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Buchbesprechung: Anders als man denkt. Leben mit einem behinderten Kind.

Flatters, Jutta
Anders als man denkt. Leben mit einem behinderten Kind.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009, 192 Seiten.

Wie gestaltet sich das Leben einer Familie mit einem Kind mit Behinderung in einer Gesellschaft, die zunehmend vom Streben nach Jugend, Schönheit und Leistung gekennzeichnet ist? Haben diese Veränderungen nicht auch Auswirkungen auf Menschen ohne Behinderungen? Diese und andere Fragen diskutiert die Theologin Jutta Flatters in ihrem Buch „Anders als man denkt. Leben mit einem behinderten Kind.“

Nach der Geburt ihrer schwerst-mehrfach behinderten Tochter, für die sie sich bewusst und entgegen der „Tradition eugenischer Selektion“ (20) entschieden habe, sah sie sich mit Vorurteilen, Distanzlosigkeit und Verständnislosigkeit von Fremden, aber auch von nahe stehenden Menschen konfrontiert.

Der große Einfluss, den die medizinisch-biologische Perspektive auf Behinderung immer noch habe, bewirke, dass der Mensch mit seiner Behinderung, seiner Schädigung oder seiner Beeinträchtigung - also seinem vermeintlichen Leiden - identifiziert werde und folglich als Person aus dem Blick gerate. Die soziale Sichtweise auf Behinderung hingegen stelle diese Logik auf den Kopf und werfe der Gesellschaft eine „Be-Hinderung“ der Menschen vor, die von konstruierten Normen abweichen. Jutta Flatters spricht sich für eine Haltung aus, die die beiden Betrachtungsweisen verbindet. „In einem angemessenen Umfeld können Menschen, die nicht-weg-zu-diskutierende-Behinderungen haben, durchaus normal und gut leben“ (44). Aus der Verknüpfung persönlicher Erfahrungen mit theoretischem Wissen formuliert sie ihre Kritik an einem in der Kultur des Abendlandes verwurzelten Menschenbild, welches in Kombination mit biologisch-medizinischen Erkenntnissen unsere Vorstellungen von Leiden, Lebensqualität, Normalität und Behinderung prägt und auf diese Weise Ausschlussmechanismen und Diskriminierung befördert.

„Warum musste dieses Kind behindert sein?“, fragt sich die Theologin angesichts einer Situation, in der sie sich als radikal abhängig und einsam in die traditionelle Rolle der Hausfrau, die sie eigentlich nicht werden wollte, zurückgeworfen sieht. „Wie Simone de Beauvoir, die existentialistische Philosophin, über die ich Jahre gearbeitet habe, war dies für mich ein existentielles, ja spirituelles Problem (…)“ (116). In diesem Zusammenhang diskutiert sie Fragen der „Abhängigkeitsarbeit“, die noch immer ohne besondere gesellschaftliche Anerkennung, dafür aber mit vielfältigen Nachteilen verbunden, von Frauen verrichtet wird.

Frau Flatters gewährt auf gut verständliche und nüchterne Weise Einblicke in ihr Leben mit einer Tochter mit Behinderung. Die Theologin beschönigt ihren Alltag nicht, betont aber auchdie positiven Seiten ihres Familienlebens. Von großer Bedeutung ist für sie die Anerkennung ihrer Tochter als Person, was gegenwärtig keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Autorin analysiert ihre Erfahrungen unter Berücksichtigung theoretischer Betrachtungen der deutschen Soziologin Anne Waldschmidt sowie der amerikanischen Philosophin Feder Kittay. Darüber hinaus beschreibt Frau Flatters, wie sie mit Hilfe theologischer Konzepte und ihrem Glauben im schwierigen Alltag besteht. So vereint sie für sich sowohl spirituelle als auch soziologisch-philosophische Denkweisen zu wirkungsvollen Erklärungs- bzw. Bewältigungsstrategien.

Sie entwickelt eine kritische, dabei jedoch nicht anklagende Darstellung der gesellschaftlichen Situation von Familien mit behinderten Kindern. Frau Flatters zeigt Defizite und Lücken genauso wie die Potentiale und Möglichkeiten unserer Gesellschaft auf. Sie vermittelt mit ihrer persönlichen Geschichte Familien, die Angehörige mit Beeinträchtigungen haben Strategien, ein nicht immer einfaches Zusammenleben zu bewerkstelligen. „Anders als man denkt. Leben mit einem behinderten Kind.“ bewegt sich zwischen wissenschaftlichem Diskurs und Erfahrungsbericht. Es richtet sich an alle, die sich mit der Thematik befassen oder sich mit ihr vertraut machen wollen.

April 2010

Sascha Omidi
Student der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon-Hochschule Berlin, derzeit Praktikant am IMEW

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