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Ethik der klinischen Forschung

IMEW konkret Nr. 5, Februar 2004

Online Version ISSN 1612-9997 © Copyright: IMEW

Mit der Entstehung der modernen Medizin war eine entscheidende Grenzüberschreitung verbunden: Der menschliche Körper wurde zum Objekt der experimentellen Forschung. Dies führte einerseits zu dem medizinischen Fortschritt, wie wir ihn heute kennen, andererseits aber auch zu systematischen Rechtsverletzungen von Patienten und Probanden, die in den Verbrechen der NS-Ärzte gipfelten (Mitscherlich/Mielke 2001).

Die historische Erfahrung hat zur Erkenntnis geführt, dass es für den forschenden Arzt Zielkonflikte geben kann, wenn nicht alleine das Wohlergehen des Patienten handlungsleitend ist, sondern auch Forschungsinteressen verfolgt werden. Deshalb wurden Ethikcodices für die klinische Forschung entwickelt, die die Achtung der Patienten- und Probandenrechte garantieren sollen (z. B. Nürnberger Codex 1947, Deklaration von Helsinki 1964).

Schutz von Patienten- und Probandenrechten

Zum Schutz der Patientenrechte müssen alle ärztlichen Maßnahmen zwei Mindestbedingungen genügen:

1. Der Beitrag zum Wohlergehen des Patienten muss in einem angemessenen Verhältnis zur Verletzung der körperlichen oder psychischen Integrität, die mit einem medizinischen Eingriff verbunden ist, stehen. Deshalb darf auch mit klinischen Versuchen erst begonnen werden, wenn eine ausreichende Grundlage aus Labor- und Tierversuchen vorliegt, um die Erfolgsaussichten und Risiken richtig einschätzen zu können.

2. Für alle medizinischen Maßnahmen ist eine freiwillige und informierte Einwilligung erforderlich, um den Patienten unabhängig vom Vertrauen in das Wohlwollen der Ärzte zu ermöglichen, ihre Rechte eigenständig wahrzunehmen (Schöne-Seifert 1996; Tröhler/Schöne-Seifert 1996).

Darüber hinaus wird unterschieden, ob es sich um "auch eigennützige" oder um "rein fremdnützige" Forschung handelt. Klinische Forschung ist dann "auch eigennützig", wenn diagnostische, präventive und therapeutische Maßnahmen im Rahmen von wissenschaftlichen Studien der Behandlung von Patienten dienen (Hirsch 1995).

Von "rein fremdnütziger" Forschung wird gesprochen, wenn ausschließlich wissenschaftliche Fragestellungen verfolgt werden, von denen der einzelne Proband keinen Vorteil hat (Eser et al. 1989). Dies gilt auch für sog. gruppennützige Forschung, denn auch hier kommt die Forschung nicht dem Probanden selbst zugute, sondern Mitgliedern einer Gruppe, der er angehört. Rein fremdnützige Forschung ist aus ethischer und rechtlicher Sicht deshalb heikel, weil eine Schädigung des Probanden nicht durch einen Beitrag zu seinem Wohlergehen "ausgeglichen" werden kann. Deshalb gilt diese nur dann als akzeptabel, wenn "hochrangige" wissenschaftliche Zielsetzungen nicht anders erlangt werden können, die Risiken und Belastungen vertretbar sind und der Proband umfassend informiert und frei von direktem oder indirektem Zwang eingewilligt hat.

Zudem sollte das Einhalten der geforderten wissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Standards von Ethikkommissionen geprüft werden.

Forschung mit Nichteinwilligungsfähigen

Nicht alle Menschen besitzen die für eine Einwilligung erforderlichen kognitiven Fähigkeiten. Kinder und Jugendliche entwickeln diese erst im Laufe ihrer Entwicklung, andere haben sie zeitweise (z. B. Unfallopfer, Intensivpatienten) oder ganz (z. B. durch Altersdemenz) verloren. Um den Schutz ihrer Rechte zu gewährleisten, muss daher auf das Konzept der "stellvertretenden Einwilligung" zurückgegriffen werden. Die Berechtigung, stellvertretend einzuwilligen, ist eng an das Sorgeverhältnis für die betroffene Person gebunden. Wer eine stellvertretende Einwilligung erteilt, ist dazu verpflichtet, im vorausgesetzten Einverständnis der nicht einwilligungsfähigen Person zu entscheiden (Kopelmann 1989). Das entspricht auch den einschlägigen Regelungen im deutschen Vormundschafts- und Betreuungsrecht.

Als "im Eigeninteresse von Nichteinwilligungsfähigen" kann lediglich das eigene gesundheitliche Wohlergehen angenommen werden, nicht jedoch ein Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt. Stellvertretende Einwilligungen dürfen demzufolge nur zu Forschungen gegeben wer, die aus der Perspektive der vertretenen Person eigennützig sind.

Seit einigen Jahren ist das so begründete Verbot der rein fremdnützigen Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen, das im Nürnberger Codex von 1947 und in der Deklaration von Helsinki 1994 festgeschrieben wurde, Gegenstand von Kontroversen. Sowohl das "Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin" (Europarat 1997) als auch die Neufassung der Deklaration von Helsinki (World Medical Association 2000) eröffnen die Möglichkeit der rein fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligungsfähigen unter bestimmten Bedingungen. Von Kritikern wurde das als "Dammbruch" gewertet.

Deshalb hat die Bundesregierung die "Biomedizin-Konvention" bisher nicht unterzeichnet. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie "Good Clinical Practice" (Europaparlament 2001) in das deutsche Arzneimittelgesetz (Deutscher Bundestag 2003) soll nun erstmals rein fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen eingeschränkt zugelassen werden.

Gruppennützigkeit - ein utilitaristisches Prinzip

Die Gesetzesnovelle wirft eine Reihe von ethischen und rechtlichen Problemen auf. Es ist vorgesehen, dass "gruppennützige" Maßnahmen im Rahmen der Arzneimitteltestung an Minderjährigen zulässig sind, sofern diese alternativlos sowie nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sind. Das heißt, zukünftig sollen zusätzliche Untersuchungen wie Wiegen, Messen, Blutabnahmen etc., die für die Forschung, nicht aber für die Behandlung des Kindes notwendig sind, zulässig sein. Gemeint ist damit aber nicht die Gabe von Prüfmedikamenten, weil diese immer mit einem mehr als minimalen Risiko verbunden ist. Prüfmedikamente dürfen auch zukünftig nur verabreicht werden, wenn dies der Behandlung des Kindes dient.

Die neuen Regelungen sind aus drei Gründen umstritten: Erstens steht zur Debatte, ob eine wenn auch stark eingeschränkte Zulassung fremdnütziger Forschung an Kindern und Jugendlichen nicht mit grundlegenden ethischen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Konflikt gerät, zweitens wird kontrovers diskutiert, ob die Gesetzesänderung eine Lösung der Probleme mit der Prüfung von Arzneimitteln in der Kinderheilkunde überhaupt leisten kann, und drittens wird befürchtet, dass dies ein Türöffner für weitergehende fremdnützige Forschung sein könnte (Enquete-Kommission 2003).

Zwischen "Gruppen-" und "Fremdnützigkeit" besteht aus ethischer und verfassungsrechtlicher Sicht kein relevanter Unterschied, denn in beiden Fällen kommen die Forschungsergebnisse nicht unmittelbar dem Probanden zugute, sondern sind "drittnützig" (Taupitz 2003). Von Mitgliedern einer definierten Solidargemeinschaft die Aufopferung von Rechtsgütern zum Vorteil anderer Gruppenmitglieder zu fordern, ist aber grundsätzlich problematisch (Picker 2000). Darüber hinaus eröffnen die Einschränkungskriterien der Alternativlosigkeit sowie der minimalen Belastung und des minimalen Risikos einen erheblichen Interpretationsspielraum.

Unbestritten gibt es einen Mangel an zugelassenen Arzneimitteln in der Kinderheilkunde, weshalb vielfach auf nicht an Kindern geprüfte Medikamente zurückgegriffen werden muss (Schwab et al. 2000; Seybert et al. 2002). Fraglich ist aber, ob dies wesentlich an den bisherigen gesetzlichen Rahmenbedingungen liegt. Wichtiger scheint das geringe Interesse der Pharmaindustrie zu sein, solche Prüfungen zu finanzieren. Die Gruppen kranker Kinder mit ihren altersspezifischen Reaktionseigenschaften stellen oft einen so kleinen Absatzmarkt dar, dass sich die hohen Zulassungskosten ökonomisch nicht rechnen.

In der Gesetzesnovelle wird rein fremdnützige Forschung mit behinderten Menschen explizit ausgeschlossen. Dennoch ist fraglich, ob sich die "Gruppennützigkeit" auf Dauer auf die Arzneimitteltestung in der Kinderheilkunde beschränken lässt. Die Unzulässigkeit rein fremdnütziger Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen schränkt auch die Grundlagenforschung in der Kinderheilkunde besonders mit Frühgeborenen, die Forschung mit Unfallopfern und Komapatienten, Menschen mit geistiger Behinderung, Altersdemenz und psychischen Krankheiten ein. In all diesen Fällen ließen sich "Gruppen" beschreiben, zu deren Nutzen die Forschung wäre.

Aus ethischer und verfassungsrechtlicher Sicht muss daher die grundsätzliche Frage diskutiert werden, in welchem Verhältnis die "Gruppennützigkeit", die ja ein utilitaristisches Prinzip darstellt, zum Schutz der Rechte von nichteinwilligungsfähigen Menschen steht.

Sigrid Graumann

Literatur

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  • Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin (2004): Gutachtliche Stellungnahme vom 26.01.2004 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes BT-Drs. 15/2109.
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  • Taupitz, Jochen (2003): Forschung mit Kindern. Juristen Zeitung 58, 3, S. 109-160.
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  • Vollmann, Jochen (2000): "Therapeutische" versus "nicht-therapeutische" Forschung - eine medizinethisch plausible Differenzierung? Ethik in der Medizin 12, S. 65-74.
  • World Medical Association (1964/2000): Declaration of Helsinki/Edinburgh. Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects. URL: http://www.wma.net

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