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Freunde & Förderer

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Testimonial Berghöfer

Jochen Berghöfer
Jochen Berghöfer, Geschäftsführung Haus Mignon – Institut für Heilpädagogik, Pädagogik und Frühförderung, Hamburg
Die Vision, ein Institut zu gründen mit der Aufgabenstellung, "die Perspektive von Menschen mit Behinderung ... (mehr)

Buchbesprechung: Tödliches Mitleid von Klaus Dörner

Dörner, Klaus
Tödliches Mitleid. Zur Sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens.
Mit Beiträgen von Fredi Saal und Rudolf Krämer

Neuausgabe, Paranus-Verlag, Neumünster 2002, 236 Seiten

Das Buch "Tödliches Mitleid" von Klaus Dörner, 1988 zum ersten Mal erschienen, wurde wieder neu aufgelegt. Es analysiert die Grundlagen und die tödlichen Folgen der Medizinisierung der Sozialen Frage. Wer mit dem von Primo Levi beschrieben "Pannwitz-Blick" schaut, betrachtet andere nur nach dem Kriterium der Verwertbarkeit - und spricht ihnen das Menschsein ab, wenn sie nicht nützlich sind. Wenn durch Heilung Nützlichkeit wieder hergestellt werden kann, ist dies nach dieser Logik gut. Wer aber nicht heilbar ist, ist gefährdet, weil ihn das "Tödliche Mitleid" trifft.

Der Pannwitz-Blick, der andere zum "Dingsda" macht, sie aus der Gemeinschaft ausschließt und ihnen das Lebensrecht abspricht, existierte, so Dörner, schon immer, allerdings gab es ihn in Auschwitz in besonderer "Absolutheit, Reinheit und Selbstverständlichkeit".

1924 schrieb Forel: "Als Ärzte haben wir leider die Pflicht, das Leben der Idioten, der Entarteten, der geborenen Verbrecher und der Irrsinnigen so lange wie möglich zu erhalten; wir sind sogar verpflichtet, viele derselben, die sich selbst töten möchten, daran zu hindern."

Und der Psychiater Hermann Simon verband 1932 tödliches Mitleid mit einer industriellen Logik: "Der Einzelne ist für die Gemeinschaft das wert, was er für sie leistet, und zwar über seinen eigenen unmittelbaren Unterhalt hinaus. … Ballast-Existenzen sind die 'Minderwertigen' aller Art, welche die Lasten ihres eigenen Daseins mehr oder weniger der Gemeinschaft überlassen, an den Rechten der Gemeinsamkeit aber teilnehmen. Die Ausdrücke 'Ballast-Existenzen' und Minderwertigkeit dürfen in diesem Zusammenhang nicht mit einem moralisierenden Beiklang gebraucht werden; sie bezeichnen nur eine objektiv vorhandene, sachliche Bewertung, gewissermaßen im kaufmännischen Sinne als 'Passivum der Gemeinschaftsbilanz…'." Weiter führt er aus: "Es wird wieder gestorben werden müssen. Es fragt sich nur, welche Millionen sterben müssen. Der Tod ist und bleibt auch eine Erlösung."

Die Nationalsozialisten haben diese Ideen konsequent verfolgt. Die industrielle Gesellschaft sollte mit ausschließlich leidensfreien Menschen verwirklicht werden. Ihre Methode: "ein industrieller Vernichtungskrieg gegen die inneren Feinde…".

Das Bundesentschädigungsgesetz für die Opfer des Nationalsozialismus schloss übrigens die Gruppen der Sozialen Frage von der Entschädigung aus. Ein Umdenken fand erst 1987 statt.

Zur aktuellen Situation führt Dörner aus: "Und wir heute? Wenn nicht alles täuscht, wird sich die soziale Frage in der nächsten Zeit für uns ein weiteres Mal zuspitzen. Und wenn nicht alles täuscht, ist in uns allen zumindest als Möglichkeit das, was ich in entscheidender Absicht der Nationalsozialisten beschrieben habe, in Logik und Ethik weiterhin lebendig." Gleichzeitig beschreibt er aber auch, dass in jedem von uns auch die Logik und Ethik der Solidarität steckt.

Die Analyse von 1988 wird ergänzt durch einen Brief von Fredi Saal, den er nach Erscheinen der ersten Auflage an Klaus Dörner schrieb. U.a. merkt er an: "Dieses Zur-Last-Fallen sehe ich sogar als Aufgabe des Behinderten an, damit den anderen immer wieder die Zerbrechlichkeit des Menschseins an sich zu Bewusstsein kommt. Das liegt eigentlich auch im Interesse des "Belästigten" selbst. Nur merkt er es meistens zu spät." Außerdem wurde in das Buch ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Beitrag des Juristen Krämers aufgenommen, der selber blind, 1932, in der Zeitschrift des Reichsdeutschen Blindenverbandes eine scharfe und scharfsinnige Stellungnahme gegen Eugenik verfasst und begründet, wie untauglich Sterilisation als Präventionsmittel sei, um den Anteil der blinden Menschen an der Bevölkerung zu senken.

Das Buch schließt mit aktuellen Anmerkungen vom Mai 2002. Auch das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft hat dort seinen Platz.

Katrin Grüber, August 2002

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