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Friedrichshainer Kolloquien 2006:

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14. November 2006
Körper, Behinderung und Identität

Behinderung aus lebensgeschichtlicher und existenzphilosophischer Sicht
Christine Riegler, Psychologin, Selbstbestimmt leben, Innsbruck

Identität und Anerkennung. Das Cochlea-Implantat und der Umgang mit dem Fremden.
Dr. Katrin Bentele, Ethikerin, Lehrstuhl Theologische Ethik/ Sozialethik, Universität Tübingen

Behinderung gilt im gewöhnlichen Alltagsdenken als feststehender Begriff mit klarer Bedeutung. Behinderung wird verstanden als Beeinträchtigung der Körperfunktion oder -struktur, der Aktivität und der gesellschaftlichen Partizipation. Behinderung wird dabei verbunden mit der Einschränkung von Freiheit und Glück. Behinderung prägt aber auch die Identität von Menschen mit Behinderung. Die Arbeiten von Christine Riegler und Katrin Bentele zeigen, dass sich die Außen- und die Innensicht auf das Leben mit Behinderung durchaus unterscheiden.

Christine Riegler verbindet die theoretische Reflexion existenzieller Themen wie Krankheit, Glück und Leid, Freiheit, Leiblichkeit oder Grenzen mit den Alltagserfahrungen von Menschen mit Behinderung. Sie zeigte in ihrem Vortrag an Hand von problemzentrierten Interviews, welche Schwierigkeiten die Betroffenen in einer Umwelt zu vergegenwärtigen haben, die von einer Normalität ausgeht, der sie nicht entsprechen können. Damit stellt sie auch die verbreitete Vorstellung in Frage, ein gelingendes Leben setze uneingeschränkte Bedingungen voraus.

Die Integration der Behinderung in die eigene Identität kann durch biomedizinische Interventionen erschwert werden: So ist die Öffentlichkeit im Allgemeinen beeindruckt von der medizinischen Möglichkeit, dass gehörlose Kinder durch ein Chochlea-Implantat hören lernen können. Katrin Bentele argumentierte in ihrem Beitrag, dass sich darin eine bedingungslose Technik- und Fortschrittsgläubigkeit spiegelt, die die betroffenen gehörlosen Menschen, deren Leben und Sichtweisen, unberücksichtigt lässt. Sie zeigte auch, wie diese Sichtweise mit der gesellschaftlichen Anerkennung der Gebärdensprache sowie mit der Anerkennung von Gehörlosen als kulturelle Minderheit in Konflikt gerät.

Zum Weiterlesen:

Christine Riegler, Behinderung und Krankheit aus philosophischer und lebensgeschichtlicher Perspektive, IMEW Expertise 6

[ weitere Infos zu dieser Veröffentlichung ]

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10. Oktober 2006
Körperbilder und Krankheitsbegriff

Medizin der Zukunft: Heilkunst oder "Anthropotechnik"?
Dr. Dirk Lanzerath, Philosoph, Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Bonn

"Das Absurde erleben" - Gendiagnostik, Grenzsituationen und Sinnfragen
Dr. Rouven Porz, Biologe und Philosoph, Arbeitsstelle für Ethik in den Biowissenschaften, Universität Basel

Was in einer Gesellschaft unter "krank" und "gesund" verstanden wird, hat große normative Bedeutung. Auf den Begriff der Krankheit wird Bezug genommen, um Eingriffe in die körperliche und psychische Integrität von Patientinnen und Patienten zu rechtfertigen, aber auch, um Ansprüche auf Solidarleistungen im öffentlichen Gesundheitswesen zu begründen.

Traditionell wurde unter Krankheit eine Störung des Körper oder der Psyche verstanden, die mit einem manifesten Leiden verbunden war. Neue Verfahren, wie "Anti-Aging"-Therapien, die auf die Steigerung körperlicher und psychischer Leistungsfähigkeit abzielen, oder wie genetische Tests, mit denen Krankheiten molekulargenetisch diagnostiziert oder Krankheitsdispositionen sogar vor Ausbruch der Krankheit prädiktiv voraus gesagt werden können, verändern zunehmend unser Verständnis von Krankheit und auch unser Verständnis von unserem Körper, unseren Körperkonzepten und Körperbildern.

Diese Veränderungen sind ethisch höchst relevant. In diesem Kontext ging Dirk Lanzerath zunächst auf die zunehmende Etablierung von Möglichkeiten der Verbesserung der menschlichen Natur wie Plastische Chirurgie, Anti-Aging Verfahren oder Doping ein und fragte danach, welche Veränderung des Verständnisses von Krankheit und ärztlichem Handlungsauftrag damit einhergehen. Rouven Porz dagegen ging es um das subjektive (Krankheits-)Erleben von Patientinnen und Patienten, die eine Gendiagnostik durchlaufen haben. Er stellte Gefühle der Entfremdung und Absurdität in den Vordergrund, die sich bei den Patienten ergeben können, wenn sie mit den Ergebnissen ihres Gentests konfrontiert werden.

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27. Juni 2006
Geschaffenes Leben

Von "Designer-Babys" und "Wunschkindproduktion" - Zum Sprachgebrauch in der Bioethik-Debatte am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik
Silke Domasch, Sprachwissenschaftlerin, Technische Universität Dresden

Von "Jungbrunnen" und "Regenerativer Medizin" - Eine Analyse der Mediendiskussion über die Stammzellforschung
Dr. Beatrix Rubin, Wissenschaftsforscherin, Universität Basel

Im Zentrum von ethischen und politischen Kontroversen über die embryonale Stammzellforschung und die Präimplantationsdiagnostik steht die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens und seiner Schutzwürdigkeit. Dabei spiegelt die Verwendung von Begriffen unterschiedliche Haltungen wieder, wenn der Umgang mit menschlichen Embryonen alternativ etwa als "verwerfen", "nicht implantieren" oder "abtöten" bezeichnet wird. Silke Domasch ging in ihrem Beitrag auf solche Zusammenhänge in der bundesdeutschen Diskussion zur Präimplantationsdiagnostik ein. Sie fragte dabei - exemplarisch für den Umgang mit frühen menschlichen Embryonen - nach dem Zusammenhang von verwendeter Terminologie und den damit transportierten Wertungen. Beatrix Rubin stellte ihre Studie über die Debatte zur embryonalen Stammzellforschung vor. Sie analysierte die diskursiven Strategien und identifizierte zentrale Elemente in der Debatte. Dabei unterschied sie drei Phasen: die wissenschaftliche Entwicklung der embryonalen Stammzellforschung, ihre Rezeption in der Öffentlichkeit sowie die sich daran anschließende Implementierung im wissenschaftspolitischen System. Beiden Beiträgen ging es darum, wie sich auf diskursivem Weg Akzeptanz oder Ablehnung für neue biomedizinische Verfahren durchsetzen kann.

Veröffentlichung der Vorträge:

Silke Domasch, nicht implantieren, verwerfen, absterben lassen - Zur sprachlichen Konstitution neuer biomedizinischer Sachverhalte am Lebensbeginn, in: Grenzen des Lebens, S. 165-178

Beatrix Rubin, Das therapeutische Versprechen der embryonalen Stammzellforschung, in: Grenzen des Lebens, S. 179-192

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9. Mai 2006
Geschenktes Leben

Leben durch den Tod - Wie Angehörige von Organspendern und Organempfängern eine Transplantation erleben
Dr. Vera Kalitzkus, Ethnologin, Gesellschaft zur Förderung Medizinischer Kommunikation (GeMeKo e.V.), Göttingen

"Was schulde ich Dir?" - Moralische Konflikte bei der Annahme einer Lebendorganspende, die Auswirkung auf die Beziehung und wie die Ethik helfen kann
Alexander Wopfner, Arzt, Universitäre Psychiatrische Dienste, Bern

In Bezug auf Organtransplantationen wird oft davon gesprochen, dass dem Organempfänger "ein neues Leben geschenkt wurde". Dabei impliziert "Geschenktes Leben" eine freiwillige, freudvolle Gabe, für die keine Gegenleistung erwartet wird. "Geschenktes Leben" klingt zudem nach neuem Leben, gutem Leben. Ein solches Geschenk hat eine emotionale (Geschenke macht man Menschen, die einem sehr nahe sind) und eine moralische Konnotation.

Durch die postmortale Organspende wird das Sterben eines Menschen direkt mit dem Überleben eines ihm fremden Menschen verbunden: das Überleben des einen ist abhängig von besonderen Bedingungen des Sterbens beim anderen. Wird dabei die Geschenk-Metapher den Empfindungen der Hinterbliebenen und Organempfänger gerecht? Was die Organspende für Hinterbliebene und Organempfänger bedeutet bzw. bedeuten kann, untersuchte Vera Kalitzkus anhand narrativer Interviews mit Betroffenen. Die Ergebnisse der Untersuchung stellte sie auf diesem Kolloquium vor.

Bei der Lebendorganspende stellt sich die Problematik etwas anders dar. Alexander Wopfner zeigte anhand einer qualitativen Untersuchung mit Empfängerinnen und Empfängern einer Lebend-Nierenspende, dass die Sorge des Empfängers für eine mögliche Schädigung des Spenders verantwortlich zu sein, der zentrale Konflikt ist.

Veröffentlichung des Vortrags von Vera Kalitzkus:

Postmortale Organspende im Erleben der Angehörigen, in: Grenzen des Lebens, S. 153-164

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28. März 2006
Lebensverlängerung - um welchen Preis?

"Care" und die Grenzen des Lebens - Thesen zur allgemeinen Gesundheitspolitik und der Rolle der Sterblichkeit des Menschen
Dr. Yvonne Denier, Philosophin, Katholische Universität Leuven

Der sozialrechtliche Behandlungsanspruch und die Grenzen des Lebens
PD Dr. Felix Welti, Jurist, Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Universität Kiel

Das menschliche Leben gehört zu den wichtigsten grundgesetzlich geschützten Gütern. Sozialrechtliche Ansprüche auf medizinische, rehabilitative und pflegerische Sozialleistungen sind Voraussetzung für seine Erhaltung. Vor dem Hintergrund der stetig wachsenden medizinischen Möglichkeiten wird aber immer häufiger die Frage gestellt, ob die Anstrengungen der Lebenserhaltung und -verlängerung nicht auch Grenzen haben sollten. Dabei treffen sich Fragen nach der Selbstbestimmung und der Lebensqualität schwer kranker und sterbender Menschen, nach ihrem Erleben, ihren Wünschen und Interessen, mit sozialrechtlichen und gesundheitsökonomischen Fragen. Aber nach welchen Kriterien wird über Behandlungsbegrenzung oder -abbruch entschieden? Welche Rolle spielen Wille und Wohlergehen des Patienten und welche Rolle spielen gesundheitsökonomische Bedingungen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich Yvonne Denier aus philosophisch-ethischer Sicht.

Oft wird bei schwer kranken Patienten, die in absehbarer Zeit sterben werden, von der Notwendigkeit der Änderung des Behandlungsziels gesprochen. Nicht mehr die Lebenserhaltung sondern die Sterbebegleitung soll dann im Mittelpunkt der ärztlichen und pflegerischen Fürsorge stehen. Nun geht es hier aber nicht mehr primär um den Schutz des Lebens, sondern um die Bedingungen des Sterbens. Können dann überhaupt sozialrechtliche Ansprüche eingefordert werden? Darauf ging Felix Welti in seinem Beitrag ein.

Veröffentlichung der Vorträge:

Denier, Yvonne, "Care" und die Grenzen des Lebens – Thesen zur allgemeinen Gesundheitspolitik und zur Rolle der menschlichen Sterblichkeit, in: Grenzen des Lebens, S. 121-133

Welti, Felix, Der sozialrechtliche Anspruch und die Grenzen des Lebens, in: Grenzen des Lebens, S. 135-152

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14. Februar 2006
Leben an der Grenze zum Tod

Menschen im Wachkoma - Mythos und Lebenswirklichkeit
PD Dr. med. Andreas Zieger, Hirnchirurg und Rehawissenschaftler, Evangelisches Krankenhaus und Universität Oldenburg

Bericht einer pflegenden Angehörigen
Frau Regina Franke

Pflege von Patienten im Wachkoma zwischen Machbarem und ethisch Verantwortbarem
Prof. Christel Bienstein, Pflegewissenschaftlerin, Universität Witten/Herdecke

Wachkoma war in jüngster Zeit ein wichtiges Thema in den Medien, das zum einen im Zusammenhang stand mit der Auseinandersetzung über eine gesetzliche Regelung des Umgangs mit Patientenverfügungen und zum anderen mit dem Fall Terry Schiavo aus den USA, die viele Jahre im Wachkoma gelebt hat bis der Ehemann die Einstellung der künstlichen Ernährung im Streit mit ihren Eltern gerichtlich durchgesetzt hat. Dabei wurde deutlich, dass das Phänomen Wachkoma ganz offensichtlich einen Grenzbereich darstellt, bei dem die gesellschaftlichen Defizite im Umgang mit Menschen mit schweren Beeinträchtigungen besonders deutlich werden. Während für die einen Wachkoma-Patienten mit ärztlicher Hilfe am Sterben gehindert werden, sind sie für andere zwar schwer beeinträchtigt, haben aber dennoch Bedürfnisse, Wünsche und einen Lebenswillen, wie andere Menschen auch.

Andreas Zieger berichtete über die Möglichkeiten aber auch die Grenzen in der Rehabilitation von Menschen im Wachkoma. Er zeigte auf, wie der "therapeutische Nihilismus" auf der Intensivstation überwunden werden kann, aber auch, wie die Patienten nach der Zeit in der Klinik weiterleben. Dabei ergibt sich ein anderes Bild von Menschen im Wachkoma, als wir es aus den Medien kennen.

Ergänzt wurde der Vortrag von Dr. Zieger durch den Bericht von Frau Franke, die als Expertin in eigener Sache über die Pflege ihres Mannes berichtete.

Christel Bienstein stellte in ihrem Beitrag empirische Studienergebnisse über die Pflege von Wachkoma-Patienten vor. Dabei ging sie auch auf die Situation pflegender Familienangehöriger ein. Insbesondere in Bezug auf die Betroffenen, die zu Hause gepflegt werden, machte sie erhebliche gesellschaftspolitische Defizite deutlich.

Veröffentlichung des Vortrags von Andreas Zieger:

Menschen im Wachkoma – Mythos und Lebenswirklichkeit, in: Grenzen des Lebens, S. 105-120

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