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Buchbesprechung: Genetische Diskriminierung und die Fallstricke der Kritik

Thomas Lemke
Die Polizei der Gene.
Formen und Felder genetischer Diskriminierung.

Campus, Frankfurt am Main 2006, 173 Seiten

Inhalt

Krankheit als Irrtum

"Genetische Diskriminierung" - Kritik eines Konzepts

Zum Beispiel Deutschland

Gefährdung von Grundrechten

Fallstricke der Kritik

Thomas Lemkes 2006 im Campus Verlag erschienene Studie "Die Polizei der Gene" ist eines jener (zu) seltenen sozialwissenschaftlichen Bücher, die empirische Untersuchungen mit anspruchsvollen theoretischen Konzepten und einem deutlichen politischen Anspruch verbinden. Das Buch beruht zum Teil auf früheren Veröffentlichungen des Autors, die hier in einen umfassenden argumentativen Rahmen gestellt werden.

Lemkes Thema ist die sogenannte "Genetische Diskriminierung", ein Begriff, unter dem in der wissenschaftlichen Literatur zumeist eine "Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund vermuteter oder tatsächlicher genetischer Besonderheiten" verstanden wird, die "strikt von der Diskriminierung Behinderter und (chronisch) Kranker" zu unterscheiden sei (Lemke 2006, S. 59 - alle im Text verwendeten Zitate stammen aus diesem Buch). Betroffen davon können beispielsweise Menschen sein, die als heterozygote Träger oder Trägerinnen einer Erbkrankheit zwar nicht selbst erkranken, aber die Erbanlage unter Umständen an ihre Kinder weitergeben, oder Menschen, deren Großeltern oder Eltern von der seltenen, meist erst in der zweiten Lebenshälfte ausbrechenden Erbkrankheit Chorea Huntington [ Begriffserklärung ] betroffen sind. Ohne die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes vor solcher Diskriminierung in Zweifel zu ziehen, zeigt Lemke auf theoretischer und empirischer Ebene, die Schwächen, Lücken und paradoxen Effekte, die die derzeitigen Ansätze zur Beseitigung genetischer Diskriminierung mit sich bringen.

"Krankheit als Irrtum"

"Die Polizei der Gene" gliedert sich in sechs Kapitel, die jeweils unterschiedlichen Aspekten der Thematik gewidmet sind. Einführend beschreibt Lemke, wie sich - erst spät im 20. Jahrhundert - mit der "Genetisierung der Medizin" die Vorstellung von "Krankheit als Irrtum", als Fehler im sogenannten ‚Bauplan des Lebens' ein neues Denkkonzept durchsetzen konnte. Als eine zentrale Voraussetzung dafür benennt Lemke die "Ausweitung und Neudefinition des Konzepts der genetischen Krankheit" (24): die Genetik wurde damit in die Lage versetzt, nicht mehr nur für (seltene) Erbkrankheiten, sondern "für die Genese und Manifestation von Krankheiten überhaupt zuständig" (27) zu sein. Die Bedeutung des Begriffs "genetische Krankheit" wurde dabei einerseits auch auf multifaktorielle Krankheiten - also solche bei denen unterschiedliche genetische und nicht-genetische Faktoren eine Rolle spielen - ausgedehnt, andererseits durch prädiktive Genuntersuchungen von wahrnehmbaren Krankheitssymptomen abgekoppelt - als genetisch krank können nun auch Menschen ohne jedes Krankheitssymptom gelten, die auf Grund ihres Genotyps wahrscheinlich irgendwann im Lauf des Lebens erkranken werden.

"Genetische Diskriminierung" - Kritik eines Konzepts

Im zweiten Kapitel steigt Lemke praktisch in das Thema der "Genetischen Diskriminierung" ein. Er gibt einen Überblick über eine Reihe von empirischen Studien zu Diskriminierungserfahrungen, über die Rechtslage im internationalen Bereich sowie den in Deutschland 2004 diskutierten Entwurf des Gesundheitsministeriums für ein Gendiagnostikgesetz. Lemke wirft die Frage nach der Notwendigkeit eines speziellen, gegen "genetische Diskriminierung" gerichteten Antidiskriminierungsgesetzes auf - eine Fragestellung, die im nächsten Kapitel an Hand seiner Problematisierung der vorliegenden Analysen "genetischer Diskriminierung" noch einmal detaillierter gefasst wird.

Lemke identifiziert vier Problemkomplexe, die auf praktischer und theoretischer Ebene die Aussagekraft und Vergleichbarkeit der vorliegenden Untersuchungen zu "Genetischer Diskriminierung" schmälern: die unklare Verwendung des Begriffs "genetische Diskriminierung"; empirische Lücken, die sich aus einem zu engen Blickwinkel ergeben; die Annahme einer "Sonderstellung" genetischer Daten und schließlich die normativen Schwierigkeiten die das Konzept der "genetischen Diskriminierung" aufwerfe.

1.) Was heißt "Genetische Diskriminierung"?

In vorliegenden Studien zur "genetische Diskriminierung" werde, so Lemke, der Begriff selbst unklar verwendet - manche Autoren und Autorinnen arbeiteten mit einem engen Begriff, der etwa Diskriminierung auf Grund sichtbarer Krankheitssymptome nicht als "genetische" Diskriminierung auffasse (und kämen damit zu dem Ergebnis, dass es kaum Fälle "genetischer" Diskriminierung gäbe), andere mit einem weiteren Begriff, der auch Erkrankte einschließe. Zudem sei unklar was unter "Diskriminierung" zu verstehen sei - handelt es sich dabei um eine "ungerechtfertigte Ungleichbehandlung" oder (etwa im Versicherungsbereich) um eine "sachlich begründete Risikodifferenzierung"? Wesentlich an diesen Überlegungen ist, dass diese ‚Definitionsfragen' nicht nur für die Wissenschaft von Interesse sind, sondern auch hohe rechtspraktische und gesellschaftliche Bedeutung haben.

2.) Empirische Lücken

Als zweiten wichtigen Kritikpunkt nennt Lemke empirische Lücken der vorliegenden Untersuchungen, die sich aus der Fokussierung auf institutionelle Akteure (Arbeitsplatz, Versicherungen) und die damit einhergehende Vernachlässigung von Diskriminierungserfahrungen im sozialen Umfeld, im Familien- oder Freundeskreis ergeben. Eine zweite Lücke bestehe in der Ausblendung "indirekter Diskriminierungsformen", das heißt jener "sozialen Unwerturteile, Vorurteilsstrukturen und Formen von Missachtung, die an alle Gesellschaftsmitglieder adressiert sind" (63). Nur mit einem erweiterten Diskriminierungsbegriff sei es zudem möglich die (zum Beispiel über den Bereich von Schwangerschaft und Pränataler Diagnostik vermittelte) Koppelung "genetischer" an andere - etwa sexistische und rassistische - Diskriminierungsformen zu untersuchen. Praktisch relevant ist diese Erweiterung der Perspektive nicht zuletzt deshalb, weil sie die Notwendigkeit von über Gesetze hinausgehenden Strategien gegen Diskriminierung deutlich macht, "die auf ein anderes soziale Verhältnis zu Krankheit und Behinderung zielen und mit der kulturellen Dominanz genetischer Erklärungsmuster brechen" (63).

3.) Besondere Daten?

Lemkes dritter Kritikpunkt ist auf noch grundsätzlicherer Ebene angesiedelt und zielt auf die Sonderstellung genetischer gegenüber anderer medizinischer Information, die nach Lemkes Einschätzung weder was die aus den Genen gewonnenen Kenntnisse, noch was deren normative Bewertung betrifft, haltbar sei. Punkt für Punkt widerlegt Lemke die üblicherweise vorgebrachten Begründungen für die besondere Bedeutung genetischer Information, um schließlich festzuhalten: "Gene sind das Produkt von Interaktionen zwischen einer technologischen Apparatur und kulturellen Deutungspraktiken, sie sind nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat eines Zusammentreffens von experimentellen Anordnungen, theoretischen Vorannahmen und diskursiven Praktiken." (70) Gene - so lässt sich aus dieser These ableiten - sind ein medizinisches Erklärungsmodell, das den um vieles komplexeren menschlichen Individuen, die sich zudem stets im Austausch mit ihrer Umwelt befinden, übergestülpt wird. Ihre "Sonderstellung" als Träger einer ‚unwandelbaren inneren Wahrheit' erhalten sie auf Grund gesellschaftlicher Zuschreibung - das heißt im Kern: weil wir daran glauben. Auf praktischer Ebene kann Lemke zeigen, dass genetische Diagnostik sich de facto kaum von anderen medizinischen Untersuchungsmethoden abgrenzen lässt, wofür sich beispielhaft die Geschichte des PKU-Tests [ Begriffserklärung ] anführen lässt, der erst lange nach seiner Einführung zum "Gentest" erklärt wurde. Eine Umdeutung, die laut Lemke Befürworter und Befürworterinnen der Gentechnologie ebenso begrüßten wie Kritiker und Kritikerinnen: Die einen, weil sie hier ein Beispiel für ein gendiagnostisches Verfahren mit therapeutischem Wert vorzuweisen hatten, die anderen, weil das Label "Gentest" strengere Regelungen mit sich brachte.

4.) Normative Ambivalenzen

Als vierten und letzten zentralen Kritikpunkt nennt Lemke die mit dem Konzept "Genetische Diskriminierung" verbundenen "normativen Ambivalenzen". "Genetische Diskriminierung" erscheine als schwerwiegender und problematischer als solche auf Grund einer sichtbaren Krankheit oder Behinderung, womit eine Hierarchie von Betroffenengruppen erstellt würde. Es bestehe die Gefahr einer "Normalisierung" von nichtgenetischer Diskriminierung, die durch eigene Gesetze gegen "genetische Diskriminierung" noch verschärft werde. Zudem sei nicht einzusehen, dass sich das Niveau des Schutzes vor Diskriminierung nach der Art der Diagnoseerstellung zu richten habe, da keineswegs nur DNA-Tests, sondern eben auch viele andere medizinische Verfahren Auskunft über den genetischen Status eines Menschen geben könnten. Nicht zuletzt würde in der Öffentlichkeit ein "Genfatalismus" gestärkt, der Gene als unwandelbares Schicksal wahrnehme, mit dem aber gleichzeitig ein "radikalisierte[r] Appell an Eigenverantwortung und Eigenvorsorge" (78) in allen anderen (medizinischen) Bereichen einhergehe.

Kritisch gegenüber Lemkes Ausführungen kann hier bemerkt werden, dass der Autor selbst nicht systematisch zwischen genetischen Analysen zu diagnostischen Zwecken und prädiktiven Gentests unterscheidet. Gerade im Hinblick auf die besondere Stellung von genetischen Daten könnte eine solche Differenzierung eine Möglichkeit eröffnen, die die besondere Schutzwürdigkeit der Information nicht an der Methode, sondern am Zweck der Untersuchung festmacht. Nicht zuletzt werfen prädiktive Gentests - wie Lemke im folgenden Kapitel am Beispiel Chorea Huntington deutlich macht - eine Reihe von Problemen auf, die sich bei diagnostischen Verfahren (etwa dem oben angeführten PKU-Test) nicht stellen.

Zum Beispiel Deutschland

Im vierten Teil des Buches stellt Lemke die Ergebnisse einer in Deutschland in Zusammenarbeit mit der Deutschen Huntington Hilfe (DHH) durchgeführten explorativen Studie vor, die vom Autor selbst als "exemplarische Sammlung von Fallgeschichten" eingestuft wird. Mittels Fragebögen und Telefoninterviews wurden Huntingtonpatienten und -patientinnen sowie "Risikopersonen", d.h. Personen die auf Grund ihrer Familiengeschichte ein hohes Risiko haben selbst zu erkranken, befragt. Im Unterschied zu den meisten anderen Untersuchungen wurden auch Diskriminierungserfahrungen im Familien- und Bekanntenkreis einbezogen. Als eines der zentralen Ergebnisse wird festgehalten, dass einige Befragte in beiden Bereichen Erfahrungen mit Diskriminierungen machen mussten - u. a. beim Versuch Versicherungspolicen zu erwerben; bei Ärzten und Ärztinnen, die versuchten Betroffenen den Wunsch nach eigenen Kindern "auszureden"; aber auch innerhalb der Familie. Lemke stellt fest, dass die "genetische Natur" der Krankheit Chorea Huntington tatsächlich in einigen Fällen für die Diskriminierung relevant war - andererseits lasse sich aber kein systematischer Unterschied zwischen den Erfahrungen von (symptomfreien) "Risikopersonen" und bereits Erkrankten ziehen, was wiederum die Frage nach der Reichweite des Begriffs "genetische Diskriminierung" aufwerfe.

Hier könnte auch - stärker als Lemke das tut - betont werden, dass die Diskriminierung von "Risikopersonen" sich in vielen Fällen auf die bloße Möglichkeit, Träger oder Trägerin einer bestimmten Veranlagung zu sein, bezieht. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher jene Lehrerin, deren Verbeamtung im August 2003 vom Land Hessen abgelehnt wurde, als sie wahrheitsgemäß angab, dass ihr Vater an Chorea Huntington erkrankt sei. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hessen zu Gunsten der Bewerberin hielt damals fest, dass die Schulbehörde falsch geurteilt hatte, als sie ein Vererbungsrisiko von 50 % für die entsprechende Anlage als "hohen Grad an Wahrscheinlichkeit" für häufige Erkrankungen bzw. dauernde Dienstunfähigkeit bewertet hatte. Das Gericht schloss damit allerdings nicht grundsätzlich aus, dass eine auf Vererbungsstatistiken beruhende Risikokalkulation in derartige Entscheidungen Eingang finden könnte (vgl. 74). In diesem Sinn kann auch der Begriff "genetische Diskriminierung" nicht an das tatsächliche Vorliegen einer bestimmten genetischen Veranlagung gebunden werden.

Lemke schließt an die Studienergebnisse einen wichtigen Gedanken an: Genetische Diskriminierung werde eben darum als besonders herabsetzend erfahren, "weil genetischen Faktoren im Alltagsdiskurs eine herausgehobene Wirkmächtigkeit und überhöhte Bedeutung zugesprochen wird" (101/102). Genetische Daten würden nicht wie andere medizinische Diagnosen, sondern als Enthüllung einer immer schon vorhandenen Identität der Betroffenen gedeutet.

Gefährdung von Grundrechten

Das fünfte, theoretischer angelegte und an Foucault orientierte Kapitel widmet Lemke jener "indirekten Diskriminierung", die sich nicht gegen einzelne Betroffene richtet, sondern gesellschaftliche Strukturen als ganzes prägt. Der Autor analysiert die Durchsetzung eines Diskurses der "genetischen Verantwortung" seit den 70er und 80er Jahren, der sich insbesondere auf die drei Dimensionen Reproduktionsverantwortung (gedacht als Verantwortung gegenüber den eigenen Kindern), Informationsverantwortung (also die moralische Verpflichtung Verwandte über einen möglichen "Risikostatus" zu informieren) und Eigenverantwortung (gedacht als Verpflichtung zu einem "risikokompetenten" Gesundheitsverhalten) erstreckt. Besonders im Bereich der "Informationsverantwortung" lasse sich - untermauert nicht zuletzt durch eine Reihe von Gerichtsurteilen, die unter bestimmten Umständen eine Pflicht des Arztes bzw. der Ärztin zur Informationsweitergabe an Verwandte annahmen - eine Gefährdung von Grundrechten beobachten; betroffen seien der Schutz der Privatsphäre ebenso, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Nichtwissen. Nicht zuletzt schleiche sich hier ein neuer Paternalismus in das Arzt-Patienten-Verhältnis, dem doch der gerade im Zusammenhang mit genetischen Analysen stets betonte Grundsatz der "nicht-direktiven Beratung" eigentlich hätte entgegenwirken sollen. Im Zusammenhang mit der geforderten "Eigenverantwortung" sieht Lemke eine Tendenz genetische Faktoren nicht als unbeeinflussbar und damit als "Grenze autonomen Handelns" anzusehen, sondern ganz im Gegenteil als "dessen Gegenstand und Material" (131). So lasse sich in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen beobachten, dass anstatt gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen zu verändern, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen danach ausgewählt (bzw. entlassen) würden, ob sie von ihrer genetischen Anlage her besser oder schlechter mit diesen Bedingungen zu recht kämen. Lemke schlussfolgert: die "Genetische Polizei" "unterdrückt und sanktioniert nicht nur Abweichungen von der Norm, sondern produziert Konzepte genetischer Normalität - die dann wiederum in gesellschaftliche Forderungen eines 'verantwortlichen', ‚mündigen' und ‚rationalen' Umgang mit genetischen Risiken übersetzt werden." (137)

Erst an dieser Stelle wird wirklich deutlich, wie die titelgebende "Polizei der Gene" bei Lemke gedacht ist: Gerade nicht im Sinne eines überwachenden und strafenden Organs, das die Gesellschaft ‚von außen' kontrolliert, wie wir es aus der Science Fiction kennen, sondern - ganz im Sinne Foucaults - als gesellschaftliches Verhältnis, das seine Wirkung gerade "innerhalb" der Individuen entfaltet.

Fallstricke der Kritik

Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel zu den "Fallstricken der Kritik", in dem Lemke neben einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse noch einmal seine Kritik an gängigen Konzepten "genetischer Diskriminierung" zuspitzt. Diese würden mit ihrem Beharren auf einer klaren Differenz gegenüber Formen der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten selbst an jener "Genetisierung" mitwirken, die doch gerade die Ursache der Diskriminierung darstelle. Andererseits gibt Lemke zu bedenken, dass die spezifische Diskriminierung von symptomfreien "Risikopersonen" mit einem an Krankheit und/oder Behinderung orientierten Begriff nicht zu erfassen sei. Lemke selbst entfaltet seinen Begriff von "genetischer Diskriminierung" entlang der beiden Dimensionen institutionelle / interaktionelle und direkte / indirekte Diskriminierung. Zu fragen bleibt allerdings, ob und wie ein solcher komplexer Begriff wiederum in einem (rechtlich verfassten) Diskriminierungsschutz zu fassen wäre. Welche politischen und juristischen Strategien wären zu entwickeln, die alle Betroffenen - sogenannte "Risikopersonen", bei denen lediglich die Möglichkeit einer bestimmten genetischen Disposition besteht, symptomfreie Anlageträger und -trägerinnen, von Erbkrankheiten oder Behinderung Betroffene - wirksam vor Diskriminierung schützen, und dabei die von Lemke dargestellten Fallstricke vermeiden?

Ein weiterer Widerspruch, den der Autor konstatiert, aber nicht ganz auflösen kann, ist jener zwischen der verbreiteten Wahrnehmung von Genen als Schicksal - von Lemke als "Genfatalismus" bezeichnet - und der von ihm beschriebenen, sich ebenfalls abzeichnenden "Genetischen Verantwortung". Hier wären weitere Überlegungen wünschenswert - möglicherweise könnte eine systematischere Differenzierung nach der Verwendung des Gen-Begriffs in unterschiedlichen Feldern hier weiterhelfen, die sich vielleicht stärker am Begriff der "Gesundheit" als an jenem der "Krankheit" abzuarbeiten hätte.

Dass der Autor kein Rezept gegen "Genetische Diskriminierung" in all ihren Formen vorlegen kann, versteht sich angesichts der in diesem Band aufgezeigten Komplexität des Themas von selbst. Auch für die Praxis bedenkenswert ist jedenfalls Lemkes Schlussfolgerung für die Analyse und Kritik genetischer Diskriminierung: "Sie sollte zum einen die genetische Kategorisierung und Klassifizierung als integralen Bestandteil gesellschaftlicher Praktiken und struktureller Verhältnisse von Ungleichheitsproduktion, Missachtung, Benachteiligung und Stigmatisierung begreifen und zum anderen die Fiktion einer 'genetischen Norm' nicht als unhinterfragten Ausgangspunkt, sondern als Gegenstand der Untersuchung betrachten." (146)

Stefanie Mayer, Juni 2007

Begriffserklärungen:

Chorea Huntington (früher als erblicher Veitstanz bezeichnet) ist eine bislang nicht therapierbare Krankheit, die meist im 4. oder 5. Lebensjahrzehnt ausbricht. Als monogenetische, autosomal-dominant vererbte Krankheit (d.h. eine spezifische Genmutation bedingt mit beinahe völliger Sicherheit den späteren Ausbruch und Kinder eines erkrankten Elternteils haben ein 50%iges Risiko selbst zu erkranken) wird Chorea Huntington häufig als Beispiel für die Problematik prädiktiver Gentests herangezogen: Obwohl in diesem Fall die Erkrankung tatsächlich und mit großer Sicherheit Jahrzehnte vor Auftreten der ersten Symptome festgestellt werden kann, ergeben sich daraus keine Möglichkeiten einer Therapie. Die Frage, ob das Wissen um ihre Anlage Betroffenen tatsächlich größere Autonomie ermöglicht, ist umstritten.

Bei der Phenylketonurie (PKU) handelt es sich um eine angeborene, rezessiv autosomal vererbte Stoffwechselstörung, das heißt nur wenn beide Allele eines Gens (eines wird von der Mutter, eines vom Vater vererbt) betroffen sind, treten Krankheitssymptome auf. Falls beide Eltern heterozygote Träger von PKU sind (also jeweils ein betroffenes und ein nicht betroffenes Allel aufweisen) besteht eine Wahrscheinlichkeit von 25 %, dass die Krankheit bei ihren Kindern auftritt. PKU ist behandelbar, die Symptome lassen sich durch eine spezifische Diät im Kindesalter unterdrücken. Neugeborene werden in Kliniken routinemäßig auf PKU getestet. Bei seiner Einführung in den 60er Jahren galt dieser sogenannte Guthrie-Test, ein biochemisches Untersuchungsverfahren, nicht als Gentest - wie überhaupt die genetische Komponente der Erkrankung erst später ins Blickfeld rückte.

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