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Freunde & Förderer

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Testimonial Rehmann-Sutter

Christoph Rehmann-Sutter, Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
Christoph Rehmann-Sutter, Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften
Das IMEW arbeitet an einer wahrnehmungsfähigen biomedizinischen Ethik ... (mehr)

Buchbesprechung: Transplantationsmedizin von Alexandra Manzei und Werner Schneider

Alexandra Manzei, Werner Schneider
Transplantationsmedizin
Kulturelles Wissen und gesellschaftliche Praxis

Agenda Verlag, Münster 2006, 254 Seiten

Alexandra Manzei und Werner Schneider zeigen in diesem Sammelband, dass Transplantationsmedizin aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht nur als eine institutionalisierte medizinische Technik zu verstehen ist. Vielmehr wird sie als eine gesellschaftliche Praxis aufgefasst, die auf bestimmten historischen und kulturellen Voraussetzungen beruht und die durch unterschiedliche Erfahrungen, Wissensbestände und Perspektiven der an ihr beteiligten Akteure geprägt wird. Dies an konkreten Beispielen zu veranschaulichen, ist das primäre Ziel der Publikation, die sich in zwei Hauptteile gliedert.

Im ersten Teil, "Kulturelles Wissen - Institutionelle Praxis: Historische und ländervergleichende Perspektiven", werden exemplarische Einblicke in die Situation der Transplantationsmedizin in verschiedenen Ländern gegeben, wie den USA in Relation zu Japan, Spanien, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Es wird kein systematischer Ländervergleich vollzogen, doch regt die Anordnung der Beiträge dazu an, länderspezifische Ausprägungen wiederholt thematisierter Aspekte miteinander in Beziehung zu setzen, wie etwa die Bereitschaft zur Organspende, die Art und Weise, sie gesellschaftlich zu thematisieren und rechtliche Regulierungen.

Der erste Aufsatz des Japan- und Religionswissenschaftlers William R. LaFleur befasst sich mit der christlichen Vorstellung der Nächstenliebe, dem Agape. In den 1960er Jahren wurde sie in den USA erfolgreich mit der Organspende verknüpft, die somit als Ausdruck der höchsten Form des menschlichen Altruismus entworfen wurde. Da dieser Altruismus aufgrund der Anonymität der Spendenden auf ein abstraktes Gegenüber gerichtet ist, geht mit ihm notwendigerweise auch ein Zurückstellen konkreter menschlicher Beziehungen einher. LaFleur zeigt, wie hingegen in Japan dieses Zurückstellen, vor allem unter der christlichen Bevölkerung, als mit Vorstellungen zwischenmenschlicher Liebe unvereinbar aufgefasst wurde. Die Verbindung von Nächstenliebe und Organspende konnte in diesem Kontext nicht funktionieren.

Die Transplantationsmedizin ist auf die Bereitschaft von Menschen zur Organspende angewiesen. Für sie erweisen sich kulturelle Auffassungen von Individualität, Familie, Solidarität aber auch nationaler Zugehörigkeit als zentral. Welche Bedeutung diese Begriffe für die spanische Transplantationsmedizin haben, zeigt der Soziologe und Anthropologe David Casado-Neira. Den herausragenden Erfolg des spanischen Transplantationssystems führt er auf das enge Zusammenspiel zurück, zwischen einer anhaltenden zentralen Bedeutung der Familie in der spanischen Gesellschaft und der speziellen Ausrichtung der Transplantationsmedizin: Diese versteht den menschlichen Körper nicht nur als individuellen Körper, der geheilt werden muss, sondern vor allem als sozialen Körper, der in den Zusammenhang von Verwandten und Freunden eingebettet ist. Blut- und Gewebespenden sind in Spanien hingegen wesentlich stärker auf das Individuum ausgerichtet.

Diese beiden Kapitel verdeutlichen exemplarisch die Kernaussage des Buches: Die kulturelle Realität der Organspendemedizin ist relativ. Ihre Praxis und ihr Erfolg oder auch Misserfolg beruhen auf jeweils spezifischen Voraussetzungen, die sich nicht einfach von einem Kontext auf den anderen übertragen lassen.

Eine der wichtigsten Herausforderungen der Organtransplantationspraxis stellt nach wie vor die Definition des Hirntods dar. So gibt die Natur keine eindeutige Grenzziehung zwischen noch leben oder bereits verstorben vor. Selbst mit genauen Messmethoden wie dem Elektroenzephalogramm (EEG) oder der zerebralen Angiographie ist eine unbestreitbare Todesbestimmung nicht möglich. Deren Aushandlung obliegt letztendlich dem Menschen, wie der Beitrag der Medizinhistorikerin und Medizinethikerin Claudia Wiesemann "Kontingente Praktiken: Das Hirntod-Konzept aus historischer Perspektive" veranschaulicht. An ihren Ausführungen wird damit besonders ersichtlich, was der Klappentext als den Anspruch des Buches formuliert: zu zeigen, dass selbst "in der naturwissenschaftlich-technisch dominierten Transplantationsmedizin deutungs- und handlungsrelevante alternative Wissensformen und Erfahrungen zu beachten sind

Im zweiten Teil der Publikation "Erfahrungen - Praxis - Wissen: Perspektiven im Feld" geht es um unterschiedliche Wissensformen, Alltags- und Körpererfahrungen, die in der transplantationsmedizinischen Praxis vor allem in Deutschland zusammentreffen. Die sinnliche Wahrnehmung des Hirntoten einerseits und die biomedizinische Definition des Hirntodes andererseits, werden oftmals widersprüchlich wahrgenommen: Durch die künstliche Beatmung behält der Hirntote eine fühlbar warme Körpertemperatur, einen rosigen Teint und der Brustkorb hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Während er nach biomedizinischer Definition als tot gilt, können diese Zeichen unter anderen Blickwinkeln als "Lebenszeichen" gedeutet werden.

Entgegen einer am Defekt orientierten medizinischen Sichtweise plädiert der Neurochirurg Andreas Zieger für ein "beziehungsmedizinisch inspiriertes Neuverständnis des vielschichtigen Körperausdrucks des Hirntoten". Der Hirntote sei zwar nicht in der Lage verbal zu kommunizieren, gebe aber Zeichen von sich, die auf einer intuitiven Kommunikationsebene oder mit Hilfe eines impliziten Körperwissens verstanden werden könnten. Ein solcher Zugang berücksichtige die Komplexität des individuellen Sterbeprozesses und rücke ab von einer Definition des Hirntoten als "Leiche". Nur so werde eine empathische Sterbebegleitung des Hirntoten möglich, wie sie auch "normal" Sterbenden zukomme.

Die Diskrepanz zwischen herkömmlicher biomedizinischer Todesdefinition und der sinnlichen Wahrnehmung des Hirntoten kann auch für das betreuende Klinikpersonal eine ethische Konfliktsituation bedeuten: PflegerInnen müssen sich den Anweisungen ihrer Vorgesetzen fügen und die Beatmungsmaschine abstellen, während sie eventuell selbst die Einschätzung nicht teilen, dass der Hirntote als bereits tot anzusehen ist. Mit Einzelheiten dieser Thematik befassen sich unter der Überschrift "Qualitative und quantitative Interviews mit Pflegenden im Bereich der Transplantationsmedizin/Intensivmedizin" Joachim Conrad und Maria Feuerhack, die beide aus dem Bereich der Pflegewissenschaften kommen.

Damit sind nur einige Beiträge der Publikation hervorgehoben. Ihre Stärke liegt darin, die kulturelle Realität der Transplantationsmedizin in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität sichtbar zu machen. Es wäre zu viel verlangt, von den AutorInnen mögliche Ansatzpunkte für konkrete Veränderungen in der transplantationsmedizinischen Praxis zu erwarten. Für eine solche Erarbeitung müssten weitere Studien geleistet und vertiefende interdisziplinäre Dialoge geführt werden. Mit diesem Sammelband, der sich an Sozial- und Kulturwissenschaftler, Transplantationsmedizinische Praktiker und politisch relevante Interessengruppen gleichermaßen richtet, liegt hierzu eine erste wichtige Anregung vor.

Cordula Mock, Mai 2007

© Copyright: IMEW


Eine kürzere Version dieser Rezension wurde in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse, Heft Nr. 167, Mai/Juni 2007 veröffentlicht, nachzulesen im Online-Dokument "Buchbesprechungen": Download im PDF-Format, 177 KB, externer Link

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