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Anforderungen von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung an das Gesundheitssystem

IMEW konkret Nr. 9, Februar 2007

Online Version ISSN 1612-9997 ©Copyright: IMEW

Das Gesundheitssystem in Deutschland ist vom Grundsatz der Solidarität geprägt: Wechselfälle des Lebens, die der Einzelne nicht tragen kann, sollen aufgefangen werden. Die Solidarität durch die gesetzliche Krankenversicherung wirkt in zwei Richtungen. Einerseits ist es eine Solidarität der Gesunden mit den Kranken, da beide gleiche Beitragssätze zahlen, andererseits eine Solidarität der Besserverdienenden mit den Schlechterverdienenden, da sich der Beitragssatz am Einkommen orientiert. (Neumann u.a. 2005)

Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung sind meist in besonderer Weise auf diese Solidarität angewiesen - sie benötigen häufiger Leistungen der Gesundheitsversorgung und verfügen oft über ein unterdurchschnittliches Einkommen. Seit dem GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 werden ihre besonderen Bedürfnisse und Anforderungen explizit anerkannt. Es heißt in §2a des SGB V: "Den besonderen Belangen chronisch kranker und behinderter Menschen ist Rechnung zu tragen."

Einerseits zeigt sich so besonders bei Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, ob bei Umgestaltungen des Gesundheitswesens weiterhin der Grundgedanke der Solidarität maßgeblich ist, das heißt, ob das Ziel einer solidarischen Gesundheitsversorgung erreicht wird. Andererseits stellt sich die Frage, welches die besonderen Bedarfe von Menschen mit einer Behinderung und chronischen Krankheiten bezogen auf die Gesundheitsversorgung sind.

Anforderungen von Menschen mit Behinderung an das Gesundheitssystem

Für Menschen mit Behinderung müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit sie die Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen können. Dazu gehören beispielsweise barrierefrei zugängliche Arztpraxen oder besondere Formen der Kommunikation, sei es für Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Sinneseinschränkungen. Die Kommunikation mit gehörlosen Menschen ist häufig erst durch die Unterstützung eines Gebärdendolmetschers möglich. Andere benötigen eine schriftliche Diagnose. Wichtige Grundvoraussetzung für eine gelingende Kommunikation ist darüber hinaus die Anerkennung, dass die Behinderung Teil ihrer Identität ist. (Saal 1994, Vernaldi 2003, Riegler 2006)

Ein weiterer Gesichtspunkt ist ein verändertes Krankheitsauftreten, ein anderes Spektrum an Krankheitszeichen sowie die Notwendigkeit, verschiedene medizinische Maßnahmen zu koordinieren, da bei Menschen mit Behinderungen oft verschiedene Gesundheitsstörungen gleichzeitig vorliegen. In Abhängigkeit von der Behinderung kann es einen quantitativen Mehrbedarf und einen qualitativ besonderen Bedarf an gesundheitlichen Leistungen geben. (Seidel 2005)

Diesen besonderen Anforderungen von Menschen mit Behinderung wird bisher nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Ihre Besonderheiten werden bisher nur sehr lückenhaft in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von im Gesundheitswesen Tätigen berücksichtigt (Nicklas-Faust 2002), so dass spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten für die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen fehlen. Nach wie vor existieren viele bauliche Barrieren. (Köbsell 2003)

Anforderungen von Menschen mit chronischen Erkrankungen an das Gesundheitssystem

Menschen mit chronischen Erkrankungen sind per definitionem nicht nur vorübergehend krank und deshalb auf das Gesundheitssystem über einen längeren Zeitraum, oft ihr ganzes Leben lang, regelmäßig angewiesen. In der Regel haben sie einen höheren Bedarf als Menschen ohne chronische Erkrankungen an Medikamenten, Heilmitteln und anderen Therapien, aber auch an psychosozialer Unterstützung, wie sie jetzt beispielsweise in den Disease Management Programmen vorgesehen ist. Für sie ist es darüber hinaus wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte anerkennen, dass das Ziel der Behandlung nicht die Heilung, sondern eher die Linderung von Symptomen oder die Vermeidung einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist.

Beispiele für strukturelle Benachteiligungen

Ein wesentliches Ziel der bisherigen Gesundheitsreformen war es, Kosten durch Leistungseinschränkungen zu senken oder Einnahmen durch die Einführung von Selbstbeteiligungen zu erhöhen. Solche Veränderungen treffen insbesondere diejenigen, die auf medizinische Leistungen angewiesen sind und die nur über ein niedriges Einkommen verfügen. Für sie sind Eigenleistungen meist eine große Belastung.

Die ökonomische Situation von Menschen mit Behinderung und von Menschen mit chronischen Erkrankungen ist im Durchschnitt schlechter als die von Menschen ohne Behinderung. Sie sind überdurchschnittlich häufig erwerbslos, arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung oder sind frühverrentet und ihr Einkommensniveau ist niedrig. (Seidel 2005) Da sie oft nur über sehr geringe Finanzmittel verfügen, stellen aktuell gültige Zuzahlungsregelungen und Erstattungsausschlüsse eine Hürde für eine adäquate gesundheitliche Versorgung dar.

Die Festbetragsregelung für Hörgeräte führt beispielsweise dazu, dass Menschen mit hochgradigen und komplizierten Hörbehinderungen hohe Zuzahlungen leisten müssen. (Stötzer-Manderscheid 2004) Für Menschen mit einem geringen Einkommen können nicht erstattungsfähige Medikamente unbezahlbar werden, in besonderer Weise trifft dies auf Heimbewohner zu, die lediglich über ein Taschengeld verfügen. (Schumacher 2004)

Eine andere Form der Benachteiligung ist die fehlende Möglichkeit, an Bonus-Programmen der Krankenkassen teilzunehmen, da sich diese durchweg an gesunde und nichtbehinderte Menschen richten.

Auch sind Ziele von Präventionsprogrammen bisher fast ausschließlich die Vermeidung von Krankheiten (Primärprävention), nicht die Vermeidung einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (Sekundär-, bzw. Tertiärprävention). Sie richten sich also in erster Linie an gesunde Menschen und berücksichtigen nicht, dass es sowohl im Sinne von Menschen mit chronischen Erkrankungen als auch im Sinne des Gesundheitssystems wäre, wenn Präventionsmaßnahmen durchgeführt und gefördert würden, die eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes verhindern.

Resümee

Reformen des Gesundheitswesens sollten schon im Entstehungsprozess im Sinne eines "Disability Mainstreaming" (analog dem "Gender Mainstreaming") auf ihre Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen überprüft werden - zum Beispiel hinsichtlich drohender Versorgungslücken -, um gegebenenfalls gegensteuern zu können.

Dazu ist ein Perspektivenwechsel notwendig. So wichtig der Gedanke ist, dass im Gesundheitssystem Kosten eingespart werden müssen und können, so entscheidend ist auch, anzuerkennen, dass es Bereiche gibt, wo es notwendig ist, im Sinne des Solidargedankens mehr Geld auszugeben, um die besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen zu berücksichtigen. Hierfür ist eine Prioritätensetzung innerhalb des Gesundheitssystems wichtig, die sich in erster Linie an den Interessen von Patientinnen und Patienten orientiert, die daher gleichberechtigt an den Diskussionen zu beteiligen sind.

Damit die Zielvorgabe des GKV-Modernisierungsgesetzes, den besonderen Belangen von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen Rechnung zu tragen, konkretisiert werden kann, bedarf es einer konzeptionellen Diskussion, um ergänzende Kriterien der GKV-Leistungsgewährung zu formulieren, die die jeweils individuelle Situation berücksichtigen. (Seidel 2005)

Bei alldem ist es von besonderer Bedeutung, die Lebensrealität und Identität von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen wahrzunehmen und anzuerkennen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die besonderen Belange in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe wie auch im medizinischen Alltag zu berücksichtigen - was auch ohne zusätzliche Kosten möglich ist.

Jeanne Nicklas-Faust
Katrin Grüber

Literatur

  • Graumann, Sigrid / Grüber, Katrin (2004) (Hrsg.): Patient - Bürger - Kunde. Soziale und ethische Aspekte des Gesundheitswesens. Münster: LIT.
  • Köbsell, Swantje (2003): Behinderte und Medizin - Ein schwieriges Verhältnis. In: Akademie für Ethik in der Medizin, Arbeitsgruppe "Medizin(ethik) und Behinderung" (Hg.): Behinderung und medizinischer Fortschritt. Göttingen, 31-41.
  • Neumann, Volker / Nicklas-Faust, Jeanne / Werner, Micha (2005): Wertimplikationen von Allokationsregeln, -verfahren und -entscheidungen im deutschen Gesundheitswesen (mit Schwerpunkt auf dem Bereich der GKV). In: Gutachten im Auftrag der Enquête-Kommission "Ethik und Recht der Modernen Medizin" des Deutschen Bundestages, Berlin, S. 46 ff
  • Nicklas-Faust, Jeanne (2002): Die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung in Deutschland. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.): Eine behinderte Medizin?! Zur medizinischen Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung. Marburg, S. 19-28.
  • Ofman, Joshua J. u.a. (2004): Does disease management improve clinical and economic outcomes in patients with chronic disease? A systematic review. American Journal of Medicine (Am J Med) 117 (3), S. 182-192.
  • Riegler, Christine (2006): Behinderung und Krankheit aus philosophischer und lebensgeschichtlicher Perspektive. Berlin: Institut Mensch Ethik und Wissenschaft.
  • Saal, Fredi (1994): Leben kann man nur sich selber. Texte 1960-1994. Düsseldorf: Verl. Selbstbestimmtes Leben.
  • Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003): Gutachten 2003 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Band I und II. Drucksache 15/530 des Deutschen Bundestages.
  • Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001): Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation. Drucksache 14/5660 des Deutschen Bundestages.
  • Sawicki, Peter (2005): Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Ein randomisierter simultaner Sechs-Länder-Vergleich aus Patientensicht. Medizinische Klinik (Med Klein) 100 (11)
  • Schumacher, Norbert (2006): Noch viele Fragezeichen: Gesundheitsreform 2006 hat Risiken und Nebenwirkungen. Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 4/2006, S. 147-152.
  • Schumacher, Norbert (2004): Das Dilemma der Rechtsprechung zur Kostenübernahme von Gesundheitsleistungen durch die Sozialhilfe. Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 3/2004, S. 123-126.
  • Seidel, Michael (2005): Kriterien der Leistungsgewährung für Menschen mit Behinderung. Konsequenzen des geänderten Sozialrechts. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 102, Heft 23, S. A-1654 / B-1389 / C-1310.
  • Stötzer-Manderscheid, Barbara (2004): Wie wirken die Instrumente der Gesundheitsreform auf Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Vortrag auf der Tagung Bedarfsgerechtigkeit im Gesundheitssystem? Zur Lage chronisch kranker und behinderter Menschen nach der Gesundheitsreform, Institut Mensch Ethik und Wissenschaft und Katholische Akademie in Berlin, 7. September 2004.
  • Vernaldi, Matthias (2003): Der schiefe Baum. In: Akademie für Ethik in der Medizin, Arbeitsgruppe "Medizin(ethik) und Behinderung" (Hg.): Behinderung und medizinischer Fortschritt. Göttingen, S. 28.

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