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Stellungnahme zur Nutzung genetischer Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen

Gemeinsame Stellungnahme der Träger des IMEW, 6. April 2006

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Die Nutzung von genetischen Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen kann mit einem erheblichen Diskriminierungspotenzial für Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten und für deren leibliche Angehörige verbunden sein. Das Gendiagnostikgesetz, das in der letzten Legislaturperiode diskutiert, aber auf Grund der vorgezogenen Neuwahlen nicht mehr verabschiedet wurde, sah im Unterschied zur kürzlich verabschiedeten Stellungnahme des Nationalen Ethikrats einen weitgehenden Diskriminierungsschutz Betroffener vor. Mit der vorliegenden Stellungnahme fordern die unterzeichnenden Verbände die Abgeordneten des Deutschen Bundestags auf, die Nutzung genetischer Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen im Sinne eines konsequenten Schutzes der Betroffenen vor Diskriminierung zu regeln. Vor dem Hintergrund der bestehenden Benachteiligung auf dem Arbeits- und Versicherungsmarkt und insbesondere der zunehmenden Bedeutung der privaten Altersvorsorge, kommt dieser Forderung für Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten sowie für deren Angehörige besondere Bedeutung zu.

Was sind prädiktive Gentests?

Durch die Fortschritte der Humangenomforschung sind immer mehr Gentests verfügbar, mit denen auch genetische Veränderungen auf molekularer Ebene entdeckt werden können. Mit der Genchip-Technologie wird es voraussichtlich in absehbarer Zeit möglich sein, eine große Zahl von Krankheitsanlagen gleichzeitig zu bestimmen. Mit Hilfe von Gentests können klinische Verdachtsdiagnosen bestätigt, aber auch genetische Anlagen für Krankheiten, die erst später im Leben (z.B. Chorea Huntington) oder nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (z.B. erblich bedingte bzw. mitbedingte Krebserkrankungen) auftreten werden, diagnostiziert werden. In den letzten beiden Fällen spricht man von "prädiktiven Gentests".

Welche Folgen können prädiktive Gentests haben?

Prädiktive Gentests liefern "sensible Informationen", zum einen, weil mit ihnen Informationen über Risiken für zukünftige Krankheiten gewonnen werden können und zum anderen, weil damit gegebenenfalls auch Aussagen über genetische Veranlagungen von leiblichen Angehörigen ermöglicht werden. Für beide, für den Getesteten selbst wie für die möglicherweise mittelbar betroffenen Angehörigen, kann das Wissen über die genetische Konstitution Auswirkungen auf die Lebensführung und Familienplanung haben: Soll ich ein Studium mit ungewissen Berufsaussichten aufnehmen, wenn ich mit großer Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken werde? Oder sollte ich unter diesen Umständen nicht besser auf eine sichere Daueranstellung setzen? Kann ich angesichts eines erhöhten Krankheitsrisikos überhaupt die Verantwortung für Kinder übernehmen? Oder wäre es sogar verantwortungslos, die Anlage möglicherweise an die nächste Generation weiterzugeben? Solche und andere Fragen, die sich in Folge einer prädiktiven Gendiagnostik stellen, können zu psychischen Belastungen und erheblichen moralischen Konflikten führen. Das gilt auch, wenn bzw. gerade weil der Zusammenhang zwischen diagnostizierbaren genetischen Veränderungen und tatsächlich auftretenden Krankheiten vielfach komplex und noch wenig verstanden ist. Weitere Fragen treten in Bezug darauf auf, wie Dritte mit solchen Informationen gegebenenfalls umgehen werden: Habe ich überhaupt die Möglichkeit eine gewünschte Anstellung zu bekommen, sollten Arbeitgeber von meiner genetischen Veranlagung erfahren? Und wenn ich freiberuflich arbeiten will (oder muss, weil ich keine sozialversicherungspflichtige Anstellung bekomme), bekomme ich mit einem erhöhten "genetischen Risiko" eine private Kranken-, Berufsunfähigkeits-, Lebens- und Rentenversicherung, die für meine soziale Absicherung und die meiner Familie ausreichend ist und die ich bezahlen kann? Daran wird folgendes deutlich: Sollten Arbeitgeber und Versicherungsgesellschaft Zugang zu prädiktiven genetischen Daten bekommen, ist dies offensichtlich mit einer erheblichen Diskriminierungsgefahr für die Betroffenen verbunden.

Worin besteht die neue Qualität von genetischen Informationen?

Gesundheitsinformationen, die durch prädiktive Gentests gewonnen werden, besitzen im Unterschied zu anderen Gesundheitsinformationen eine neue Qualität. Diese besteht in erster Linie in der rasch wachsenden Zahl identifizierter und charakterisierter Gene, die die Möglichkeit der Erstellung von Risikoprofilen für verschiedene Krankheiten realistisch werden lässt, sowie aus dem auf die Zukunft bezogenen vorhersagenden Charakter; prädiktive Gentests erlauben Aussagen über zukünftig mögliche Krankheitszustände, ohne dass eine aktuell manifeste körperliche Veränderung (wie z. B. ein hoher Cholesterinspiegel als Risikofaktor für einen Herzinfarkt) vorliegt. Sie können deshalb viel früher als konventionelle Diagnose-Methoden Aussagen über zukünftige Krankheitszustände treffen. Diese Aussage ist meist jedoch viel unsicherer, da auch genetisch beeinflusste Krankheiten in der Regel multifaktoriell bedingt sind, und mit dem Gentest nur ein beeinflussender Faktor erfasst wird. Prädiktive genetische Informationen bleiben das ganze Leben bestehen, auch wenn ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des Betroffenen beeinflusst werden kann. Sollten genetische Risikoprofile zukünftig einmal zur Voraussetzung für den Erhalt eines Arbeitsplatzes gemacht werden oder zur Bestimmung der Höhe von Prämien bzw. Beitragszahlungen zu privaten Lebens- und Krankenversicherungen genutzt werden, kann es zu erheblichen Benachteiligungen von Personengruppen kommen. Davon wären Personen, in deren Familie erblich bedingte Krankheiten vorkommen, besonders betroffen.

Wie wird der Umgang mit genetischen Informationen derzeit diskutiert?

Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu genetischen Informationen und gleichermaßen das Recht auf Nichtwissen seiner genetischen Konstitution sowie auf Verweigerung der Kenntnisnahme von genetischen Informationen. Aus diesem Grund muss gewährleistet werden, dass für die Durchführung eines Gentests - und dies gilt besonders für prädiktive Gentests - eine freiwillige und informierte Entscheidung vorliegt. Jede Form direkten oder subtilen Drucks oder Zwangs zur Durchführung eines prädiktiven Gentests muss ausgeschlossen werden.

Es muss Arbeitgebern und Versicherungen daher untersagt werden, die Durchführung von prädiktiven Gentests im Rahmen von Einstellungsuntersuchungen oder Gesundheitsprüfungen vor einem Versicherungsabschluss zu verlangen. Dies entspricht auch den Empfehlungen der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin zur Gendiagnostik (2002) sowie dem Entwurf zu einem Gendiagnostikgesetz der Bundesregierung aus dem Jahre 2004. Mit den Empfehlungen des Nationalen Ethikrats (2005) droht dieser Grundkonsens nun aufgebrochen zu werden. Der Nationale Ethikrat empfiehlt als erstes politisches Gremium in der Bundesrepublik in seiner Stellungnahme "Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen", dass Arbeitgeber prädiktive Gesundheitsinformationen einschließlich genetischer Informationen unter bestimmten Bedingungen verwenden dürfen bzw. sogar die Durchführung von prädiktiven Gentests verlangen dürfen. Eine falsche Beantwortung von darauf abzielenden Fragen könnte die Unwirksamkeit oder Auflösung des Arbeitsverhältnisses zur Folge haben. Dies aber würde der "genetischen Diskriminierung" durch Arbeitgeber Tür und Tor öffnen, auch wenn einschränkende Bedingungen formuliert werden, denn diese können leicht verändert werden, wenn das Recht erst einmal die Möglichkeit der Verwertung von prädiktiven genetischen und anderen Gesundheitsinformationen zugelassen hat.

Im deutschen Arbeitsrecht sind die Möglichkeiten für Arbeitgeber, überhaupt medizinische Daten für Einstellungsentscheidungen zu nutzen, an engste Bedingungen geknüpft, was in der Diskussion über "genetische Diskriminierung" häufig falsch dargestellt wird. Nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung (das Arbeitsrecht ist im Wesentlichen nicht kodifiziert, d.h. nicht gesetzlich festgelegt, sondern hat sich in der Rechtsprechung entwickelt) sind vor der Einstellung nur solche Erkrankungen für den Bewerber mitteilungspflichtig, die die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit auf Dauer oder in periodisch wiederkehrenden Abständen einschränken oder von denen eine Gefährdung Dritter ausgehen kann (beispielsweise bei Piloten oder Zugführern). Rechtsprechung zu prädiktiven Gentests gibt es nicht. Es ist davon auszugehen, dass diese nach geltendem Richterrecht unzulässig sind. Das muss auch so bleiben, wenn es sich um Informationen aus prädiktiven Gentests handelt.

Der Ethikrat schlägt nun vor, dass Bewerber um einen Arbeitsplatz zukünftig prädiktive Gesundheitsinformationen und Veranlagungen für Krankheiten vor der Einstellung offenbaren müssen, wenn sich diese auf eine Krankheit beziehen, die sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit innerhalb eines vom Gesetzgeber oder in Tarifverträgen festzulegenden Zeitraums nach der Einstellung in nicht unerheblichem Ausmaß auf seine Eignung für den Arbeitsplatz auswirken würden. Eine solche Regelung ist, abgesehen davon, dass sie den Einstieg in die Nutzung prädiktiver Gentests darstellt, für den Bewerber für einen Arbeitsplatz unzumutbar, da er kaum in der Lage sein wird, auch nur annähernd tragfähige Prognosen für den Zeitpunkt und das Ausmaß einer Erkrankung auf Grund einer genetischen Veranlagung zu treffen. Im Grunde könnte er seine Mitwirkungspflicht nur dann erfüllen, wenn er eine genetische Beratung in Anspruch nimmt. Das mag zwar im Interesse der humangenetischen Institute und Beratungsstellen liegen, ist aber nicht von potenziellen Arbeitsplatzbewerbern zu verlangen.

Im öffentlichen Dienst gelten für Verbeamtungen besondere Regelungen. Da der Staat seine Beamten und deren Familien lebenslang versorgen muss, hat er ein Interesse, vorab über die dauerhafte Leistungsfähigkeit von Beamtenanwärtern Bescheid zu wissen. Der Nationale Ethikrat schlägt nun vor, dass prädiktive Gesundheitsinformationen von Beamtenanwärtern dann erfragt und verwendet werden dürfen, wenn sie Krankheitsveranlagungen betreffen, die sich mit mehr als 50%-iger Wahrscheinlichkeit in den nächsten 5 Jahren in nicht unerheblichem Maße auf die gesundheitliche Eignung des Bewerbers auswirken würden. Allerdings wird es auch hier dem Anwärter kaum möglich sein, solche Prognosen zu treffen und seine Mitwirkungspflichten abzuschätzen. Außerdem gibt es kaum genetische Veranlagungen, bei denen eine tragfähige Prognose über Zeitpunkt und Ausmaß einer Erkrankung möglich ist. Die wenigen Fälle, in denen dies möglicherweise doch der Fall ist (z.B. Chorea Huntington), sind daher im Sinne der Sicherung des Rechts auf Nichtwissen hinzunehmen.

In der Versicherungswirtschaft gilt derzeit noch ein freiwilliges Moratorium, das sowohl die Vornahme prädiktiver Gentests als auch die Nutzung bereits vorhandener Daten aus prädiktiven Gentests für Versicherungszwecke ausschließt. Dieses Moratorium ist jedoch jederzeit abänderbar. Sollte, wie vom Ethikrat vorgeschlagen, die Nutzung prädiktiver Gesundheitsinformationen einschließlich prädiktiver genetischer Informationen in das Arbeitsrecht Eingang finden, wird sich ein Moratorium in der Versicherungswirtschaft oder eine entsprechende gesetzliche Regelung, wie sie von der früheren Bundesregierung auch geplant war, kaum aufrechterhalten lassen. Vor allem für Personen, die auf eine private soziale Absicherung angewiesen sind, kann das ein erhebliches Problem darstellen.

Wie sollte der Umgang mit genetischen Informationen geregelt werden?

Um betroffene Personen vor Diskriminierung zu schützen und um die Achtung ihres "Rechts auf Nichtwissen" zu gewährleisten, sollte gesetzlich geregelt werden, dass Arbeitgeber und Versicherungen weder die Durchführung prädiktiver Gentests verlangen noch deren Ergebnis verwenden dürfen. Da auch die Nutzung von bereits vorhandenen genetischen Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen ein erhebliches Diskriminierungspotential für die betroffenen Personengruppen mit sich bringen kann, ist diese gesetzlich so eng wie möglich zu begrenzen. Es muss ausgeschlossen werden, dass betroffene Personen - sofern keine Fremdgefährdung zu befürchten ist - auf Grund genetischer Informationen einen Arbeitsplatz nicht bekommen. Und es muss ausgeschlossen werden, dass sie Nachteile bei privaten Versicherungen haben.

Die unterzeichnenden Verbände fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages daher auf, den Schutz der Bürger vor "genetischer Diskriminierung" durch Arbeitgeber und Versicherungen gesetzlich zu regeln. Das Recht der Bürger auf Wissen und auf Nichtwissen und der Schutz vor Diskriminierung müssen Vorrang haben vor den wirtschaftlichen und anderen unternehmerischen Interessen von Arbeitgebern und Versicherungen.

Unterschriften

Klaus Seidenstücker, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus e.V. (ASbH), Münsterstr. 13, 44145 Dortmund

Christoph Nachtigäller, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE), Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf

Rolf Drescher, Geschäftsführer des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB), Postfach 33 02 20, 14172 Berlin

Norbert Müller-Fehling, Geschäftsführer des Bundesverbands für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. (BVKM), Brehmstr. 5-7, 40239 Düsseldorf

Dr. Bernhard Conrads, Geschäftsführer der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (BVLH), Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg

Dr. Ursula Wollasch, Geschäftsführerin der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP), Karlstr. 40, 79104 Freiburg i. Br.

Barbara Vieweg, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL), Herrmann-Pistor-Str. 1, 07745 Jena

Josef Müssenich, Geschäftsführer des Sozialverbands VdK Deutschland e.V., Wurzerstr. 4a, 53175 Bonn

Ina Krause-Trapp, Geschäftsführerin des Verbands für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V., Schloßstr. 9, 61209 Echzell-Bingenheim

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