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Laudatio für die Nachwuchspreisträgerin Anika Mitzkat

Prof. Dr. Linus S. Geisler

Zur Verleihung des ersten IMEW-Nachwuchspreises am 23. Oktober 2006 in der Urania, Berlin

In seinem Buch Ich und Du schreibt Martin Buber [ 1 ], der Mensch sei eine Anrede an die Welt. Diese Anrede bewirkt Antworten der Welt, genauer der Gesellschaft, der Umgebung, der Nächsten, der Angehörigen.

Der Mensch im Wachkoma ist natürlich ebenfalls Anrede an die Welt, wenngleich nicht mit Worten, so doch mit der Offensichtlichkeit seines Leidens, seiner Vulnerabilität, seinem Ausgeliefertsein, seiner Wehrlosigkeit. In traditioneller Sicht erfährt der Wachkomapatient Antworten vor allem von seinen Nächsten, das heißt von den pflegenden Angehörigen. Die Vorstellung, dass dies ausschließlich in einer dyadischen Pflegebeziehung geschieht, greift - wie Sie gezeigt haben - allerdings zu kurz.

In Ihrer Arbeit, Frau Mitzkat, zur "Stellung der Angehörigen in der Gesundheitsversorgung im Licht des Dritten" weisen sie auf eine praktisch folgenreiche Forschungslücke hin: Obwohl "der Angehörige" in der heilberuflichen Praxis und Forschung ein fester Bezugspunkt ist, fehlt bisher eine fundierte und disziplinübergreifende Analyse des Begriffs des Angehörigenund seiner Bedeutung im Versorgungszusammenhang.

In Ihrer Untersuchung entwickeln Sie nun einen praktischen Begriff des Angehörigen, um diese Lücke zu schließen, die sich aus der Widersprüchlichkeit zwischen Wissensstand zu "Angehörige in der Gesundheitsversorgung" und der tatsächlichen Komplexität des Themas ergibt.
Wie groß das praktische Problem der Pflege im Wachkoma einzuschätzen ist, geht daraus hervor, dass ca. 60 bis 75 Prozent der Menschen, die sich dauerhaft im Zustand des Wachkoma befinden, im häuslichen Umfeld leben und dort mit erheblichem Engagement Angehöriger betreut werden.

Worum es also im Kern geht ist, unterschiedliche Perspektiven der Angehörigen und der Dritten zu erfassen und sie in einer Weise zusammenzuführen, die dem Wohl des Wachkomapatienten am besten dient. Als "Dritter" wird ein Akteur im Gesundheitswesen verstanden.

Die Perspektive des Kranken selbst ist im Wachkoma auf Mutmaßungen und Annäherungen angewiesen. Freilich sind tradierte Vorstellungen zum Wachkoma als einem Zustand der Unfähigkeit zu bewusster Wahrnehmung und Erfahrung der Umwelt korrekturbedürftig. Der Wachkomapatient als "Defizit-Figur" sollte im Licht einer beziehungsorientierten medizinischen Anthropologie längst überwunden sein (A. Zieger [ 2 ]. Dies wird unter anderem durch die neuesten, Aufsehen erregenden Untersuchungen von Adrian M Owen und seiner Gruppe [ 3 ], publiziert im September in der Zeitschrift SCIENCE, gestützt. Mittels funktioneller Kernspintomographie konnte Owen bei einer jungen Wachkomapatienten zeigen, dass beispielsweise die Aufforderung, sich ein Tennisspiel vorzustellen oder die verschiedenen Räume ihres Hauses zu begehen, zu Hirn-Aktivitäten der Patientin führten, die nicht von denen junger gesunder Versuchspersonen zu unterscheiden waren. Folgerichtig trägt seine Arbeit den Titel "Detecting Awareness in the Vegetative State".

Ihr Verdienst, Frau Mitzkat, ist es, das Modell einer triadischen Pflegebeziehung entworfen zu haben. Ihre These ist, dass die Stellung des Angehörigen sich nicht nur aus der Dyade seiner Beziehung zum pflegebedürftigen Menschen bestimmt, sondern abhängig ist von einem Dritten.

Sie haben drei Verhältnisse aufgezeigt, in denen der Angehörige im Kontext der Gesundheitsversorgung erscheint: Die Stellung des Angehörigen als Hauptperson und als Nebenperson beschreibt das Außenverhältnis seiner Pflegebeziehung in Abhängigkeit von seiner Autonomie vom Dritten bzw. der Art der Zugehörigkeit zum Menschen im Wachkoma. Die Stellung des Angehörigen als Partner hingegen beschreibt im Innenverhältnis der Triade die Gestaltungsmöglichkeit des Angehörigen in Relation zum Dritten, der ebenfalls als Beteiligter handelnd auftritt.

Die Anerkennung durch den Dritten bildet dabei das "Nadelöhr" der Rechte und Pflichten der Angehörigen, die einen Menschen im Wachkoma pflegen. Es sei daher die Frage zu stellen, wie mit der Ungleichheit der Angehörigen in Kontexten, in denen sie als gleich gelten sollen, umgegangen werden soll.

Die Erkenntnis Ihrer Arbeit ist also, dass die Stellung der Angehörigen aus verschiedenen Blickrichtungen zu beschreiben ist. Entscheidend dabei ist, dass das jeweilig vom Angehörigen Gesollte, Gemusste, Gedurfte und Gewünschte je nach dem oder den Drittem variiert und dabei in sich widersprüchlich sein kann. Es würde daher eine unzulässige und folgenreiche Verkürzung darstellen, den Angehörigen als eine quasi nur statische und stereotype Figur zu begreifen.

Bei Entscheidungen am Lebensende von Patienten fallen Angehörigen unterschiedliche Rollen zu. Im Hinblick auf das Instrument der Patientenverfügung treten sie als Adressat, Stellvertreter und Informationslieferant in Erscheinung.

In wie einschneidendem Maß Perspektiven des Dritten in dieser Situation zum Tragen kommen können, geht aus einer beeindruckenden Studie der Juristin Anne Schäfer hervor. Frau Schäfer hat die richterliche Entscheidungsdeterminanten des Behandlungsabbruchs bei sog. Wachkomapatienten empirisch untersucht. [ 4 ] Eine der zentralen Determinanten war das medizinische Wissen der befassten Richter bzw. ihr Bild von dem, was Wachkoma sei. Sahen die Richter aus mangelndem Sachverstand z. B. Wachkomapatienten als "Hirntote" an, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit zur Genehmigung eines Behandlungsabbruchs um das Neunfache!

Sie verweisen mit Nachdruck auf die Bedeutung einer Theorie des Angehörigen im Licht des Dritten für die normativen Instrumente der Gesundheitsversorgung.

Die Analyse der Perspektiven der Akteure, die um die Versorgung des Wachkomapatienten bemüht sind, eröffnet die Chance, diese Perspektiven systemisch miteinander in Beziehung zu setzen (Perspektivenvarianz [ 5 ] ). Dies könnte man, so meine ich, als "Perspektivenkonvergenz" bezeichnen, ein Vorgehen, das sich in ethisch problematischen Feldern als erfolgreich erwiesen hat.

Ihre Arbeit kommt gerade zur rechten Zeit. Denn, so führen Sie selbst aus, Autonomie und Selbstbestimmung des Patienten, Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung und Haltbarkeit des Solidaritätsprinzips befinden sich derzeit auf der Höhe ihrer Problematik in den verschiedenen gesundheits- und sozialpolitischen Debatten sowie in der Praxis der Gesundheitsversorgung.

Sie schlagen für die weitere Erforschung der hier diskutierten Themen einen praktischen Begriff des Angehörigen vor, der darauf verweist, dass Angehörigkeit mehr als ein Status quo und verbunden ist mit spezifischen Anforderungen und Aufgaben, Rechten und Pflichten, die veränderbar sind.

Die Herausforderung an die Wissenschaften der Heilberufe sei es, betonen Sie, konstruktiv zu der Diskussion um die normativen Instrumente der Patientenverfügung, der Vorsorgevollmacht und des Betreuungsrechts beizutragen und als Fürsprecher einer vulnerablen Gruppe im Kontext der sozialen Gesetzgebung aufzutreten.

Ein Blick auf Ihre berufliche und wissenschaftliche Vita ist beeindruckend. Nach Ihrem Abitur vor zehn Jahren erhielten Sie die Ausbildung zur Krankenschwester und übten dann drei Jahre in Vollzeittätigkeit diesen Beruf auf einer neurochirurgischen Intensivstation aus. Danach Studium der Pflegewissenschaften mit dem Grad des Bachelor of Science in Nursing und nun auch Studium der Philosophie. Ihre umfangreiche Forschungs-, Vortrags- und Lehrtätigkeit betrifft vielfältige Aspekte der Pflege: so z. B. Sprache und Pflege, palliativmedizinische Themen, Fragen der Pflegeethik und eben auch die Stellung des Angehörigen. Insofern führt ein direkter Weg zu dieser Ihrer mit dem Nachwuchspreis ausgezeichneten Arbeit.

Mir persönlich sympathisch ist, dass Sie auch über den Tellerrand der Medizin hinausschauen und einen vergleichenden Blick auf die Belletristik werfen, so z. B. in Ihren Ausführungen zur "Konstitution der Wirklichkeit von Bettlägerigkeit" an Samuel Becketts Roman "Malone stirbt". [ 6 ]

Versorgungsforschung ist definitionsgemäß die "wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen." [ 7 ] Ihre Arbeit stellt einen hervorragenden Beitrag im Rahmen der Versorgungsforschung dar. Die Einzelnen, um die es darin geht, sind jene Verletzlichen, Ausgelieferten, Schwerstpflegebedürftigen, denen noch immer nur eine Art Schattendasein zugewiesen wird. In diesem Schattenbereich sind sie davon abhängig, dass Andere das "Lesen im Buch" ihres Körpers erlernen - so drückte es einmal die Mutter eines Kindes im Wachkoma aus. Sie, d.h. die Angehörigen haben es schwer, in diesem Schattenbereich in ihren vielfältigen Rollen differenziert gesehen zu werden: als Haupt- oder Nebenperson, als Hilfskraft und nicht selten selbst als Patienten. Auf sie richtet sich der Blick des oder der Dritten von außen und versucht, ihnen Aufgaben, Pflichten und Rollen zuzuweisen.

Es ist Ihr großes Verdienst, in das System dieser triadischen Beziehung viel klärendes Licht gebracht zu haben! Damit haben Sie ohne Frage jenen Preis verdient, mit dem Sie heute ausgezeichnet werden.

Eine Laudatio ohne Bezug auf Goethe? Ich denke Nein: Lob zu erhalten, so ist sinngemäß in Goethes Dichtung und Wahrheit zu lesen, sei ein Vergnügen - falls man dafür eine gewisse Empfänglichkeit habe [ 8 ]. Sicher werden Sie dem zustimmen. Aber ich möchte ergänzen: Auch Lob zu spenden, ist gewiss nicht ohne Vergnügen!


  1. Buber M: Ich und Du. Köln 1966
  2. Zieger A: "Der Wachkomapatient als Mitbürger" Lebensrecht und Lebensschutz von Menschen im Wachkoma und ihren Angehörigen in der Solidargemeinschaft. 2002. www.wachkoma.at/Informationen/jahrestagung_2002/zieger.pdf
  3. Owen AM, Coleman MR, Boly M, Davis M H, St Laureys, J D Pickard: Detecting Awareness in the Vegetative State. Science, 8 September 2006, Vol. 313, 1402
  4. Schäfer A: Richterliche Entscheidungsdeterminanten des Behandlungsabbruchs bei sog. Wachkomapatienten. In: Höfling, W. (Hrsg.) Das sog. Wachkoma. Rechtliche, medizinische und ethische Aspekte. Münster. 2005. S. 11-28
  5. Baumann-Hölzle R, Arn Chr: Nutzen oder Würde - zwei ethische Paradigmen im Widerstreit. Ethiktransfer in der Medizinethik am Beispiel der Schweiz. In: Hoffmann Th S, Schweidler W(Hrsg.) Normkultur vs. Nutzenkultur. Berlin 2006. S. 117 - 172
  6. Beckett S: Molloy. Paris 1982
  7. Schiner S: Versorgungsforschung - Argumentationshilfe für ärztliche Forderungen. Ärzte Zeitung, 11.10.2006
  8. Goethe JW von: Dichtung und Wahrheit III,15.

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