INSTITUT MENSCH, ETHIK UND WISSENSCHAFT
Das gemeinnützige Institut mit der anderen Perspektive
Vortrag im Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft am 10.02.2009 in der Reihe 'Friedrichshainer Kolloquium'
Dr. Mechthild Hetzel
Wie wäre noch von Behinderung zu sprechen? In diesem Beitrag untersuche ich im Folgenden Diskurse von Behinderung. Hier steht nicht die Natur der Behinderung im Mittelpunkt. Mein Interesse gilt vielmehr gesellschaftlich eingespielten Institutionen, Handlungsmustern und Wissensformen, die Behinderung umgeben, strukturieren und teilweise aller erst hervorbringen:
· Wo und wie kommt Behinderung heute zur Sprache? Welche gesellschaftlichen Diskurse gehen von Behinderung aus? Für wen, von wem, über wen wird gesprochen? Von welcher Position aus und mit welchen Zielen?
· Welche performativen Effekten bringen Behinderung hervor? Was, wenn Menschen als Behinderte zu den ganz Anderen gemacht werden? Wenn sie als diejenigen gelten, bei denen noch einmal alles anders sei als bei allen anderen?
· Welche sprachlichen Strategien exotisieren oder normalisieren ‚Behinderte’? Was, wenn jedes Verhalten mit dem Blick auf Behinderung gedeutet wird?
Mal angenommen, es wäre geschafft: Teilhabe und Selbstbestimmung gelten für alle Menschen gleichermaßen. Die Annahme schärft den Blick. Zu sehen ist, inwiefern unterschieden wird zwischen behindert und nichtbehindert.
Als Behinderte werden Menschen benachteiligt in ihren Chancen auf Bildung, Arbeit oder politische Partizipation. Um Abhilfe zu schaffen, werden Maßnahmen ergriffen. Auch die pädagogische Sorge zielt darauf, entstandene Nachteile auszugleichen. So werden separate Einrichtungen der speziellen Förderung oft unumgänglich, die von den Betroffenen selbst als Barriere auf dem Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe erfahren werden.
Einerseits gilt Behinderung heute weniger als ein natürliches Schicksal. Die Rede von Benachteiligung ist ein Zeichen dafür, dass Behinderung eng mit Konzepten gesellschaftlicher Ungleichheit verbunden wird. Andererseits ist heute die Annahme verbreitet, eine Separierung zur speziellen Förderung sei unumgehbar. Es gehört zur Normalität, dass Menschen spezielle Einrichtungen besuchen sollen, die als sehbehindert, hörbehindert, körperbehindert, geistig behindert oder mehrfach behindert benannt werden. Demgegenüber melden sich die Betroffenen zu Wort. Normalität bedeutet für sie, an allen wesentlichen Bereichen des öffentlichen Lebens teilhaben zu können.
Das Bemühen um Normalisierung, Integration und soziale Teilhabe ist stets aufs Neue mit dem Dilemma konfrontiert, Unterschieden gerecht zu werden, ohne Unterschiede zu machen: eben jene erst besonders herauszuheben, die im Zuge der Wiedereingliederung dazugehören sollen wie alle anderen auch.
Behinderung verweist als Begriff und Tatsache auf die soziale Reaktion gegenüber behinderten Menschen. Die soziale Reaktion umfasst vielfältige (nicht zuletzt ethisch codierte) Einstellungen und Verhaltensweisen. In der fortwährenden Betonung von Behinderung werden Menschen auffällig, in einem ästhetischen wie sozialen Sinn. Sie provozieren Aufmerksamkeit und erregen Mitleid.
Ist heute von „Menschen mit Handikap“ die Rede, werden damit einerseits Forderungen nach sozialer Unterstützung verbunden, die sie erst befähigte, ihren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Vielfältige Formen der Hilfe und Förderung erst ermöglichten ihnen die gesellschaftliche Teilhabe. Andererseits aber läuft mit diesen Forderungen zugleich die Botschaft mit, dass sie nicht von vorne herein in einem uneingeschränkten Sinne als Menschen gelten können. Behinderung wird nicht allein durch diesen begrifflichen wie praktisch wirksamen Widerspruch gesellschaftlich strukturiert; Behinderung ist dieser Widerspruch in einem genuinen Sinn.
Im Titel meines Beitrags nehme ich das Wort „Diskurs“ auf. Was ist darunter zu verstehen? Ein Diskurs [1] ist eine Art, über etwas zu sprechen. Er wird gebildet durch mehrere Aussagen, die zusammenwirken. Die Aussagen bringen ein Wissen hervor: Das Wissen formt, was ich wahrnehme und wie ich handle. Diskurse beeinflussen wie wir sprechen oder was wir uns vorstellen; – was für uns von Bedeutung ist (und welche Bedeutung wir anderen Deutungen vorziehen); – wie wir handeln und wer sich durchsetzt. Ein Diskurs hat Auswirkungen auf beide: auf die, welche ihn bedienen und die, welche ihm unterlegen sind.
Ein Diskurs wird erzeugt durch soziale Praxis; insofern soziale Praktiken bedeutungsvoll sind, ist ein Diskurs tief verstrickt mit realen Verhaltensweisen und Handlungen. Macht operiert, um die Wahrheit eines Ensembles von Aussagen durchzusetzen:
Das Wissen, das ein Diskurs produziert, konstituiert eine Macht, die über jene ausgeübt wird, über die ‚etwas gewusst wird’. Wenn dieses Wissen in der Praxis ausgeübt wird, werden diejenigen, über die ‚etwas gewusst wird’, auf eine besondere Weise zum Gegenstand der Unterwerfung. Das ist immer eine Machtbeziehung. Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben die Macht, ihn wahr zu machen – z.B. seine Geltung, seinen wissenschaftlichen Status durchzusetzen. [2]
Mein Beitrag trägt den Titel Diskurse von Behinderung und ihre Kritik. Mein Interesse gilt hier sozialen Einrichtungen, Sprechweisen und Praktiken, die Behinderung aller erst hervorbringen. Die Auffassung, dass Behinderung letztlich auf eine natürliche Grundlage zurückzuführen sei, teile ich nicht. Vielleicht ist der von Michel Foucault geprägte Begriff Dispositiv geeignet, das näher zu bezeichnen: Die Rede von Behinderten wird konturiert vor der Normalität einer Mehrheit, die als Regel gegenüber der Ausnahme positiv ausgezeichnet ist.
In den öffentlichen, fachwissenschaftlichen oder anwendungsethischen Debatten beansprucht ein Begriff von Behinderung Geltung, der zwischen Menschen nach der Regel (eines normalen, perfekten, vollständigen Menschseins) und ihrer Ausnahme unterscheidet.
Behinderung so verstanden als Konstrukt von Regel und Ausnahme erschöpft sich nicht in einem einzigen Gesetz oder Gebot. Die Gesellschaft installiert einen ganzen „Apparat“, der entsprechende Handlungs- und Sprechweisen hervorbringt. Mit Foucault gesprochen handelt es „sich weniger um einen Diskurs, als vielmehr um eine Vielheit von Diskursen …, Produkte einer Serie von Apparaten, die innerhalb verschiedener Institutionen funktionieren“. [3]
Die Paradoxie der sozialen Lage, die Gleichzeitigkeit von Pathologisierung und Normalisierung, wird durch Formen des Denkens und Argumentierens in Begriffen von Norm und Abweichung hervorgebracht, die sie in einem Dispositiv, einer stabilen Ordnung von Regel und Ausnahme festschreiben.
Medizinische, pädagogische wie rechtliche Institutionen konstituieren Behinderung. Dies gilt auch und gerade für diejenigen Institutionen, die ein Mandat für Behinderte beanspruchen. Forderungen nach einem gerechten Ausgleich für Benachteiligte erzeugen und stabilisieren das Dilemma des Anspruchs, Unterschieden gerecht zu werden, ohne Unterschiede zu machen. Bemühungen um Normalisierung und Integration stellen nicht selten jene (erst) als Behinderte heraus, die dazugehören sollen wie alle anderen auch.
Als steingewordene Logik von Regel und Ausnahme führt ein mehrgliedriges Schulsystem dazu, dass Sonderpädagogik in Spezialeinrichtungen zur Normalpädagogik der separaten Institutionen wird [4]. Diese zunächst aus Widersprüchen erzeugte Normalität entwickelt letztlich, wie Klaus Dörner vor Augen führt, eine eigene Dynamik:
Man schämt sich zu Tode, wenn man nur einmal eine gute Dokumentation in einem guten Behindertenheim liest, wo über 20 Jahre fein säuberlich aufgeschrieben wird, wie die Selbständigkeit eines Bewohners innerhalb der Institution täglich trainiert wird, ohne dass je eine wirkliche Selbstständigkeit – nämlich Entlassung in die ambulante Betreuung – dabei herauskommt. [5]
Die Arbeit spezieller Einrichtungen, den „Instanzen sozialer Kontrolle“, orientiert sich an „Alltagstheorien“, die Günther Cloerkes zufolge überwiegend zur Pathologisierung tendierten. [6] In separierenden Einrichtungen wird Sonderpädagogik zu einem Teil dessen, Behinderung als Abweichung von der Normalität hervorzubringen und verliert die Möglichkeit zu beobachten, wie diese Logik von Regel und Ausnahme ins Werk gesetzt wird. [7] Das hat zur Konsequenz, dass eine (uneinheitliche) Gruppe derer erzeugt wird, deren sich das dreigliedrige Regelschulsystem als ‚nicht zugehörig’ entledigt: Manche Schülerin gehört dann „zu einer Gruppe von Leuten, für die es andere angemessenere Schulen gibt als das Gymnasium“. [8]
Worauf Claudia Franziska Bruner hier aufmerksam macht, ist, dass die Logik des Behinderungsdiskurses kennzeichnet, jedes Verhalten und jede Lebensäußerung von Schülern und Schülerinnen stets unter dem Blickwinkel von Behinderung zu beschreiben, zu erklären, zu deuten.
Mit Foucault gesprochen sind die Diskurse über Behinderung „nicht in erster Linie danach zu befragen, von welcher impliziten Theorie sie sich herleiten oder welche moralische Grenzziehung sie stützen oder welche – herrschende und beherrschte – Ideologie sie repräsentieren“, sondern nach der taktischen Einsetzung von Wissen und Macht. [9] Der Entscheidung für eine bestimmte weiterführende Schule (hier für das Regelgymnasium) wird Bruner zufolge „ein behindertenpädagogischer Diskurs entgegengesetzt, der sich auf der Handlungsebene des Lehrers praktische Geltung verschafft“. [10]
Zwar ist die soziale Herstellung von Behinderung „kein einmaliger Akt, der sich wie ein Zeichen auf der Stirn als unveränderliches Identitätsmerkmal niederschlägt“. [11] Doch greift in Fragen der Behinderung die Logik von Regel und Ausnahme unmerklich auch dort, wo eine Kritik dieser Logik zu entwickeln gesucht wird. Menschen werden als Behinderte zu ‚ganz Anderen’ gemacht.
Was ich dieser Stelle hervorheben möchte, ist, dass die Logik von Norm und Abweichung noch manches instruktive Verständnis [12] unterläuft. Wäre so gesehen an einer heilen Welt festhalten zu wollen (in einem begrifflichen Rahmen, in dem Behinderung als Ausnahme von der Regel gilt), seinerseits eine Krücke, welche unvoreingenommene, offene Begegnungen verhindert? Ein Zeichen dafür, sich in der tatsächlichen Welt, ihrer Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit, nicht frei bewegen zu können? [13]
Ansätze dazu, dass der Andere nicht von vorneherein als behindert in den Blick gerät, sind bereits vorhanden.
Einsicht zu gewinnen in die Tendenz der sozialen Herstellung von Behinderung bedeutet allerdings nicht, die Wirklichkeit derer, die sich alltäglich als behindert erfahren, zu leugnen und als reinen Diskurseffekt auszuweisen. Die Tendenz sozialer Herstellung von Behinderung durchsichtig zu machen, bedeutet auch nicht, in einer völligen Einverleibung Differenzen einzuebnen. Der Anspruch, dem sich die vorliegende Studie aussetzt, ist nicht gleichbedeutend damit, Unterschiede kategorisch zu unterlaufen.
Die Perspektive, wie es wäre, wenn Differenzkategorien (weiß/schwarz, reich/arm, gesund/ krank usf.) nicht länger soziale Hierarchien legitimierten, markiert eine Indifferenz, die positiv zu werten wäre: als der Bezugspunkt einer Analyse und Kritik, welcher keinen transzendentalen Status hat. Mit anderen Worten, dass Kategorisierungen wie normal oder behindert bedeutungslos werden, wird für unseren Umgang miteinander zur Möglichkeit, insofern anthropologische Bestimmungsversuche scheitern, die Zuweisung sozialer wie symbolischer Orte haltlos ist oder eine Zugehörigkeit wirksam wird, die nicht in Identität gründet. [14]
Im Unterschied zu dem sozialromantischen Impetus, Differenzen kategorisch einzuebnen (da nicht sein kann, was nicht sein darf), insistiere ich hier auf der Notwendigkeit einer doppelten Sichtweise.
In der Analyse und Kritik wird zugleich deutlich, ob und inwiefern Aus- und Abgrenzungen gegenüber den anderen – die identifiziert werden als Behinderte, Asylsuchende, Mittellose usf. – wirksam sind. Das Skandalöse an Differenzsetzungen wird womöglich immer erst dann nachdrücklich, wenn sich – zu dem Zweck, Partizipationsmöglichkeiten, Lebenschancen und Ressourcen zuzuteilen, vorzuenthalten oder abzusprechen – jede resp. jeder Einzelne selbst nach denjenigen Hinsichten diskreditiert sieht, welche die sozialen Felder derzeit strukturieren.
Stets aufs Neue werden öffentlich Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung eingefordert. Mit dem Anspruch ist ein sozialer Widerspruch verbunden. Der Widerspruch kann im Anschluss an Zygmunt Bauman als Assimilierungsfalle beschrieben werden. Bauman beobachtet: In den westeuropäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts werden Menschen als Juden zu Fremden gemacht und ausgegrenzt (stigmatisiert). Zugleich werden sie dazu angehalten, sich anzupassen und einzugliedern. Einerseits aufgefordert, sich in die westliche Kultur und Gesellschaft einzupassen, wird ihnen andererseits die Aufnahme verwehrt. Gerade in ihren Bemühungen um Assimilierung werden sie als Juden identifiziert und als Fremde ausgegrenzt. Darin liegt der Widerspruch. In Baumans Worten:
Sehr zu ihrer Verzweiflung fanden die Assimilierten, dass sie sich in Wirklichkeit einzig an den Prozess der Assimilation selbst assimiliert hatten. [16]
Wie steht es in diesem Zusammenhang um das Projekt der Integration von behinderten Menschen im Zuge der Normalisierung? Ich werde dazu im Folgenden der Resonanz nachgehen, die das „Wunschkind“ eines Paares in der Öffentlichkeit gefunden hat:
Zwei Kinder kamen ohne Gehör zur Welt. Für ihre Eltern ist Taubheit keine Behinderung, sondern Teil einer besonderen Kultur – ihrer eigenen. Normaler Nachwuchs hätte nur gestört. Demnächst ein blindes Kind für blinde Eltern? – Der bizarre Fall illustriert die Möglichkeit missbräuchlicher genetischer Selektion.
Es mag an dieser Stelle zunächst offen bleiben, ob die Geburt eines Kindes Index einer dramatischen Entwicklung sein soll. Stellen sich die moralischen Implikationen technischen Fortschritts in der Fortpflanzungsmedizin – hier: die Insemination – für Menschen mit und ohne Behinderung nicht gleichermaßen dar: fragwürdig oder nicht, problematisch oder unproblematisch?
Von größerem Interesse ist es vielleicht, die Begriffe („Behinderung“, „besondere Kultur“, „normaler“ Nachwuchs usf.) genauer zu untersuchen, in denen alltägliche Denk- und Argumentationsformen ihren Niederschlag finden. Was ist geschehen? Wer äußert sich dazu? Wer wird von wem als Gruppe identifiziert? Welche Interessen werden positioniert?
Ein Paar entscheidet sich, eine Familie zu gründen und sein Leben mit Kindern zu teilen. Es wünscht sich wie andere Eltern auch, dass die Kinder ihre Perspektive auf die Welt teilen und ein Leben führen, wie die Eltern es selbst genießen. Die Eltern wählen, die Zeugung ist ihnen aus biologischen Gründen nicht möglich, den Weg der Insemination. Da die Samenbank ihrem Vorhaben nicht nachkommen kann, unterstützt ein gemeinsamer Bekannter ihren Wunsch. Das Elternpaar hat weder Embryonen vernichtet noch abgetrieben; als die Mutter sich das Sperma einführt, ist nicht einmal ein Arzt beteiligt. „Warum ist es ein Schock, wenn behinderte Paare das Gleiche möchten wie nichtbehinderte: Kinder, die ihnen ähneln?“ fragt Theresia Degener. [17] Indessen titelt eine große Wochenzeitung „Taube Kinder auf Bestellung“ und sieht Anlass darin, von „moralischem Hörsturz“ zu sprechen; ausführlicher heißt es dort:
Die Worte, die in der Kontroverse um das „Wunschkind“ Verwendung finden, haben praktische Relevanz. Polemisch gewendet: Sie sind alles andere als ‚unschuldig’.
Die Art und Weise, wie gesprochen wird, erzeugt und stabilisiert eine soziale Welt. In Begriffen wie „lesbisch“, „amerikanisch“, „bizarr“ usf. sedimentiert sich ein praktisches Wissen; mit anderen Worten eine bestimmte Vorurteilsstruktur, die konkrete Auswirkungen auf den Umgang von Menschen miteinander hat. So steht die „Entscheidung zur Fortpflanzung“ für Michael Naumann, der hier auf einen Beitrag von Martin Siewak und Astrid Viciano rekurriert, in einem Horizont, in dem es Gehörlosen als „Mitgliedern“ einer „Schicksalsgemeinschaft“ darum zu tun sei, diese „durch gesteuerte Fortpflanzung zu erhalten und zu pflegen“.
Diese Deutung wird durch keine Äußerung der Betroffenen selbst erhärtet. Die Möglichkeit, zu einer von den Autoren abweichenden Einstellung und Verhaltensweise zu gelangen, wird verstellt oder im mindesten erschwert. Ihre Worte suchen von vorneherein die Schlussfolgerung anzuvisieren, dass es, salopp formuliert, hier wohl nicht ganz mit rechten Dingen zugehe.
Demnach sind Begriffe in zweifacher Hinsicht von praktischer Relevanz: Lawrence Grossberg weist Diskurse als active agents der empirisch-gegenständlichen Welt aus, die uns zum einen soziale Kontexte begrifflich erschließen, zum anderen aber zugleich Einfluss darauf ausüben, „auf welche Weise Diskursformationen Gestalt annehmen“. Diskurse sind so besehen zugleich die produktive Dimension der sozialen Kontexte, zu denen sie uns Zugang verschaffen. [18]
Ein Diskurs ist kein geschlossene Systeme. Spuren vergangener Diskurse bleiben in späteren eingebettet. Auch hängt die Einheit eines Diskurses nicht davon ab, ob er von einem einzelnen Sprecher ausgeht. Aber jeder Diskurs konstruiert Positionen, von denen aus er allein einen Sinn ergibt (ein Sprecher wird sozusagen impliziert). Es handelt sich hier um die Position eines als ob Subjekt des Diskurses. Aussagen sind zudem selten einfach ‚wahr’ oder ‚falsch’. Die Sprechweise (über Tatsachen) greift selbst ein in die Beurteilung. Aussagen werden wahr gemacht. So gesehen sind „Behinderung“, „Schicksal“, „normaler Nachwuchs“ mehr als empirisch-beschreibende Kategorien.
In den Diskursen, die in den Lebenswissenschaften gegenwärtig vorherrschen, gilt ein „angeborenes Handikap“ letztlich als Inbegriff des Leidens, dem technisch abzuhelfen wäre. Nicht nur, dass jede Lebensäußerung stets unter dem Blickwinkel von Behinderung zu beschreiben, zu erklären und zu deuten gesucht wird. Behinderung wird hier auf ein zu vermeidendes oder zu überwindendes Defizit reduziert. Dass sich diese Logik Geltung verschafft, hat mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu tun.
Aus dieser Perspektive zeigt sich in der Resonanz auf das „Wunschkind“ beispielhaft eine Form des Denkens und Argumentierens, die den gesellschaftlichen Umgang von Menschen heute prägt. Die Norm einer körperlichen wie geistigen Unversehrtheit und die Abweichung, als die Behinderung gilt, konstituieren sich in diesem Zusammenhang wechselseitig. Jene Logik von Regel und Ausnahme geht mit Strategien einher, welche die mit Bauman aufgezeigte Ambivalenz der Assimilierung zugleich erzeugt und in speziellen Institutionen auf Dauer stellt.
In den öffentlichen Diskussionen zur Präimplantationsdiagnostik wird ein Paradigma negativer Eugenik weitgehend akzeptiert. Nicht zuletzt die Bezeichnung ‚negativ’, die einer positiven Eugenik (welche Bestandteil nationalsozialistischer Bestrebungen war) entgegengesetzt wird, soll den Diskurs auf der moralisch gerechtfertigten Seite positionieren.
Gleichwohl ist negative Eugenik in einem Normalitätsverständnis situiert, welches durch starre Grenzen zwischen gesund/krank, normal/behindert usf. gekennzeichnet ist. Der Raum des Wissens wird durch jene Differenzsetzungen hegemonial strukturiert.
Die Logik der Differenzsetzung zwischen Menschen nach Behinderung stabilisiert und erzeugt Benachteiligungen gegenüber diesen Menschen, den Behinderten. Bedeutungszuschreibungen („auch auf die Gefahr hin“, „im Zweifelsfall durch gesteuerte Fortpflanzung“, „missbräuchliche Selektion“) bringen andere hervor, die zu Subalternen werden, denen keine Handlungsfähigkeit zukommt. In einem begrifflichen Horizont, der uns gegenüber den anderen privilegiert, wird der Tatbestand, dass sich jene anders Gemachten selbstbestimmtes Denken, Reden und Handeln erlauben, zu einem „besonders abstrusen Fall“ stilisiert.
In den gegenwärtigen Kontroversen um Behinderung und Ethik, welche im Referenzrahmen ethischer Rechtfertigungsdiskurse geführt werden, wird Gerechtigkeit nicht selten auf das reduziert, was einer Person nach abstrakten Rationierungskriterien zukommen soll.
Aus der Perspektive einer verbreiteten Variante utilitaristischen Denkens bedeuten die „besten Konsequenzen“ einer moralischen Entscheidung das, „was per saldo die Interessen der Betroffenen fördert, und nicht bloß das, was Lust vermehrt und Unlust verringert“ [19]. Prinzipiell ausgenommen werden jene, welchen die Kriterien einer moralfähigen „Person“ zu erfüllen nicht zugestanden wird; ihr Lebensrecht steht in Frage.
Kritische Entgegnungen gegenüber einer „Früheuthanasie schwerstbehinderter Neugeborener“ bleiben in der Defensive, sofern sie den begrifflichen Rahmen, den Singers Thesen vorgeben, stillschweigend akzeptieren. Die Profile der Argumente bioethischer Debatten vor Augen, wird das Anliegen, Forderungen an ein Denken der Gerechtigkeit zu thematisieren, sich nicht in einer bloßen Entgegensetzung erschöpfen können. Eine solche Entgegensetzung würde bedeuten, dass sich eine Argumentation für (Behinderte) oder gegen (Ausgrenzung) erneut im Rahmen starrer Grenzen und Dichotomien bewegen würde, die mit dem Anspruch an Normalität vielfach verbunden sind; Gegensätze würden fortgeschrieben, statt sie kritisch zu überprüfen.
Von Seiten der Betroffenen macht sich gegen die stillschweigende Akzeptanz einer negativen Eugenik in den modernen westlichen Gesellschaften Protest geltend. Bislang interessierten sich im Rahmen der Wissenschaften für Behinderung anwendungsbezogene Disziplinen wie die Medizin oder die Heil- und Sonderpädagogik. Die Konstellation der dort leitenden Begriffe verschiebt sich, wenn ein Forschungsansatz in den Behinderungsdiskurs eingebracht wird, der nicht indifferent bleibt gegenüber epistemisch wie praktisch relevanten Machtverhältnissen. Von hierher wäre Behinderung zunächst als factum in seiner zweifachen Bedeutung zu verstehen (Tatbestand und Produkt), um Gesellschaft perspektivisch auf diese Spannung hin zu erforschen.
Im angelsächsischen Sprachraum entstanden, wird der Forschungsansatz der Disability Studies in diesem Sinne derzeit im deutschsprachigen Raum aufgenommen und weiterentwickelt.
Aus dieser Perspektive wird das in den genannten Anwendungswissenschaften prominente „medizinische Modell“ (Behinderung sei letztlich auf ein physisches, unhintergehbares, individuell zurechenbares Merkmal zurückzuführen) scharf kritisiert. Die Überlegungen der vorliegenden Studie (Hetzel 2007), auf die ich hier Bezug genommen habe, wurden im Anschluss an diese Schwerpunktverlagerung formuliert. Im Mittelpunkt stehen dabei menschliche Verhaltensweisen wie Organisationsformen, die Behinderung umgeben, strukturieren oder gar erst erzeugen.
Inwiefern Behinderung „gemacht“ wird, lässt sich ausgehend von Foucaults Begriff des Dispositivs verdeutlichen. Das Dispositiv steht für ein Machtgefüge, das nicht total ist, sondern von Bruchlinien und Verwerfungen durchzogen ist, von möglichen Ansatzpunkten für subversive Tendenzen. [20] Für diese Gegenmacht interessieren sich jüngst Forscherinnen, die im Kontext von Behinderungsdiskursen Menschen nicht nur als Opfer ausmachen, die von speziellen Institutionen subjektiviert werden; sie provozieren die Aufmerksamkeit – und halten sie aufrecht –, für das, was dem widersteht. Dieser Widerstand korreliert dem Horizont eines Wissens, bestimmter Praktiken, Strategien und Sprechweisen.
Die Perspektive, wie es wäre, wenn Differenzsetzungen (Gymnasial-/Hauptschüler, Körper-/ Geistigbehinderte, Eltern eines gesunden/behinderten Kindes usf.) nicht länger soziale Diffamierung und Herabsetzung rechtfertigten, markiert eine ethisch relevante Option.
Ist diese differenz- und marginalisierungskritische Perspektive als Motivation benannt, so wäre davon eine analytische Ebene, die Reflexion auf eine konkrete soziale Realität, zu unterscheiden. In der Unvermeidlichkeit der Begegnung mit den Tatsachen wird es notwendig, Ungerechtigkeiten anzuzeigen [21], die mit den spezifischen Situationen von Menschen einhergehen: im Sinne eines „strategischen Essentialismus“ (Gayatri Spivak) [22], der von der Notwendigkeit von Zuschreibungen ausgeht, um in ihrem Namen Politik zu betreiben, ohne diese Bedeutungszuschreibung zu hypostasieren oder als natürlich darzustellen. Insofern, und nur insofern (sic), ist der skizzierte Widerspruch praktisch nicht aufzulösen.
Die Konstellation nötigt zu einer doppelten Schreibweise: Einerseits von Behinderung ausgehen zu müssen, den Befund zu skandalisieren und Behinderung jeweils dort sichtbar zu machen, wo (darin ist Philosophie einbezogen) dieser Skandal ignoriert oder ausgeblendet wird. Andererseits nicht allein Diskursen zu widerstreiten, die jedes Verhalten und jede Lebensäußerung stets unter dem Blickwinkel von Behinderung zu beschreiben, zu erklären und zu deuten suchen, sondern auch die Logik eines Konstrukts von Regel und Ausnahme (welche Menschen als Behinderte zu den ganz Anderen macht, bei denen noch einmal alles anders ist als bei allen anderen) aufzukündigen.
Behinderung, das habe ich in meinem Beitrag zu zeigen versucht, verweist als Begriff und Tatsache auf die soziale Reaktion gegenüber behinderten Menschen, auf vielfältige Einstellungen und Verhaltensweisen. Das Bemühen um Normalisierung, Integration und soziale Teilhabe ist stets aufs Neue mit dem Dilemma konfrontiert, Unterschieden gerecht zu werden, ohne Unterschiede zu machen: eben jene erst besonders herauszuheben, die im Zuge der Wiedereingliederung dazugehören sollen wie alle anderen auch. Behinderung wird nicht allein durch diesen begrifflichen wie praktisch wirksamen Widerspruch gesellschaftlich strukturiert: Sie ist dieser Widerspruch in einem genuinen Sinn.
[1] Die Abschnitte Was ist ein Diskurs? folgen, wenn nicht anders angegeben, Stuart Halls Replik auf Michel Foucault: Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in ders., Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg: 1994, 137-179, hier: 150-155 u. 178f.
[2] Hall, Der Westen und der Rest, a.a.O., 154.
[3] Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt a. M.: 1991, 47.
[4] Die Überlegung, dass Sonderpädagogik in Spezialeinrichtungen zur Normalpädagogik der separaten Institutionen wird, findet sich so bei Jan Weisser, Behinderung, Ungleichheit und Bildung. Eine Theorie der Behinderung, Bielefeld: 2005, 83.
[5] Klaus Dörner, Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe – Umgang mit Kranken und Behinderten, Publik-Forum. Zeitung kritischer Christen Nr. 15, 1999; Wiederveröffentlichung im Internet: bidok.uibk.ac.at/texte/doerner-schutzhaft.html.
[6] Was die Behauptung einer Tendenz zur Pathologisierung betrifft, vgl. Günther Cloerkes, Soziologie der Behinderten – Eine Einführung, 2. neu bearb. u. erw. Aufl., Heidelberg: 2001, 137. Mechanismen „sozialer Kontrolle“ bezeichnen im Anschluss an Talcott Parsons Das soziale System (1951) jene Systemprozesse, die verhindern sollen, dass Verhalten, das als abweichend gilt (Devianz) überhand nimmt.
[7] Dass Sonderpädagogik als Teil des Konstrukts von Ausnahme und Regel die Möglichkeit der Analyse abhanden kommt, geht zurück auf Weisser, Behinderung, Ungleichheit und Bildung, a.a.O., 83.
[8] Hier folge ich Claudia Franziska Bruner, KörperSpuren: Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld: 2005,
[9] In seinen Ausführungen zu den Diskursen über den Sex formuliert Foucault diesen Zusammenhang, ders., Der Wille zum Wissen, a.a.O., 123f.
[10] Bruner, KörperSpuren, a.a.O., 265
[11] Bruner, KörperSpuren, a.a.O., 264.
[12] So unterläuft die Logik von Ausnahme und Regel manches instruktive Verständnis von Personalität (Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen «etwas» und «jemand», Stuttgart: 1996); vgl. Mechthild Hetzel, Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Heidelberg: 2007, 148f.
[13] Die Inversion des Blicks, das Festhalten an einer heilen Welt seinerseits als Krücke zu deuten, geht zurück auf Ulrich Bach, Vollmarsteiner Rasiertexte. Notizen eines Rollstuhlfahrers, Gladbeck/ Westf.: 1979, 55-61.
[14] Was die These betrifft, dass anthropologische Bestimmungsversuche scheitern vgl. Hetzel, Provokation des Ethischen, a.a.O., 108-119; dass die Zuweisung sozialer wie symbolischer Orte sich als haltlos erweist vgl. ebd., 187-198 u. 216-227; dass eine Zugehörigkeit wirksam wird, die nicht in Identität gründet vgl. ebd. 231-239.
[15] Die im folgenden Abschnitt als Zitat vermerkten Begriffe, auf die als Ausdruck alltäglicher Denk- und Argumentationsformen Bezug genommen wird, sind entnommen den Beiträgen von Michael Naumann, Moralischer Hörsturz. Oder: Taube Kinder auf Bestellung und Martin Siewak/Astrid Viciano, Wunschkind. Beide Artikel finden sich in Die Zeit Nr. 18 v. 25.04.2002.
[16] Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: 1992, 179.
[17] zit. n. Siewak/Viciano, Wunschkind, a.a.O.
[18] vgl. Bruner, KörperSpuren, a.a.O., 83.
[19] Peter Singer, Praktische Ethik, 2. rev. u. erw. Aufl., Stuttgart: 1994, 131.
[20] Zu dieser Lesart des Dispositivs im Anschluss an Foucault vgl. Petra Gehring, »Sind Foucaults Widerstandspunkte ›Ereignisse‹ oder sind sie es nicht? Versuch der Beantwortung einer Frage.«, in: Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hrsg. v. M. Rölli, München: 2004, 275-284
[21] Was die Unvermeidlichkeit der Begegnung mit den Tatsachen (und den Konsequenzen daraus) betrifft, vgl. das Eingeständnis Jacques Derridas: Die "tatsächlichen Umstände … unter denen sich an sämtlichen Fronten die Kämpfe ... entwickeln ... machen es notwendig, dass man für mehr oder weniger lange Phasen an metaphysischen Annahmen festhält, obwohl man bereits weiß, dass man diese in einer späteren Phase – oder an einem anderen Ort – in Frage stellen muss, da sie dem herrschenden System angehören, das man in der Praxis gerade dekonstruiert." ders., Choreographien, in: Auslassungspunkte – Gespräche, hrsg. v. P. Engelmann, Wien: 1998, 99-117, hier 106.
[22] Gayatri Spivak entfaltet den Gedanken des „strategischen Essentialismus“ in dies., „French feminism in an International Frame“, in Yale French Studies, 62, 1981, 154-184.