der leidende Mensch bis ins Sterben hinein keinem Arzt, Geistlichen oder Juristen abtreten kann, ist heute größtes Gewicht zu legen. Aber viele, sehr viele Menschen können diese nicht wahrnehmen. Deshalb müssen wir achtsam sein. Therapeutische Möglichkeiten dürfen nicht um der Machbarkeit des Machbaren Willen ausgeschöpft werden. Das Wohl des Einzelnen in einem umfassenden Sinn muß im Blick behalten werden.

Zu Recht warnt hier das IMEW in seiner Gründungserklärung: "Fast immer leiten die Biowissenschaften ihre ethischen Begründungen aus dem Leid und der Not behinderter und kranker Menschen und deren Angehöriger ab. Oft geschieht dies ohne wirkliche Kenntnis der Lebenssituation der betroffenen Menschen. Nicht selten wird die Angst vor Krankheit und Behinderung instrumentalisiert. Für die Frage, ob individuelle Not und individuelle Wünsche zum Maßstab für grundlegende Entscheidungen über die Anwendung von Techniken und Praktiken werden dürfen, die unser Menschenbild und unser Zusammenleben betreffen, bleibt kein Raum. Die Illusion von der leidensfreien Gesellschaft verstärkt den Trend zu einem auf Konkurrenz und Egoismus basierenden Menschenbild. Sie verdecken auch die Vermarktungs- und Prestigeinteressen der Industrie und der Forschungsinstitutionen."

Damit komme ich, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, zu meiner dritten Frage: zur zentralen Frage der Kriterien und Maßstäbe. Um es mit dem berühmten Evolutionsbiologen Hubert Markl zu sagen: "Woher nehmen wir diese Maßstäbe, die uns leiten und wo nötig in die Schranken verweisen?" Die Naturwissenschaft, so der Biologe, "kann uns solche Normen nicht lehren". Zu Recht warnt Markl einerseits vor einem antiwissenschaftlichen Fundamentalismus, andererseits aber auch vor einer "wertfreien" Wissenschaft, die uns nicht mehr sagt, "warum wir denn wissen sollten, was sie uns lehrt". Deshalb die Frage:

3. Nach welchen Maßstäben entscheiden?

Ich kann hier nicht im einzelnen wiederholen, was ich alles schon 1990 in meinem Buch "Projekt Weltethos" zur Notwendigkeit von Ethik und zur Begründung von Werten und Normen geschrieben habe: Immer deutlicher wurde mir, daß die eine Welt in der wir leben, nur dann eine Chance zum Überleben hat, wenn in ihr nicht länger Räume unterschiedlicher, widersprüchlicher und gar sich bekämpfender Ethiken existieren. Diese eine Welt, so schließlich meine Überzeugung, braucht das eine Grundethos; diese eine Weltgesellschaft braucht gewiß keine Einheitsreligon und Einheitsideologie, wohl aber einige verbindende und verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele: ein Weltethos.

Mehr denn je bin ich davon überzeugt: Es braucht eine Selbstverpflichtung auf ein Ethos, eine Unterscheidung zwischen dem, was man auf keinen Fall tun darf und dem, was man tun darf und unter Umständen unbedingt soll, eine Unterscheidung des Guten und Bösen für das wahrhaft Menschliche, für mehr Menschlichkeit. Auf diesem Weg zu mehr Menschlichkeit wollen ethische Standards nicht Hürden und Fesseln sein, sondern Hilfen und Stützen: Leitlinien und Leitplanken, damit wir als Individuen, aber auch unsere Familien, Schulen, Betriebe, Banken, Gemeinden nicht Schaden leiden, irregehen und abstürzen. Politik und Ethos, Wirtschaft und Ethos, Wissenschaft und Ethos schließen sich nicht aus. Vielmehr zeigen die neuesten negativen Erfahrungen, ja, Skandale bis hin zu führenden Vertretern der Finanzwelt, daß Wirtschaft und Politik, aber auch Wissenschaft und Kultur ohne Ethos auf die Dauer, langfristig, nicht erfolgreich funktionieren können.

Was damals in den 1990er Jahren noch als kühne Utopie schien, wurde seither mehr und mehr bestätigt: Wir brauchen ein solches verbindendes und verbindliches Ethos nicht zu erfinden, es gibt es bereits in den großen Religionen und Kulturen. Wir müssen es uns nur entdecken und ins Bewußtsein rufen: Da ist zunächst jene schon von Konfuzius viele hundert Jahre vor Christus geprägte und in allen großen religiösen und philosophischen Traditionen bekannte, aber keineswegs selbstverständliche Goldene Regel: "Was du selber nicht wünschest, das tue auch nicht anderen". So elementar diese Regel ist, so hilfreich ist sie bei der Entscheidung in manchen schwierigen Situationen.

Abgestützt wird die Goldene Regel durch die gar nicht tautologische Humanitätsregel: "Jeder Mensch - ob jung oder alt, Mann oder Frau, Christ, Jude oder Muslima, Behinderter oder Nichtbehinderte - soll menschlich und nicht unmenschlich behandelt werden. Menschlichkeit, das Human, ist unteilbar!"

Doch was heißt Menschlichkeit? Diese Forderung wurde schon in der Weltethos-Erklärung des Parlaments der Weltreligionen von Chicago 1993 mit vier unverrückbaren Weisungen konkretisiert, die sich seit Jahrtausenden in allen großen Weltkulturen finden und die auch heute von ungebrochener Aktualität sind:

1.) Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben: "Nicht töten - aber auch nicht foltern, quälen, verletzen" - oder positiv: "Hab Ehrfurcht vor dem Leben!"

Für unseren Umgang mit Behinderten kann dies heißen: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, immer mit Rücksicht auf die anderen. Niemand hat das Recht, Behinderte wie unmündige oder zweitklassige Menschen oder nicht-vollwertige Bürger zu betrachten oder zu behandeln, gar ihr Existenzrecht zu bezweifeln.

2.) Die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung: "Nicht stehlen - aber auch nicht ausbeuten, bestechen, korrumpieren" oder positiv: "Handle ehrlich und fair!"

Für unseren Umgang mit Behinderten kann dies heißen: Es ist unfair und ungerecht Menschen wegen ihrer Behinderung um Lebensmöglichkeiten zu betrügen oder ihnen diese etwa mit absurden bürokratischen Hürden vorzuenthalten.

3.) Die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit: "Nicht lügen - aber auch nicht täuschen, fälschen, manipulieren" - oder positiv: "Rede und handle wahrhaftig!"

Für unseren Umgang mit Behinderten kann dies heißen: Seien wir ehrlich: Die leidfreie Gesellschaft ist nicht möglich. Bei allem berechtigten und wichtigen Streben nach Heil- und Gesundsein dürfen wir nicht trennen zwischen nützlichen und unnützen Mitgliedern der Gesellschaft.

4.) Und schließlich die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau: "Nicht Sexualität mißbrauchen - aber auch nicht den Partner überhaupt mißbrauchen, erniedrigen, entwürdigen" - oder positiv: "Respektiert und liebet einander!"

Für unseren Umgang mit Behinderten kann dies heißen: Der partnerschaftliche Umgang darf an den Grenzen zwischen Nichtbehinderten und Behinderten nicht halt machen. Partnerschaftlicher solidarischer Umgang darf kein Geschenk sein, sondern ist eine Notwendigkeit, ohne die eine wahrhaft menschliche, humane Gesellschaft nicht gelingen kann.

Zur Frage der Begründung von Normen habe ich nicht Stellung genommen. Nicht nur aus Zeitgründen, sondern auch weil sie notwendigerweise sehr verschieden ausfallen wird, ob man Standards religiös begründet oder rein säkular. Die emotionale und spirituelle Dimension ist verschieden für einen Agnostiker oder einen Christen, für einen Juden, Muslim, Buddhisten oder Hindu. Aber wie immer man diese elementaren Standards begründet, sie sollen unbedingt eingehalten werden. Denn, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer: Menschlichkeit, das Humanum, ist unteilbar.

Ich darf schließen mit den Worten, mit denen UN-Generalsekretär Kofi Annan die Dritte Weltethos-Rede im Festsaal der Universität Tübingen am 12. Dezember 2003 geschlossen hat:

"Menschenrechte und universelle Werte sind nahezu synonyme Begriffe - solange wir verstehen, dass Rechte nicht in einem Vakuum existieren. Sie ziehen entsprechende Pflichten nach sich, und Pflichten sind nur dort sinnvoll, wo sie erfüllt werden können. ›Sollen setzt Können voraus.‹"

Wie lautet also die Antwort auf die provokative Frage, die ich als Titel meiner Rede gewählt habe? Gibt es noch universelle Werte? Ja, es gibt sie, aber wir dürfen sie nicht für selbstverständlich halten.

Sie müssen sorgfältig durchdacht, sie müssen verteidigt, und sie müssen gestärkt werden.
Und wir müssen in uns selbst den Willen finden, nach den Werten zu leben, die wir verkünden - in unserem Privatleben, in unseren lokalen und nationalen Gemeinwesen und in der Welt.

© Copyright: Hans Küng
Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung

Die Deutsche Bibliothek hat die Netzpublikation "Das Humanum ist unteilbar" archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar.

Weitere Artikel:

Volltexte

Seitenanfang


© 2008 | IMEW - Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft
www.imew.de